Third-Hand-Theatre

von Regine Müller

Köln, 3. Dezember 2009. Den internationalen Wanderzirkus des Koproduktionswesens hat vor geraumer Zeit die Oper erfunden. Unter dem Druck von Sparzwängen wurden zunächst vornehmlich besonders aufwändige Produktionen zwischen größeren Häusern geteilt oder von Festivals vererbt. Auf der Basis des Stagione-Prinzips reichte man die Gerüste einer Inszenierung – also Bühnenbild und Regiekonzept – weiter, wenn die erste Aufführungsserie abgespielt war. Man wollte Kosten sparen und zugleich auf der sicheren Seite bleiben. Denn eher selten wurden Raritäten oder Entlegenes koproduziert, vielleicht hin und wieder mal eine besonders geförderte Uraufführung, meistens aber Knüller wie "Tosca" oder "La Traviata".

Wanderzirkus und Monokultur
Die Vorteile des Koproduktionswesens liegen auf der Hand und sind pragmatischer Natur, denn koproduzierend kann man an Geld und Risiken sparen. Die Nachteile sind ebenso evident, denn beim oft nur noch von Assistenz-Teams realisierten Wiederaufguss droht die Verwässerung des Originals. Darüber hinaus kann für ein Haus und seine künstlerische Handschrift Spezifisches im Koproduktionswesen naturgemäß nur schwerlich entstehen. Je mehr der Wanderzirkus grassiert, desto mehr zeichnen sich ergo stilistische Monokulturen und Ästhetiken ab, die von Stockholm bis Mailand funktionieren und eben austauschbar sind. Man begegnet allerorten den üblichen Verdächtigen.

In der Opernwelt ist das immer mehr der Fall. Aber auch im Sprechtheater zeichnet sich der Trend zur Zweit- oder gar Drittverwertung neuerdings ab. Ursächlich hängt dieses Phänomen im Schauspiel jedoch weniger mit Sparzwängen als vielmehr mit der wachsenden ästhetischen Bedeutung der freien Szene zusammen, die mobiler produzieren muss und auf den Gastspielbetrieb ausgelegt ist. Zuerst importierten die Festivals erfolgreiche freie Truppen, dann zogen die ersten fest etablierten Häuser nach und kauften ganze Produktionen mit kompletten Teams im Paket ein. Sozusagen als Frischluftzufuhr von draußen.

Jetzt aber ist es auch im Sprechtheater so weit, dass von freien Produktionen nur noch Backform und Rezept eingekauft werden, der Teig wird dann vor Ort neu geknetet. Man kauft eine Marke ein. Das kann gründlich schief gehen. Es kann aber auch glücken, wie nun am Kölner Schauspielhaus.

Kirmes-Varianten – enjoy!

Johan Simons, Paul Koek, der Castorf-Bühnenbildner Bert Neumann und die Kostümbildnerin Nina von Mechow haben Horváths "Kasimir und Karoline" zunächst für verschiedene Außenspielstätten mit dem NT Gent und De Veenfabriek konzipiert. Die Urvariante dieser Inszenierung fand am 25. Juni 2009 auf dem Flughafen Soesterberg bei Utrecht statt. Im Juli gastierte die Produktion in Athen beim Athens & Epidaurus Festival und wanderte danach zum Festival in Avignon. Die erste "überdachte" Version der Inszenierung war dann am 3. September im Antwerpener deSingel zu sehen. Für das Kölner Schauspiel überarbeitete Johans Simons seine Inszenierung nochmals – und vor allem höchstselbst! – und studierte sie ausschließlich mit Mitgliedern des Kölner Ensembles diesmal in der deutschen Originalsprache ein.

Horváths Krisenstück, das vor dem Hintergrund des Münchener Oktoberfests erzählt, wie sich ein prekäres Paar unter dem Gewicht des wachsenden sozialen Elends trennt, um jeweils eine neue, noch traurigere Paarkonstellation einzugehen, spielt bei Simons auf der Rückseite einer gegenwärtigen Kirmes. "Enjoy" steht in flitternden Lettern auf einem Gerüst, im Hintergrund leuchten später die Umrisse eines Hauses, links steht ein Auto, rechts sitzt, eingezwängt in seltsame Taucheranzüge, eine vierköpfige Band, die das traurige Geschehen meist sanft minimalistisch, mal offensiv banal unterfüttert, hin und wieder aber auch mit wild jaulenden Rock-Salven aufmischt.

Des Menschen alleinig einziger Mai

Karg ist die Szene. Lapidar und still, dabei höchst subtil erzählt Simons das zeitlos aktuelle – und derzeit unter dem Eindruck der Krise wieder häufig gespielte – Kleine-Leute-Stück und setzt ganz auf die Kunst des fabelhaften Kölner Ensembles. Wunderbar zart, fahrig trippelnd und dabei mit der leisen Grausamkeit eines illusionslosen Pragmatismus ausgestattet ist Angelika Richters Karoline; schwerblütig, stumm nach Worten und mit der eigenen Unbeholfenheit ringend, doch nur leise verzweifelnd ist Markus Johns massiger Kasimir.

Hinreißend changiert Jan-Peter Kampwirths Schürzinger zwischen Empfindsamkeit und zittriger Unterwürfigkeit. In ihrer emotionalen Schlichtheit anrührend spielt Lina Beckmann die handfeste Erna, ohne die Figur zu denunzieren. Carlo Ljubek ist trotz gebrochenen Arms ein furioser, doch niemals überzeichneter Merkl Franz. Als alles zu Ende ist, schweigt die Band und Erna singt stockend: "Nur der Mensch hat alleinig einen einzigen Mai." Stark. Traurig.

Deutsches Stadttheater als Hort der Flexibilität

Johan Simons, der eine der Vorzeigekarrieren der freien Szene hingelegt hat und so zum Markenzeichen wurde, outet sich im Kölner Programmheft übrigens als Befürworter des deutschen Repertoiretheaters, sprich, des Stadttheatersystems: "Hier in Deutschland spielen die Schauspieler fast jeden Abend ein anderes Stück. (...) Wenn man ein gutes Ensemble hat, entwickeln die Schauspieler eine unglaubliche Flexibilität. (...) Prinzipiell glaube ich, dass das Schauspiel die Kunst des Augenblicks ist (...). Jedenfalls sollte das Publikum den Eindruck haben, dass die Schauspieler die Geschichten, die sie vielleicht schon zum hundertsten Mal erzählen, zum ersten Mal erleben. Wiederholung sollte nicht spürbar sein. Und das ermöglicht das deutsche Repertoiresystem besser als das System, das wir haben."

Wen wundert's, dass Simons im kommenden Jahr als Intendant an die Münchener Kammerspiele wechselt? Ob der da wohl koproduzieren wird?

Kasimir und Karoline
von Ödon von Horváth
Regie: Johan Simons, Musik: Paul Koek, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Nina von Mechow, Musikalische Leitung: Loy Wesselburg, Dramaturgie: Paul Slangen, Rita Thiele, Licht: Dennis Diels, Michel Frank. Mit: Lina Beckmann, Markus John, Jan-Peter Kampwirth, Anja Laïs, Angelika Richter, Carlo Ljubek, Annika Olbrich, Torsten Peter Schnick, Felix Vörtler, Julia Wieninger, Michael Wittenborn.

www.schauspielkoeln.de

 

Mehr zu Johan Simons im nachtkritik-Archiv: An seiner künftigen Theaterleiter-Wirkungsstätte, den Münchner Kammerspielen, inszenierte er im März 2009 mit Drei Farben: Blau, Weiß, Rot einen Abend über die Ideale der Trikolore. Ein knappes Jahr zuvor, im April 2008, brachte er dort Hiob nach dem Roman von Joseph Roth heraus.

 

{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=DHTUcv_DV1c}

 

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Kommentare  
Simons in Köln: Korrektur
der musikalische leiter schreibt sich "loy wesselburg",
nicht "lou wesselburg".


(Der Fehler ist korrigiert. Vielen Dank und herzliche Grüße, die Red./dip)
Simons Kooperations-Horvath: Schürze im Wind
nun nachdem auch noch das theatertreffen diesem lamoryanten konzert auf den leim gekrochen ist, verbleibt nur noch zu sagen, dass es fad war. unendlich fad. die flatternde schürze im wind von herrn kampwirth war ein beispiel für ein schönes changieren zwischen vor abend tauglicher comedy oder emotionaler ungelenkheit jugendlicher emotionsdarsteller auf privatsendern. kasimir und karoline sollten wohl als philosophierenden, reflektierende leerstellen der metaphysik den weg bereiten. alleine eine leere pause und eine gefüllte unterscheiden sich weiterhin. ohne zu sehr ins sudern zu geraten. schön war die musik. und simons ist sicher ein großartiger regisseur, der in münchen wirklich großartiges, ehrliches, mutiges theater mit seinen schauspielern dort erarbeitet. allein diese aufführung verschied bei mir vor lauter reflektion und konzeptueller strenge im nichts der dramaturgischen erwägungen. und das bei horvàth.
Kasimir & Karoline, Köln: nimmersatte Epigonen
da war es gut. zumindest. der rest sind nimmersatte epigonen.
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