Weibsteufel in Silikon

von Andreas Klaeui

Zürich, 26. November 2009. Dass zwischenmenschliche Beziehungen im besten Falle auf einem Missverständnis beruhen, haben auf dem Theater schon andere dargelegt. Aber nicht viele so vernichtend klar – respektive klar vernichtend – und mit allen medien- und spektakeltheoretischen Wassern gewaschen wie Theo van Gogh 2003 in seinem Kammerspielfilm "Das Interview" (dessen Bühnenfassung von Stephan Lack nach dem Drehbuch 2006 in Frankfurt uraufgeführt wurde). Die Versuchsanordnung: Zwei Exponenten der Mediengesellschaft werden kurzgeschlossen. Es ist so ein bisschen wie das Kind mit der Steckdose: Man steckt zwei Drähte hinein und schaut, was dann passiert.

 

Verwursteltes Weichei trifft Blondiertheit
Pierre ist politischer Redakteur, Katja Soap-Darstellerin mit viel Äußerem. Er muss sie interviewen – freilich ist er eigentlich Kriegsberichterstatter und feuererprobt im Kosovo, und "zwei Titten interviewen, die keinen geraden Satz herausbringen", widerstrebt ihm zutiefst. Freilich hat sie etwas ganz anderes erwartet, nämlich eine "arrogante Schwuchtel" von der Kultur, meistert die veränderte Situation jedoch brillant. Natürlich kommt es zu keinem Interview; aber zwei kommunikative Nahkämpfer stellen einander auf den Prüfstand. Durchaus pointen-, nicht notwendig geschmackssicher.

Sebastian Blomberg ist Pierre (oder "Bier", wie Katja sagt): angemessen verwurstelt und auch ein wenig ein Weichei, von seiner moralischen Anfangshöhe geht es kontinuierlich bergab. Birgit Minichmayr ist Katja (oder "Klitja", wie Pierre sagt), blondiert im Spiel wie in den Haaren, ein silikonisierter Weibsteufel, wenn man so sagen darf. Sie treiben das Verführungs- und Vernichtungsspiel unter Martin Kušej präziser Regie zum gnadenlosen zynischen Ende (dem Kušej noch ein Mehrgewicht zu Katjas Gunsten draufgibt), und lassen dabei – und dies ist natürlich das spannungsvolle – nicht nur sich gegenseitig, sondern auch die Zuschauer nie hinter ihre Maske blicken, nie dahinter kommen, was in dem feinstaustarierten Machtspiel nun gerade Schein und was vielleicht tatsächlich Sein ist.

Hyänen im Rhetorikgelée
Wie rhetorische Hyänen umkreisen Katja und Pierre sich, tasten einander ab, weichen sich aus, tauchen durch, schnappen zu. Meint man, sie näherten sich über ihre Verletzlichkeit doch noch einander an, wird jede Wunde sogleich instrumentalisiert; denkt man, eine erotische Spannung wäre möglich, entpuppt sich alles als Berechnung. Jede vermeintlich authentische Fragestellung ertränkt mediales Rhetorikgelée, und ist eine Interview-Situation ohnedies immer auch Selbstentblößungsspiel, so darf man sich über den Faktor Spiel darin ganz gewiss  nicht täuschen. Jedenfalls nicht in diesem Well-made-Play. Und schon gar nicht, wenn zwei wie Sebastian Blomberg und Birgit Minichmayr das Angebot annehmen.

Das Interview
nach dem Film von Theo van Gogh und dem Drehbuch von Theodor Holman übersetzt und für die Bühne adaptiert von Stephan Lack
Regie: Martin Kušej, Bühne: Jessica Rockstroh, Kostüme: Werner Fritz.
Mit: Birgit Minichmayr, Sebastian Blomberg.

www.theaterneumarkt.ch

 

Mehr lesen über das Doppel Martin Kušej und Birgit Minichmayr im nachtkritik-Archiv: Sein Weibsteufel war sie bereits im September 2008 in der gefeierten Karl-Schönherr-Inszenierung am Wiener Burgtheater, eingeladen zum Theatertreffen 2009, dort in einer umstrittenen Diskussion mit dem 3sat-Preis und im Oktober 2009 mit drei Nestroy-Preisen ausgezeichnet.

 

Kritikenrundschau

Eine Liaison dangereuse, "eine grauenhafte Geschichte – und phantastisches Theater", schwärmt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (28.11.). "Schritt für Schritt, immer wieder von irgendwoher Anlauf nehmend" entwickeln Birgit Minichmayr und ihr Schauspielpartner Sebastian Blomberg den Balztanz als Machtkampf. Wobei das besondere Lob an Minichmayr geht. "Diese Ausnahmeschauspielerin schöpft alles aus der eigenen Persönlichkeit. Kein falscher Ton, keine aufgesetzte Bewegung." Den Hochseilakt ihrer Figur, die sich in einer folie à deux mit dem zum Interview verknurrten Journalisten einlässt, vollführe sie "mit so viel traumwandlerischer Sicherheit wie albtraumhafter Echtheit. "Wie Zahnräder greifen die beiden Charaktere ineinander, verhaken sich und können trotz wiederholten Versuchen nicht voneinander lassen. Fazit: "eine 90-minütige Sternstunde am Zürcher Neumarkttheater."

Minichmayr habe schon als "Weibsteufel" gezeigt, "wie man Männer, die das dumme Flittchen schon als Spielball ihrer Hahnenkämpfe und Lüsternheit im Sack zu haben glauben, packt", schreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen (30.11.). So gebe sie auch die Katja: "als unterschätztes Teufelsweib, das sich seiner Mittel und Wirkung strahlend sicher ist. Alles an ihr Oberfläche, äußerlich und hohl, aber zu lebendig und stark für einen schwächlichen kritischen Intellektuellen". Minichmayr habe sich für ihre Rolle das rote Haar blond gefärbt "und die Körpersprache der Busenwunder studiert". Ihre Katja "lockt, gurrt, schluchzt und droht mit rauchiger Stimme und fingert mit der gedankenlosen Routine der Trash-Diva an ihrem Ausschnitt und ihren Haaren herum." In ihren Händen sei Blomberg "ein Knethäufchen Elend, ein larmoyanter Jammerlappen". Van Goghs "Interview" sei zwar "nicht frei von aufdringlichen Effekten und Küchenpsychologie, aber doch ein starkes Stück Theater. Der Sieg der Schmiere über den seriösen Schmierlappen ist vielleicht keine seriöse Medienkritik, aber ein Triumph reiner Schauspielkunst".

Kušej habe hier "ganz pur und porös inszeniert, zurückgenommen und eine kleine Sensation", eine "Sternstunde des Theaters", produziert, schreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (30.11.). Ihre Zusammenarbeit setzten Regisseur und Hauptdarstellerin nun "glorios" fort: ein "Theaterglück" mit der "derzeit aufregendsten deutschsprachigen Schauspielerin". Weil van Goghs "Interview" auch "ätzende Medien-Kritik" sei, sehe man ihm nach, das "Psycho-Duell nach dem sattsam bekannten Genre-Muster abläuft", dass Katja und Pierre "einander etwas zu schulbuchmäßig analysieren, und dabei (...) manches Klischee den Zweikampf befeuert". Doch währenddessen operierten Minichmayr und Blomberg "mit scharfem Besteck am offenen Herzen". "Anstatt die Dialog-Mechanik zu bedienen, dosieren beide sehr fein ihr Gift" – ein "kunstvoller Schwerttanz über Abgründen". Minichmayr führe "ihre weiblichen Rundungen vor Pierres Nase spazieren wie einen Köder", steche "mit spitzen Krallen in seine Sprechblasen und lässt ihre rauchige Stimme röhren wie den Motor eines Kamikazeflugzeugs im Sturz – und ihre Lügen haben sehr lange Beine". Doch "selten wurde so wahr gelogen wie hier".

Vom "Psychokrieg, in dem keine der untersten Schubladen verschlossen bleibt", schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (27.2.2020) über die Wiederaufnahme am Burgtheater zu Beginn von Kušejs dortiger Intendanz. "Man könnte von einem Well-made-Play sprechen, wenn es nicht so schlecht gemacht wäre", so Kralicek. Die Situation sei unglaubwürdig, die Figuren "so unplausibel, dass man ihr Duell einfach nicht ernst nehmen kann und es deshalb auch herzlich egal ist, wer hier zuletzt lacht". Vor zehn Jahren sei "Das Interview" von der Kritik als "Sternstunde" gefeiert worden. "Aus heutiger Sicht ist das schwer nachzuvollziehen. Anscheinend ist die Zeit nicht spurlos an Stück und Inszenierung vorbeigegangen."

 

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