Wind, hilf unserm Kampf!

von Christian Rakow

Berlin, 25. November 2009. "Jetzt mit Meer" verspricht die Volksbühne auf neongrünen Plakaten am Eingangsportal. Und also liegen wir drinnen wieder – wie jüngst bei Frank Castorf – auf weißen Seesäcken im Parkett, um auf große Ozeanfahrt mitgenommen zu werden. Dunkel ist es. Über dem endlos weiten, leeren Bühnenboden beginnen die Scheinwerfer zu spielen, so als würden unentwegt Lichtgitter über die Bretter gezogen.

Männer- und Frauenchöre (bestechend: der Chor der werktätigen Volksbühne mit Gästen) erscheinen in der Tiefe des Raumes und schreiten gemessen den Lichtkorridor voran. Manch einer setzt wie ein Matrose einen Ausfallschritt zur Seite, auf dass die Gruppe wie eine wogende Welle erscheine. "Wind, fill our sails, help our fight!" Über einem einsam dräuenden Basston erklingen Seemannsweisen. Kirchenchoräle mischen sich hinein, später Bruchstücke der Marseillaise oder des Deutschlandliedes. Sprecherchöre steuern Schiller bei sowie Raumordnungstheorien von Carl Schmitt. Dahinter wogt eine behutsame Orchestrierung wie ein Vorsegel auf der Bounty vor dem nahenden Sturm.

Welthandel, Kolonialismus und Piraterie

Es ist ein großes Exerzitium, eine ozeanische Liturgie, die Regisseur Ulrich Rasche gemeinsam mit Musikdesigner Sir Henry entworfen hat. Eine Stunde in schier endloser Rotation schwappt uns Chorwelle um Chorwelle entgegen. Suggestiver, packender könnte ein Abend kaum beginnen, der uns verspricht, drei späte Seefahrts-Fragmente von Friedrich Schiller im Lichte neuester geopolitischer Forschung zu erwecken.

Schillers drei "Seestücke", entstanden zwischen 1798 und 1803, sind kaum mehr als Stichpunkte für ein nie begonnenes Drama über Welthandel, Kolonialismus und Piraterie. Der erste Entwurf ("Das Schiff") sah noch ein veritables Rührstück vor: mit europamüden Auswanderern, heimwehleidigen Kolonialisten und allerlei Liebeshändeln. In "Die Flibüstiers" und "Das Seestück" dreht sich dagegen alles um die Freibeuter und die Selbstgestaltung von Gemeinschaften im rechtsfreien Raum (von weitem klingen darin "Die Räuber" an). Der Stoff ist in seiner Breite eher epischer denn klassisch dramatischer Natur, und also wird er in allen drei Bearbeitungen an diesem Abend nicht dialogisch aufbereitet, sondern mit der ganzen Spröde der Prosaskizze vorgestellt und eben auch mit viel Globalisierungs- und Raumtheorie angereichert.

Weltrevolution mit Jack Wolfskin

Ulrich Rasches rituelles Chortheater umkreist intellektuell den Moment der kolonialen "Landnahme", als Ursprung der modernen Nationen England, Frankreich und Deutschland. "Das Meer ist anarchisch", heißt es. Aber der Mensch nicht. Er zieht Grenzen. Stetig fließen die Sänger und Sprecher über den Lichtsteg. In weißen Hemden, Bundhosen und Röcken, mit farbigen Krawatten und Käppis uniformiert, könnten sie auch Brigaden auf der Militärparade sein oder Arbeiterströme in einem unsichtbar gewordenen Metropolis. Die strenge Form regiert hier sinnbildlich das freie Spiel der Kräfte.

Man hätte den drei Stunden dauernden Abend gut auf eine herunter kürzen können. Denn in den beiden anschließenden Adaptionen werden die "Seestücke" praktisch zu Treibholz zerkleinert. Heiko Kalmbach besinnt sich mit einer Gruppe von Mittel- und Südamerikanern und Afrikanern auf Schillers Notiz "Darf die Revolution mit eingewebt werden?" Ja, darf sie. Anscheinend aber nur, wenn man dazu auch mal komische Ethnomasken (oder doch Faschingsmasken?) aufsetzt und Iglu-Zelte aufbaut. Das ist die Weltrevolution aus dem Geiste von Jack Wolfskin.

Wegsegeln und Dableiben

Mit dem von Hause aus Bildenden Künstler Ulf Aminde wird es nach der zweiten Pause noch knappe 20 Minuten lang lustig. Als hämmere er morgens um fünf Uhr an den Spätkauf, brüllt sich hier ein irrer Jüngling über Lautsprecher bewusstlos: "Abschied des Seemanns von seinen Gefährten, oder doch sonst ein höchst rührender Abschied!" Dazu zerschrammelt uns die Punkband "Something Inside" die Gehörgänge.

Alsbald aber bittet ein Regisseur per Lautsprecher vier weibliche, offensichtlich leicht psychotische Figuren herein. Man will in Auseinandersetzung mit dem Theorieklassiker "Über das Erhabene" vom Scheitern des Sittlichen am Sinnlich-Unendlichen philosophieren. Gut gedacht (weil Meer selbstredend "erhaben"), nur allzu zäh und knöchern aufs Parkett gestelzt. Spätestens wenn sich die Inszenierung darin gefällt, endlose Minuten lang den roten Vorhang auf und zu zu schieben, sinkt der Spaß auf Grundschulniveau ab. Der Saal klatschte sie von der Bühne.

Sei's drum. Diese drei Bühnenadaptionen sind nicht im Geringsten miteinander verschmolzen worden. Wenn die Dramaturgie den Goldklumpen auswäscht, hat das Haus wieder ein echtes Kleinod vorzuweisen. Wie spricht Schiller? "Ein Wegsegeln und Dableiben muss zugleich vorkommen. Beides hat etwas Trauriges, aber das Freudige ist überwiegend."

 

Seestücke
von Friedrich Schiller

Seestück 1

Regie und Bühne: Ulrich Rasche; Kostüme: Nina von Mechow; Musik: Sir Henry; Licht: Torsten König, Hans-Hermann Schulze; Mitarbeit Regie/ Chorleitung Sprechchor: Jürgen Daniel Lehmann; Einstudierung Chor der Werktätigen: Anna Charim / stefanpaul.
Mit Sprechchor: Samia Dauenhauer, Michael Hase, Christian Holdt, Aurora Kellermann, Matthias Komm, Anne Kulbatzki, Kornelia Lüdorff, Bettina Ludwig, Hanna Lütje, Antonia Menslin, Viola Neumann, Monica Reyes, Henrik Schmidt, Eva Maria Sommersberg, Jonas Steglich, Alexander Weise.
Chor der werktätigen Volksbühne und Gäste: Denise Alshuth, Frank Backmeister, Helga Bartz, Eric Beillevaire, Alexandra Bentele, Carsten Bernasch, Johann Binder, Immo Bräutigam, Christoph Brunner, Lothar Butszies, Ronald Carius, Sandra Danch, Tobias Fischer, Henrike Hamann, Evelyn Handrich, Holger Hartung, Jörg Henkel, Franziska Huhn, Fritz Huste, Barbara Jaenichen, Gesina Krebber, Maja Lange, Jan Lentschke, Corinna Lorenz, Christa Meier, Manfred Meier, Manuela Mildt, Judith Rakowski, Matthias Richter, Carla Schmidt, Reinhard Schmidt, Bernhard Schumann, Irene Schumann, Ulrike Schwab, Ingetraud Skirecki, Annelie Wittig
Chorsolisten: Jean Denes, Guillaume Francois, Dana Hofmann, Anne-Lisa Nathan.

Seestück 2

Regie, Bühne, Video: Heiko Kalmbach; Kostüme: Nina von Mechow; Musik: F.S. Blumm; Licht: Torsten König, Hans-Hermann Schulze; Mitarbeit Bühne: Edwin Bustamante; Mitarbeit Video: Jens Crull; Lyrics: N. R. N Sondé
Mit: Dalila Abdallah, Marly Borges de Albuquerque, Antonio Cerezo, Kelly Cristina Gomes Ribeiro, Lamine Laye Ndoye, Michael Ojake, Vanessa Rottenburg, Epafras Malakia Schneider, Solano Torres Antunes Marins Im Video (u.a.): N. R. N Sondé.

Seestück 3
Regie und Bühne: Ulf Aminde; Kostüme: Nina von Mechow; Musik: Something Inside; Licht: Torsten König, Hans-Hermann Schulze.
Mit: Kathleen Gallego Zapata, Eve Kolb, Inka Löwendorf, Sabine Reinfeld, Sophie Reinhold, Sportlerinnen des Social Startup e. V.

www.volksbuehne-berlin.de


Gerade mal sechs Wochen ist es her, dass Ulrich Rasche in Stuttgart mit Salome nach Oscar Wilde Premiere feierte. Heiko Kalmbach arbeitete bisher vorwiegend als Videograph am Theaterhaus Jena. Bilder machte er unter anderem für Katharina Schmitts Knock Out im November 2007 und für Markus Heinzelmanns Bearbeitung von Shakespeares Sturm im Juli 2008.


Kritikenrundschau

Teil II und III der "Seestücke", inszeniert von Heiko Kalmbach und Ulf Aminde, seien schöne Beispiele für "prätentiöse Kunstbemühungen", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (27.11.2009). Schiller habe den Regisseuren dieser "Avantgardismusverkrampfungen" "offenbar nichts zu sagen, und weil sie Schiller auch nichts zu sagen haben, wird pseudointellektuell die berühmte Locke auf der Glatze gedreht". Das sei "weder anregend noch unterhaltsam, aufschlussreich, irritierend, provokant oder erhellend". Im Gegensatz zum ersten Teil von Ulrich Rasche, der Pilz bestens geeignet scheint, "die Geister in bezeichnender Weise zu scheiden": "Religiös unmusikalische Zeitgenossen, für Liturgien, Rituale und Exerzitien Unempfängliche" hätten es damit womöglich ebenso schwer wie jene, die "in strengen Formen reflexartig protofaschistisches Gedankengut zu erkennen" glauben. Das hält der Kritiker allerdings für ein "grobes Missverständnis", verschränke Rasche Gesangs- und Sprechchöre doch derart, dass daraus "eine Art Körper-, Stimmen- und Klangrelief entsteht". Rasches Chöre seien "kühne, strenge Gottessucher", die immer einen "gleichzeitig sakralen und säkularisierten Raum" abschritten. Die strenge Form sei bei Rasche "die Heimat großer Gegensätze, er zelebriert ein Ritual der Risse – das macht dieses Theater so gehalt- und sinnreich".

Schillers "offenes Material" habe Rasche "zu einer streng geführten und genau gearbeiteten chorischen Realisation inspiriert", beschreibt Eberhard Spreng für Fazit auf Deutschlandradio Kultur (25.11.2009). Die "musikalische Dekontextualisierung" der Fragmente von Meeresliedern und Nationalhymnen mache sie "zu verwehten Reminiszenzen des nationalstaatlichen Aufbruchs in die Ferne". Zudem liege über allem "Rituelles, Zeremonielles, ein Requiem auf maritime, soldatische Traditionen". Nach diesem "berauschenden ersten Teil" stelle Kalmbach schwarze Darsteller zum Zeltaufbauen auf die Bühne und lasse das Publikum am "Flüchtlingslagergefühl teilhaben". Aminde hingegen zerschreddere den Stoff "in einer sehr lauten, sehr aggressiven Performance, die erkennbare maritime Bezüge und die Verbindung zu Schiller vermissen lässt". Mit diesen drei Künstlern komme die Volksbühne "zu völlig disparaten Ergebnissen (...), aber eben auch zu einer großen künstlerischen Entdeckung", die Spreng zu dem Vorschlag verleitet, Ulrich Rasche am Rosa-Luxemburg-Platz doch mal "einen ganzen Abend bestreiten" zu lassen.

Bei Rasche werde aus dem Schiller, "wie zu erwarten, ein Licht- und Chorstück", so Peter Hans Göpfert im rbb-Kulturradio (26.11.2009). Dabei werde "eine große choralhafte Litanei gesungen, ein endloses motivisches Meeres- und Ozeans-Gespüle", worauf Bruchstücke aus Marseillaise, Brechts Lied der Seeräuber-Jenny oder aus Pirate Ships schwämmen. Rasche mache hier "eine Stunde lang reines l’art-pour-l’art, reines anti-Castorf-Theater. Dass die Dramaturgie ein paar heikle Zitate von Carl Schmitt in punkto Landeroberung in das Stück geschummelt hat (Keine Einheit von Raum und Recht, Das Meer ist frei) – das dürfte kaum jemand heraushören und erkennen". Im zweiten Teil, bei Kambach, habe man wohl "läuten gehört, dass in Schillers Fragmenten (...) schon was von Globalisierung klingelt". Die Inszenierung sei jedoch "todlangweilig, sie sagt gar nichts, hat mit Schiller nichts zu tun". Alles in allem "ein ziemlich zusammengeschusterter Abend", von dem Rasches "hochgestyltes Sprech- und Gesangs-Design in Erinnerung" bleibe.

 

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