Es war einmal ein Mauerfall

von Andreas Schnell

Bremen, 12. Dezember 2009. Eine Stimme aus dem Publikum hatte gestern das letzte Wort, als die Uraufführung von David Gieselmanns neuem Stück "Blühende Landschaften" im Neuen Schauspielhaus über die Bühne gegangen war. "Das war ein Scheißstück", tönte es vehement in den Applaus hinein. Was war geschehen?

Das Stück, das im Rahmen des Spielzeitschwerpunkts zur Deutschen Einheit gezeigt wird, steckt irgendwo zwischen Liederabend, Komödie und etwas drittem, das möglicherweise sein größtes Problem ist. Sechs Menschen treffen sich in einem Begegnungszentrum, optisch zwischen ostdeutschem Festsaal, westdeutschem Mehrzweckraum und gesamtdeutscher Amtsstube. Eine Büste von Helmut Kohl zur Rechten auf einem Sockel, der mit Hammer und Sichel verziert ist.

Grenze aus Lego-Steinen
Der Boden tut sich auf und ein Puppentheater mit einer Lego-Mauer, der Gabi aus Karl-Marx-Stadt, dem Peter aus Düsseldorf und dem dicken Helmut erzählt in naivem Ton die Geschichte vom Mauerfall. Danach zieht es sich leider, auch wenn das Stück nur eine Stunde und 40 Minuten dauert. Das liegt daran, dass in dieser Zeit zwar eine Menge Radau gemacht, geredet und gesungen wird – nur dass eben eigentlich nichts passiert.

Nun mag Action überbewertet werden, aber wenn sie fehlt, muss das Geschehen eben auf einer anderen Ebene fesseln – und wenn es durch Witz ist. Zwar kommen die "Blühenden Landschaften", inszeniert von Markus Heinzelmann, nicht ganz ohne Witz aus, wie das entzückende Vorspiel im Puppentheater beweist, Witze hat es jedoch wesentlich mehr. Erzählt werden sie von einem gewissen Hans-Dietrich (Jan Byl), der standhaft behauptet, er sei der Außenminister a. D. Genscher, auf der Suche nach den Resten seiner Rede vom Balkon der Deutschen Botschaft in Prag im September 1989. Später tritt er noch als Rainald Goetz (blutende Stirn, aus "Loslabern" lesend) und Schäuble auf.

Außerdem wären da noch Tuuli, die einheitsmäßig unbeleckte Tango-Königin aus Finnland (Varia Linnéa Sjöström), die Ostdeutsche Brigitte Dober (Eva Gosciejewicz), der Vokuhila-Träger Lutz (Mathis Julian Schulze), der einst der Liebe wegen in den Osten rübermachte, Rainer (Thomas Hatzmann), der das Volleyballspielen für die Suche nach einer Utopie aufgab, bislang erfolglos, der Herr Tobias (Tobias Beyer), der Leiter des Begegnungszentrums, der die Anwesenden zur Teilnahme an Übungen (unter anderem zur "recherchierenden Solidarität") anhält und -leitet – und der Einheitskanzler, nur als Büste zwar, aber immerhin als sprechende, mit der Stimme David Gieselmanns.

Wohin mit Deutschland?
Ein paar interessante Konstellationen könnte man daraus vielleicht spinnen. Indes: Erfahren tun wir von den Sechsen nicht viel. Sie bleiben Schablonen, die – teils in Liedern – allerlei Klischees von Ossis (können besser zuhören und hatten keine Arbeitslosen) und Wessis (wissen alles besser und rauchen Marlboro, obwohl die nicht schmecken) aneinander reihen. Auch vom Überthema erfahren wir trotz eingespielter Fernsehbilder und einem Bildloop aus einem NVA-Dokumentarfilm über den Panzer T 55 im Grunde genommen kaum etwas. Hauptsächlich erschöpft sich "Blühende Landschaften" auch hier in Versatzstücken aus der Geschichte (Begrüßungsgeld), die gar nicht erst auf kausale Zusammenhänge hin untersucht werden.

Am Ende obsiegt Ratlosigkeit, die zögerliche Einigung, dann eben doch das Volk zu sein. Tuula zerschlägt die Kohl-Büste (drunter kommt eine von Karl Marx zum Vorschein) – ein Befreiungsakt, der auch das Publikum erleichtert, wenn auch nur kurz. Denn es geht noch ein bisschen weiter, bis es mit Schabowskis legendären Sätzen aus jener Pressekonferenz endet, in denen er die sofortige Reisefreiheit verkündete. Und sich die ruhmlosen Sechs fragen: "Wo sollen wir Deutsche hin." Wir immerhin durften gehen.

Immerhin der patriotische Gedanke "Wohin mit Deutschland?" bleibt. Die Absicht des Regisseurs Markus Heinzelmann, er wolle erreichen, "dass man einen differenzierten Blick auf das Geschehen hat und sich danach vielleicht wirklich fragt, wie könnte man es noch besser machen" – die Wiedervereinigung eben, blieb Absicht. Und die Schauspieler? Sie haben das Stück mitentwickelt. Retten konnten sie es leider nicht.


Blühende Landschaften
von David Gieselmann und Ensemble
Regie: Markus Heinzelmann, Bühne: Jan Müller, Kostüme: Jessica Karge, Musikalische Leitung: Oliver Jahn und Olaf Helbing, Dramaturgie: Marcel Klett.
Mit: Eva Gosciejewicz, Varia Linnéa Sjöström, Tobias Beyer, Jan Byl, Thomas Hatzmann, Mathi Julian Schulze, David Gieselmann.

www.theaterbremen.de

 

Auf nachtkritik.de meldete sich der Autor David Gieselmann jüngst im Forum zu Karin Henkels Hamburger Inszenierung Glaube Liebe Hoffnung zu Wort (Kommentar Nr. 14), wobei er das Schauspielhaus gegen den Kritiker Till Briegleb verteidigte.

Kritikenrundschau

David Gieselmann habe mit "Blühende Landschaften" "kein erzählendes Stück geschrieben, sondern liefert eine Textur aus fragmentarischen Aussagen zur Wende, zum Ostbefinden und zur Westlichkeit", schreibt Stefan Grund in der Welt (14.12.) Gieselmanns Textur vermeide dabei "Klischees keineswegs und blüht deshalb wie die Seelenlandschaften, die er beschreibt, überwiegend an der Oberfläche". Der Regisseur Markus Heinzelmann allerdings nutze bei seiner Bremer Uraufführung "die anstößigen Sätze für eine anarchistische Durcheinanderspielweise, die in glückhaften Momenten zeigt, wie tief der Hass zwischen den Wiedervereinigten mitunter wurzelt". Leider mache das Stück "sehr viele Worte, so gibt es nicht viel zu spielen." Die Inszenierung brauche "knapp eine Stunde, um in Fahrt zu kommen", dann jedoch wechselten immer zügiger die Rollen, und "in dieser Drehzahl" dann wirke "der Text plötzlich angenehm assoziationsanregend für die Zuschauer".

 

 

Kommentare  
Gieselmanns Blühende Landschaften: der Autor fragt
Ich möchte mich hier nicht als Verteidiger unseres Stückes in Bremen engagieren, aber angesichts der teils peniblen Vorsicht, mit der Nachtkritik auf die Wortwahl bei den meist anonymen Kommentaren achtet, was ich für richtig halte, mag die kurze Frage gestattet sein, auf welchem Selbstverständnis es fusst, hier einen ebenso anonymen Zuschauer zu zitieren, der, als ich auf die Bühne kam, "Das war ein Scheißstück" rief: Würde ein Beitrag mit diesem Wortlaut hier als Kommentar gepostet? Oder besteht in der halböffentlichen Äusserung aus dem Zuschauerraum ein Unterschied zum öffentlichen Forum im Internet?
Gieselmanns Blühende Landschaften: der Redakteur antwortet
Lieber Herr Gieselmann,

als Redakteur sehe ich das so:

Wenn jemand im (halb)öffentlichen Raum ruft: "Das ist ein Scheißstück", dann kann man davon durchaus berichten - so wie ja auch "heftige Buhs" ab und zu mal in einer Rezension erwähnt werden. Schriebe der Kritiker selbst: "Das ist ein Scheißstück", würde ich als Redakteur vermutlich zurückfragen, ob er das wirklich so stehen lassen will.

Allerdings will ich nicht ausschließen, dass beim Freischalten auch in einem Kommentar die Formulierung "Das ist ein Scheißstück" stehengelassen würde. Die Redaktion greift bei persönlichen Beleidigungen und unüberprüfbaren Tatsachenbehauptungen ein. Der inkriminierte Satz könnte noch als - wenn auch zugegebenermaßen grob formulierte - Meinungsäußerung durchrutschen. Wenn der Kommentar noch ein "weil ..." dazusetzen würde, käme er sogar ziemlich sicher durch den Filter.

Das ist nun gewissermaßen etwas juristisch argumentiert, und das wird Sie vielleicht nicht befriediegen, aber wie gesagt: So sehe ich das als Redakteur.

Mit einem herzlichen Gruß
Wolfgang Behrens
Gieselmanns Blühende Landschaften: anders verstanden
war auch in der premiere und verstand "Das macht Geschichte!". das wäre dann ein guter kommentar auf den abend und die passende ironisierung gewesen. vielleicht saß ich nur zu weit weg.
Gieselmanns Blühende Landschaften: der Kritiker antwortet
Ich habe den Satz zitiert, weil es durchaus Ereigniswert hat, wenn so etwas passiert. Und ich habe mich bei einem Kollegen, der noch näher an dem Rufer saß, erkundigt, ob ich da richtig gehört habe. Und ich habe es ja auch ausdrücklich als Zitat gekennzeichnet. Ob die Ausdrucksweise in die nachtkritik passt, habe ich in der Tat überlegt, aber eher wegen der Wortwahl als wegen der Anonymität. Und damit wäre ich wieder am Anfang...
Gieselmanns Blühende Landschaften: anno Scheibenkleister
Danke für die Antworten, im Grunde sehe ich das ähnlich, dass ein solcher Zwischenruf berichtenswert ist: Der Rufer war natürlich auch hinter der Bühne ein Thema, und - 0.06381 - wir waren uns alle einig, dass hier leider nicht das Wort "Geschichte" fiel, sondern in der Tat jenes, welches man in den 80ern bis weit in die 90er hinein in "Scheibenkleister" hinüber gleiten liess.
Blühende Landschaften in Bremen: nicht fotogen
Aber der Satz: "Das war ein Scheibenkleisterstück..." - der wäre nun wirklich nicht fotogen.
Blühende Landschaften in Bremen: es hat nicht viel gefehlt
Manchmal habe ich während der Aufführung gedacht: ach wie schön, vielleicht wird das jetzt so etwas wie bei Botho Strauß; so, wie in "Der Park" Inszenierung von Peter Stein, wo edel angeschrägte Kunstfiguren ein wenig somnambul in ihrer eigenen, fragwürdigen Existenz herumwandeln und die sich selbst quasi bei ihrer eigenen Erschaffung durch den Autor zusehen... Eigentlich war der Abend doch oft sehr dicht dran, solch eine halluzinöse Bühnenwelt zu schaffen. Vielleicht hat wirklich nur ein ganz bisschen dramatischer Scheibenkleister gefehlt, um dem nach einer geschlossenen Form gierenden Publikum das Gefühl zu vermitteln, es wohne einem "richtigen" Theaterstück bei.
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