Raus aus dem akademischen Elfenbeinturm

von Wolfgang Behrens

Berlin, 3. Dezember 2009. Ein Berliner Professor der Philosophie stellte vor einigen Jahren eine düstere Diagnose. Wenn die geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universität von einem Tag auf den andern ihre Arbeit einstellten und einen Generalstreik ausriefen, dann – so vermutete er – würde es Jahre oder gar Jahrzehnte dauern, bis das überhaupt jemand bemerkte. "Niederschmetternd! Entsetzlich!" könnte man angesichts einer solchen (vermeintlichen) Relevanzlücke ausrufen – oder aber: "Schlechte Öffentlichkeitsarbeit!"

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Letzterer Verdacht mag für das Exzellenzcluster "Languages of Emotion" der Freien Universität Berlin ein Antrieb gewesen sein, den akademischen Elfenbeinturm zu verlassen und eine unkonventionelle, wenngleich öffentlichkeitswirksame Form der Wissensvermittlung zu suchen. Man verfiel auf die "Mobile Akademie" der Dramaturgin und Installationskünstlerin Hannah Hurtzig, die seit 2005 mit dem "Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen" einen so sinistren wie wunderbaren Umschlagplatz für theoretische Kenntnisse aller Art geschaffen hat.

Zweidimensionale Weisheiten
Wo man sich jedoch bei den Schwarzmärkten gegen ein geringes Entgelt für eine halbe Stunde einen "Experten" mieten konnte, da ist diesmal – am "Schauplatz der Intimität" im Hebbel am Ufer – der Zugang zu den Fruchtständen der Theorie etwas weniger direkt. Denn die Experten sind hier nur Schatten ihrer selbst: Als wäre das Höhlengleichnis Platons Wirklichkeit geworden, hat es der Besucher mit Silhouetten zu tun, die in schönster Zweidimensionalität ihre Weisheit preisgeben. Die Experten nämlich sind im Tempel des Wissens, wir Laien müssen draußen bleiben.

Konkret sieht das so aus: Auf der Drehbühne des Hebbel-Theaters ist ein von innen illuminiertes, semitransparentes Zelt aufgebaut, in dem die Exzellenz-Wissenschaftler (wie anders sollte man sie nennen?) mit ihren meist unwissenschaftlichen, aber nicht weniger exzellenten Gesprächspartnern an Tischen sitzend dialogisieren. Ihre Schattenrisse zeichnen sich scharf und scherenschnittartig an der Zeltwand ab – was sehr hübsch anzuschauen ist und unverhohlen auf die Silhouettenkunst des 18. und 19. Jahrhunderts anspielt. Die Besucher können sich nun per Empfangsgerät und Kopfhörer in die verschiedenen Gespräche hineinschalten – beeinflussen können sie sie freilich nicht.

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© Thomas Aurin

Mitfahren im Wissens-Karussell – oder doch lieber ein Bier?
Schnell wird klar: Hier muss das Publikum Entscheidungen treffen. Weitreichende. Es geht nicht nur darum, ob ich mich mit auf die Drehbühne setze und – das Zelt fest im Blick – ein wenig Karussell fahre; oder ob ich im Zuschauerraum einen stationären Beobachtungsposten beziehe; oder ob ich – natürlich immer auf Sendung – erstmal an die Bar gehe und ein Bier bestelle. Gefordert ist die Entscheidung, ob ich mich vom reinen Erkenntnisinteresse leiten lasse oder ob ich mich dieser Inszenierung von Wissen eher ästhetisch nähere. Betreibe ich ersteres, so höre ich ein hoffentlich interessantes Gespräch – etwa über "Fan und Fantum" oder über "Emotionsregulierung" oder über was auch immer –, allein: Radiohören tut's da eigentlich auch. Vorausgesetzt, das Radio sendet so etwas.

Doch die Angst, etwas zu verpassen, zwingt einen förmlich zum Zappen. Während man sich also von Kanal zu Kanal an seinem (leider nicht nebengeräuschfreien) Gerät schaltet und im Theaterraum umherschweift, wird der Inhalt der Gespräche zusehends nebensächlich. Sanft hüllen mich dann Diskurssplitter ein; ich sehe zwei Silhouetten gestikulieren, indes ich zwei anderen Experten lausche. "Ja, das sehe ich auch so", nickt die Stimme im Kopfhörer, und der nicht dazugehörige Schattenriss mir gegenüber schüttelt zugleich energisch das Haupt oder reckt belehrend seinen Zeigefinger in die Höhe.

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© Thomas Aurin

Theoretisches Gesumm zum Scherenschnitt
Das ergibt schöne Dissonanzen – die lebendigen Scherenschnitte laden zu durchaus erhellenden Körpersprachestudien ein, derweil man sich immer tiefer im mehr oder weniger theoretischen Gesumm über die Sprache der Emotionen verliert. Ästhetisch hochgestimmt, ist es einem mittlerweile egal, was die Wissenschaftler da so reden – aber immerhin: Würden sie aufhören, würde einem etwas fehlen.

Dann allerdings kann es passieren, dass man unversehens wieder in den Erkenntnismodus zurückswitcht. Da behaupten doch im Gespräch auf Kanal 5 der Musiker Ekkehard Windrich und sein Bruder, der Literaturwissenschaftler Johannes, glatt, dass Techno die wichtigste und entscheidendste Neuerung in der Musikgeschichte seit dem Einzug des Individuums in die Sonatensatzform bei Beethoven sei. Da möchte ich doch zu gerne einhaken – aber ach, ich bin ja nicht auf dem Schwarzmarkt des Wissens, sondern am Schauplatz der Intimität. Und da ist das Wissen im Zelt, und ich bin draußen. Aber auf Empfang.



Am Schauplatz der Intimität - eine Phantasmagorie
Ein Projekt der Mobilen Akademie am HAU und des Exzellenzclusters "Languages of Emotion" der Freien Universität Berlin.
Konzept & Raum: Mobile Akademie/Hannah Hurtzig, Raumgestaltung: raumlaborberlin/Benjamin Foerster-Baldenius, Florian Stirnemann, Projektleitung Exzellenzcluster: Irene Albers, Markus Edler.
Team: Carena Brenner (Recherche), Ina Driemel (Assistenz Film), Susanne Görres (technische Leitung), Novina Göhlsdorf (Interviews), Karin Harrasser (wissenschaftliche Beratung), Philipp Hochleichter (Abendspielleitung), Jörg Johow (Kamera Silhouettenfilm), Ulrich Kalliske/Mathias Kirschke/Florian Fischer (Ton Silhouettenfilm), Margret Meyer, Annette Heft, Annette Lazai (Schriftdolmetscherinnen), Tito Knapp (Ton), Merle Kröger (Schnitt Silhouettenfilm), Frauke Luther (Produktionsleitung), Hila Peleg (kuratorische Beratung), Thomas Schmidt (technische Produktionsleitung), Daniela Schöler (Archivarin), Pit Schultz (Sound Design), Fridjof Vareschi (Produktionsassistenz).

www.mobileacademy-berlin.com
www.languages-of-emotion.de
www.hebbel-am-ufer.de

 

Eine andere Art von Expertentum hat das ebenfalls eng mit dem HAU verbundene Theater-Kollektiv Rimini Protokoll zum Markenzeichen gemacht: Es erfand die sogenannten "Experten des Alltags" als Protagonisten seines Dokutheaters. Mehr über die Alltags-Experten-Experimente von Rimini Protokoll im nachtkritik-Archiv.

 

 

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