Schauermärchen vom Monstrum Mensch

von Esther Boldt

Frankfurt, 6. Dezember 2009. Geschenkt wird einem nichts an diesem Nikolausabend. "Luder!" schreit die eine Verkommenheitsgestalt die andere an, "Gauner!", "Halunke!" und "Ungeheuer!". "Mistvieh. Zuhälter", raunzt etwa Valerie dem Alfred hinterher, nachdem sie ihn verlassen hat. Der bleibt kurz stehen im raschelnden Laub, als hätte ihn was zwischen den ungerührten Schulterblättern getroffen. Dann geht er weiter. Der Mensch ist dem Menschen sein nächstes Monstrum. Und so schön der Raum ist, den Regisseur Günter Krämer gebaut hat, so hart und kalt bricht sich in ihm die Gewalt Bahn.

Der Theaterroutinier hat Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" am Schauspiel Frankfurt inszeniert. Duftiges Herbstlaub bedeckt den Boden, schräges, warmes Licht und wenige Requisiten reichen aus, um eine in Schönheit verfallene Seelenlandschaft zu zeichnen. Ein Herrenchor in dunklen Mänteln und Hüten steht wie eine würdevolle Zeugengarde, später wird er immer wieder Strauß' Walzer "Geschichten aus dem Wiener Wald" anstimmen, nach dem Horváth sein Stück benannte.

Nichts als Grausamkeiten und Bosheit
Darin klopft er gnadenlos den Wiener Kleinbürgerplüsch aus. Marianne, die Tochter des sogenannten Zauberkönigs, soll den Metzger Oskar heiraten. Doch sie verliebt sich in den nichtsnutzigen Alfred und betrügt Oskar noch am Tag ihrer Verlobung. Mariannes Ausbruchsversuch folgt ein Strafgericht samt einer Karriere als Striptänzerin, Kindstod und Heimkehr als Gebrochene. Zu ihrem Sturz tragen im Stück alle Figuren bei, die ihn mit Häme, Erschütterung und Schaulust verfolgen. Dabei sucht jede mal die Wärme in sich, oder versucht, sich an einem anderen zu wärmen. Zutage treten aber nur eiskalte Grausamkeiten und ausgemachte Bosheiten.

Krämer legt sie alle als schräge und doch alltägliche Gestalten an. Claude De Demos unschuldsäugige und erlebnisbegierige Marianne etwa. Auch Constanze Beckers herrliche Valerie müht sich um Aufrichtung, hat aber schon zuviel durchgemacht und wirft sich letztlich doch in den nächsten Männerschoß. Und Wolfgang Michaels Zauberkönig ist eine krumme, schlappmäulige Gestalt mit Cowboymanieren. Zwei fast stumme Kommentatoren begleiten das Geschehen: Das blondbezopfte und dirndlbekleidete Mädchen Ida (Maren Schwartz), das seilspringt und trällert. Und Michael Abendroth als große, dunkle Großmutter, der wie eine Mahnfigur das ganze Stück an der Rampe sitzt und als Ohrenzeugin ins Publikum stiert.

Die Freiheit im Patriarchat
Wo die Jungen ihre bitteren Enttäuschungen und Schicksalsschläge noch vor sich haben, ist die Alte im Vorteil. Denn sie hat alles schon hinter sich. Man ist gewillt, dem Stück den Untertitel "Ein Saustechen" anzuhängen, eilt doch ein ums andere Mal symbolschwer der Havlitschek (Simon Zigah) mit blutverspritzter Schürze, Messer wetzend über die Bühne. Die Sau, die zur Schlachtbank geführt wird, ist Marianne, Namensverwandte Marias, die zwischen der Hure Maria Magdalena und der Heiligen Jungfrau changiert. Denn Alternativen zu diesen beiden hat es im Patriarchat bekanntlich keine. Die Freiheit, nach der es Marianne drängt, gibt es nicht bei Horváth. Nur Zwangsverhältnisse wie Oskars Liebesdrohung an Marianne: "Du entgehst mir nicht!"

Krämers Inszenierung lässt der Tragödie im Volksstückformat Zeit, sich zu entfalten. Das gelingt gerade dann wunderbar, wenn zwei sich nahekommen wollen und unvermeidlich scheitern. Wie Valerie und der Zauberkönig am Tag von Mariannes Verlobung. Auf der weißen Picknickdecke zieht sich Constanze Becker mit Unschuldsmiene die Strumpfhalter aus, während der Zauberkönig hinterm umgekippten weißen Sonnenschirm lauert. Umständlich und wortreich tasten sie sich aneinander heran, der windhundige Cowboy und die schöne Zeitungsverkäuferin mit den stets zerzausten Haaren, die sich unter seinem Blick schüchtern, aber begehrlich räkelt. Bis er über sie herfällt und sie in den Hintern beißt wie ein Wildgewordener. Denn Zartheit hat hier keinen Bestand. Jeder Annäherungsversuch krepiert an beidseitiger Kratzbürstigkeit, Nähe ist immer schon eine Unmöglichkeit.

Ein zweifelsohne solider Theaterabend mit hervorragenden Schauspielern. Allein, dass im Programmheft steht, "Das Stück spielt in unseren Tagen", bleibt rätselhaft. Von Horváth schrieb es zwischen den Weltkriegen, in Zeiten der Weltwirtschaftskrise. In den leicht historisierenden Kostümen, ohne kenntlich inszenierten Bezug zum Heute erscheint es primär als Schauermärchen von gestern. Denn es reicht ja nicht, mal das Reizstichwort "Krise" in den Raum zu bellen und all diese Seelenkälte zu exponieren. Die Frage, was diese Frauenzurichtung mit der Gegenwart zu tun hat, bleibt offen.

 

Geschichten aus dem Wiener Wald
von Ödön von Horváth
Regie und Bühne: Günter Krämer. Kostüme: Falk Bauer.
Mit: Isaak Dentler, Josefin Platt, Michael Abendroth, Marc Oliver Schulze, Constanze Becker, Sascha Nathan, Maren Schwartz, Niuscha Etemadi, Simon Zigah, Michael Benthin, Claude De Demo, Wolfgang Michael, Oliver Kraushaar. Chor: Carsten Bernhard, Reinhard Ecker, Franz Erb, Helmut Frank, Wolfgang Gropp, Dietmar Janka, Reinhard Jaschek, Markus Mayer, Manfred Michel, Henner Rosenschon, Wolfgang Schreiber, Jan Schrödter, Hubert Schulz, Hartmut Spannagel, Reinhold Strank, Manfred Thomas, Günther Timm, Gerhard Trost, Alexander Wedel, Konrad Wich, Jörg Wiederhold.

www.schauspielfrankfurt.de

 

Immerzu und überall Ödön von Horváth auf den Bühnen: zuletzt führte im November 09 die Bürgerbühne in Dresden das Filmtreatment "Magazin des Glücks" auf und Karin Henkel am Hamburger Deutschen Schauspielhaus "Glaube Liebe Hoffnung".

 

Kritikenrundschau

"Sex und Liebe, das hängt hier so eng zusammen, wie die schöne blaue Donau mit dem Rotterdamer Hafen", schreibt Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (8.12.2009) über Günter Krämers "Geschichten aus dem Wiener Wald", bei dem es lauter "Prachtexemplare des Patriachts aus Horváths reichem Fundus der Hilflosigkeit" zu sehen gibt. Grundsätzlich sei ja "im Wiener Wald das Gefühl für andere Exemplare der menschlichen Spezies nicht entwickelt". Krämer gehe in seiner Inszenierung sogar noch "ein Stück über den Meister der Demaskierung" Horvàth hinaus. Was er zeigt, ziele "mitten hinein ins deformierte Prekariat, wo das Geld noch mehr die Welt regiert als anderswo". Mit Wiener Lokalkolorit halte er sich  weitgehend zurück, insgesamt wirkt das Ganze auf Michalzik "eher wie ein ins Boshafte gewandelter Tschechow denn Wiener Walzer". "Kaum jemand hätte vorher auf das Gelingen dieser Aufführung gewettet. Warum muss der Reese (Frankfurts neuer Intendant) uns nur den Krämer vorsetzen? Die Beiden haben uns eines Besseren belehrt. Vor allem zeigen sich in dieser Aufführung die Stärken des Ensembles".

Es sei nicht unpassend, dieses Horvàth-Stück "gerade jetzt zu spielen", meint Natascha Pfaumbaum im Deutschlandradio Kultur (Fazit, 7.12.2009). Der Höhepunkt der Inszenierung ist für erreicht, wenn Marianne "im perlmuttfarbenen Meerjungfrau-Kostüm, der Oberkörper nackt, allein die Brustwarzen mit Muscheln beklebt, vom Schnürboden des Schauspiels Frankfurt auf die Bühne herabschwebt" – "Showdown einer Dirne vor kompletter Familie".  Krämer zeichne "verschiedene Typen der Erniedrigung" und zeige eine Gesellschaft, "die sich selbst nur mit Beleidigungen, Verletzungen, Täuschungen, Verblendung am Leben hält. Die Männer sind Sadisten, die Frauen Masochisten, allesamt aber Täter, die mal Opfer waren". Die "Größe und Eindringlichkeit dieser beklemmenden Inszenierung" gehe "auf das Konto aller Schauspieler", der Regisseur lege "mit wenigen Mitteln und eindeutigen Zeichen die Depression einer Gesellschaft frei. Das Unheimliche daran: Es könnte tatsächlich eine Zustandsbeschreibung von heute sein."

Auf der Bühne "die Verwesungslaubernte aller Trübsinnsbäume dieser Welt". Krämer mache "nicht viel Zeichenfederlesens und wirft mit den preiswertesten Symbolwürsten nach allen Endspielspeckseiten: Wer hier auftritt, hat ein Untergangsbillet zweiter Regieklasse gelöst – ohne Rückfahrschein", bedichtet Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen (8.12.2009) das Setting. "Dies grobe Allerweltsbühnenbild würde sich alle beliebigen Stücke vom Leib halten können, indem es sie in seinen Rahmen zwänge: in einem Theater der Ortlosen." Jedoch: die Schauspieler! Dass die Großmutter hier "als Höllenhund (...) den ganzen Abend an der Rampe sitzen bleibt", lasse die "billigen Laubblätter ringsum" plötzlich "wie Pointen" wirken, "die etwas enthüllen". Der "sanfte Schreckensgroßmutterspieler" Michael Abendroth lasse die Figuren um sich her wie in einem "Geisterreigen aus dem Laubgeraschel krabbeln." Wolfgang Michael gebe als Zauberkönig "die wie durch einen Daueralbtraum taumelnde katzenjammerberauschte Geistererscheinung". Claude de Demo als Marianne vollziehe "den Auf- und Untergang der Figur (...) wie einen leicht schwirrenden Traum". Der pränazistische Erich werde bei Oliver Kraushaar "zu einem Albtraumbubi". Constanze Becker spiele die Valerie als eine, "die stolz und einsam und kühn alle Männer durch hat, diese sich aber liebestraumsüchtig als zeitweilige Kurzweil leistet", gerade den " Schreihalsstrizzi Alfred, den Isaak Dentler als Springinslaub daherschlenzt". Sascha Nathan gebe das "großbebrillte rosige Riesenmetzgerbaby Oskar (...) als Gemütsgespenst". Ein "Reigen der Höllenparadiesvögel".

"Ein Puppengestell, später ein Skelett, ein Zeitungsständer – mehr ist nicht, um Milieu anzudeuten", so Michael Kluger in der Frankfurter Neuen Presse (8.12.2009). Krämer habe Horváth "alles Kulinarische ausgetrieben". "Wann die Frankfurter Inszenierung spielt, ist ungewiss – heute irgendwann. Immerhin fällt das Wort 'Krise'." "Eiseskälte" umgebe all die "verlorenen, grausamen Menschen". Und "Krämer inszeniert das ohne Mitleid. (...) Seelenlose Gespenster versammeln sich zu einem deprimierend-düsteren Schicksals-Reigen". Wo Horváths Menschen manchmal noch "komisch waren, sind sie jetzt nur noch trostlos. Der Gott, den sie im Munde führen, ist nichts als ein Kalenderspruch." "In der wohl eindringlichsten Szene" winde sich De Demos "lebensgierige Marianne (...) verzweifelt in einem Nixenkostüm wie in einem Fischpanzer auf dem Boden: Aus dem Elend gibt es kein Entrinnen". Einzig in Nathans Oskar flackere "noch ein Rest von dumpfer Menschlichkeit". Krämers "Prekariats-Studie" entwerfe "ein abgründig-pessimistisches Sittengemälde. Dass es einen seltsam kalt lässt, mag daran liegen, dass er den 'Geschichten' alles Leben ausgesaugt und das Volksstück zu einem schwarzen Endspiel gemacht hat: Bonjour Tristesse!"

 

 

Kommentare  
Krämers Horváth: belangloser Abend
Einen soliden Abend eines Routiniers. Genau das erhoffe ich mir eigentlich nicht im Schauspiel Frankfurt!
Ein belangloser Abend in meinen Augen. Trotz der tollen Schauspieler, trotz des Stücks.
Krämers Horváth: ja, belanglos
Ich bin ganz überrascht, dass es dann doch die ein oder andere Stimme gibt, die die Vorstellung ähnlich gesehen hat wie ich. Die Kommentare und Gespräche, die mir gestern Abend nach der Vorstellung begegnet sind, deuteten eher in eine andere Richtung... "Belanglos" schien aber auch mir die treffendste Beschreibung.
Krämers Horváth: wunderbar und verblödet
Die Stadlmaier Kritik in der FAZ ist wunderbar:

" Günter Krämer... wirft mit den preiswertesten Symbolwürsten nach allen Endspielspeckseiten: Wer hier auftritt, hat ein Untergangsbillet zweiter Regieklasse gelöst – ohne Rückfahrschein....Wer jetzt aber schon gegangen sein würde, hätte zwar keine Inszenierung, aber das Beste versäumt: die Schauspieler."

Das Ensemble in Frankfurt ist in der Tat eine Sensation ! Auch die neuen, noch unbekannten (z.B Dentler) Reese hat hier ein unendlich glückliches Händchen bewiesen.

Ich selbst habe allerdings selten eine derart altbackene, beliebige wie uninspiriert verblödete Inszenierung gesehen. Jedes schlecht ausgestattete Stadttheater macht das um Meilen besser. Diesen primitiven, ehemaligen Taschenselbstfüller (...) aus Köln (erinnert sich jemand ?) zu engagieren ist zusätzlich mit einem bitteren Geschmsackerl belegt.
Krämers Horváth: unbestritten hervorragend
Selten habe ich solch gehässige Kommmentare über eine sehr gute Aufführung und einen Regisseur gelesen.Die Schauspieler waren unbestritten hervorragend und sehr sehenswert. Eine solche Ensembelleistung ist ohne Regie undenkbar. Offenbar haben Vorurteile den Blick getrübt. Die Qualität der Aufführung liegt weit über dem Durchschnitt und wird sich bei den Zuschauern und der Presse durchsetzen.
Krämers Horváth: geistesschlichte Schaustellerei
Tot, toter, Krämer
Geschichten aus dem Theatermuseum

Eine solch elende Geistesschlichtheit ist mir doch selten vorgekommen. Der liebe Herr Krämer scheint ja gar nichts von diesem Stück verstanden zu haben; aber schon gar nichts. Szenisch alles verschenkt, die Figuren verschenkt (welche von diesen Witzfiguren hat denn hier den Druck auf Marianne erzeugt um sich daraus zu befreien? Gut daß wir den Text hatten, so haben wir es trotzdem noch erfahren...) und ästhetisch wollen wir kein Wort verlieren...Brainstorming: Wienerwald.... Wald...Blätter...WOW (erschreckend eigentlich, daß so jemand mit so guten Schauspielern arbeiten darf). Um Ihnen das nochmal ganz höflich zu sagen: es heißt Schauspielen und nicht Schaustellen, das geht vielleicht in der Oper, daß man seine Figürchen ein bißchen rumschiebt, und sie dann dort ihre Kunst absondern läßt, so wie man es sich zu Hause ausgedacht hat..., aber im Schauspiel sollte doch den Schauspielern die Möglichkeit zu einem Spiel gegeben werden, denn sonst breitet sich das aus, was an diesem abend das einzige war, was von der Bühne runter kam, nämlich Langeweile.
Horváth in Frankfurt: Krämer einst hoch politisch
Es scheint, als wäre es nötig zu betonen, dass Günter Krämer, auch wenn das leicht in Vergessenheit gerät, vielleicht sogar zu schnell in Vergessenheit gerät, einer der alten, einst vätermordenden, gendertechnisch intrigierendsten, ja, politischsten Regisseure der 80er und 90er des deutschen Theaters ist/fast war. Einst kontinuierlich, wenn auch etwas turnlehrerisch. Chapeau. Insofern hat er viel gemein mit René Pollesch. Da sollen Frankfurts Unken schweigen und die jüngst gewonnene Abwesenheit der pseudopolitischen Lederjackenträger einfach genießen.
Krämers Horvàth in Ffm: Regiearbeit in der Mitte eingestellt
Bei so viel Anerkennung von allem im Blätterwald geht man mit freudiger Erwartung ins Theater. Frankfurt hat wieder ein Schauspiel.

Doch der offene Blick trübt sich mit zunehmender Spieldauer. Nehmen wir als erstes die Regie und den Bühnenbildner. Wie einer es schafft die Regiearbeit in der Mitte es Stückes einzustellen, ist sehenswert, bleibt aber nichtsdestotrotz ein Ärgernis. Nach der Pause: Keine Entwicklung, deklamatorische vorgetragene Texte, vergebene Bühne.

Nur Claude de Demo kann sich behaupten gegen diesen Laissezfaire-Stil. Ein weiblicher Furor von Lebenswillen und gebrochenen Sehnsüchten. Eine Pracht, ihr zuzuschauen, zuzuhören, mitzufiebern.

Damit sind wir bei den Schauspielern. Es wird die Kunst der Schauspieler hervorgehoben. Nun ja, stellen wir sie nicht infrage, stellen aber ein paar Fragen: Ist Sascha Nathan eine gute Wahl für Oskar, den tumben, aber sehnsuchtsvollen Schlächter? Nimmt man Michael Benthin den kriegsgebeutelten Rittmeister ab? Füllt Wolfgang Michael wirklich die Rolle des sorgenden, aber sorgenvollen Marianne-Vaters? Nein, nicht wirklich gut getroffen, Herr Krämer. Die Schauspieler werden verschossen in ihren Möglichkeiten, sind vielleicht auch rollenmäßig keine gute Besetzung. Hohgelobt auch die Rollenerfüllung der Großmutter durch Michael Abendroth. Realitivierungen seien erlaubt. Wenn es darum geht, die Bösheit darzustellen, sind alte Frauen allzumal prädisitinierter. Wenn schon ein Mann in dieser Rolle muss er die nicht sichtbaren Machtfäden spinnen, die das Netz über dem Stück bilden. Doch bis auf Ausnahmesituationen (Knopf an die Hose annähen) bleibt m.E. die Performance hinter ihren Möglichkeiten.

Ein paar Bilder aus der ersten Spielhäfte bleiben haften. Die neblig-verschwommene Eingangsszenerie, die Picknicszene, die Knopfszene, die Drehmomente der Bühne, wenn die Lebensgeschichten ins Wanken kommen, das (leider nicht ausgespielte) Singspiel nch der Pause. Zu wenig für einen großen Schauspielabend auf der großen Bühne des großen Hauses, die sich wieder einmal als zu groß erweist für einen Regisseur, der offensichtlich keine Zeit mehr dafür hatte, das zu tun, wofür er eingekauft wurde: Schauspielern und Zuschauern neue Wege zu einem alten Werkstück der Gefühle zu öffnen.
Krämers Horvàth in Ffm: unärgerlichere Eindrücke
@Afficinado-NI:: '' sehenswertes Aergernis'' - auf so eine beschreibung des abends kommt man, wenn einem ressentiments den blick verstellen auf das tatsaechlich stattgefundene . . .

Meine eindruecke sind da viel unaergerlicher . . .

Ich sah gestern abend [29.dez.] eine vollstaendig gelungene HORVATH-Adaption. Voellig ausreichend in der ausstattung. Respondierende gesaenge - genuegend in der andeutung. Beeindruckend die kollektive schauspielerische leistung und die des chores. Punkt.

Und noch das, liebe/er Afficinado-NI: nur '' ein paar Bilder aus der ersten Spielhäfte '' bleiben bei Ihnen haften ? - was fuer eine AFFINITAET zu verbohrtheit.
Gerade der zweite teil ueberzeugt doch durch seine sich steigernde emotionale dichte . . . UND der schluss erst . . .

Das frankfurter publikum jedenfalls feierte seine neuen SF-Sterne von CONSTANZE – ick bin keen moerder – BECKER bis hinunter zur springseilhuepfenden MAREN SCHWARTZ genau so enthusiastisch, wie auch ich es empfunden habe. Bravos bis zum '' letzten Vorhang ''. Chapeau – ja, auch fuer den regisseur.
Krämers Horvàth in Ffm: Selbst-Recycling
Kleiner Nachtrag 2 Jahre später:
Krämer hat seinen "Wienerwald" jetzt (Juni 2011) als "Götterdämmerung" an der Pariser Oper recyclet. Zwei Fragen treiben mich um:
1. Ist das jetzt die popmoderne Form von Kreativität, dass man ein Stück sprechen/musizieren und ein anderes spielen lässt, wie das vor 40 Jahren bei "Erkennen sie die Melodie?" im Fernsehen praktiziert wurde? Die Theaterwissenschaft hat dieser Form von Kreativität sogar schon einen Namen gegeben: Hybridisierung.
2. Ist das jetzt ein Armutszeugnis, wenn sich ein Künstler ständig selbst wiederholt ("zitiert")? Oder ist das ein Personalstil? Ich meine, Picasso gilt ja auch nicht als Trottel, nur weil er allen Frauen ständig eckige Köpfe verpasst hat und ständig Minotauren durch sein Spätwerk geistern lässt. Kann mir jemand sagen, wo da der Trottel aufhört und das Genie anfängt?
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