Westbesuch

von Ralph Gambihler

Dresden, 12. Dezember 2009. Friedrich Dürrenmatt schrieb sein "böses Stück", als die Welt zerteilt lag, hingestreckt in zwei Himmelsrichtungen. In der einen, nämlich seinen, siedelte er Güllen an, eine fiktive Kleinstadt "irgendwo in Mitteleuropa", die er zum Schauplatz einer menschlichen Katastrophe machte. Die Konstellation: Geld oder Leben. In diesem Fall: Geld!

Ein gutes halbes Jahrhundert später macht Armin Petras die Probe aufs Exempel. Er verlegt die Geschichte mit einem kräftigen Ruck über die einstige Demarkationslinie hinweg in das Ostdeutschland der 1990er Jahre. Und er schreibt sie auch gleich neu, unter politischen Vorzeichen, die sich nicht grundsätzlich geändert, aber doch gewandelt haben.

Bogen über zweieinhalb Jahrtausende

Die erste Szene: Eisiger Wind, schlotternde Bürger, wartend, im entscheidenden Augenblick von Schlaf übermannt. Der große Bahnhof für den Westbesuch fällt aus, die dazu gehörige Schmierenkomödie auch, der Sommer sowieso. Schon nach diesem leicht ins groteske spielenden Anfang ist offensichtlich, dass Petras der Vorlage kräftig ins Räderwerk greift. Die "Neubearbeitung" ist wirklich eine und kein laues Remake.

Der "freundliche Umschwung" in der Weltpolitik bleibt in der Kulisse unsichtbar. Olaf Altmann beschwört einen zeitlich anderen, aber eigentlich nur umfassenderen Kontext. Er hat den Zuschauern eine wuchtige, bühnenbreite, auf Stein getrimmte Treppe vor die Nase gesetzt, die deutlich auf die Agora und das Amphitheater der griechischen Antike anspielt. Wo Dürrenmatt über den Text einzelne Anknüpfungspunkte zur "Medea"-Tragödie sucht, spannen Petras und sein Bühnenbildner einen großen Bogen über zweieinhalb Jahrtausende abendländischer Geistesgeschichte. Wer hier treppauf, treppab geht, tut dies im Zeichen ältester demokratischer Aufbrüche.

Sprachlich bewegt sich die freundlich aufgenommene Dresdner Premiere (Berliner Premiere am 9. Januar) in der Gegenwart. Man pflegt einen lässigen, im Grunde gesamtdeutschen Umgangston, der problemlos in jeden Freitagabendkrimi passt. Ill, der Unglückliche, mit alter Schuld Konfrontierte, heißt jetzt Alfred III. Seinen Sohn nennt er "Großer", seine Tochter "Schnecke". Und wenn er Claire Zachanassian, die als Clara wiederkehrt, nach Jahrzehnten begrüßt, muss er nicht mehr in pausbäckiger Förmlichkeit schwelgen, sondern sagt einfach: "Na Du!"

Mit Leopard, ohne Eunuchen

Die beiden Hauptfiguren haben einen Dreh ins Cineastische bekommen. Christine Hoppes gut ausbalancierte, glaubhafte Clara könnte als Schwester von Katja Flint durchgehen. Sie ist alles andere als die grotesk aufgetakelte, alte Schachtel mit dem unerschöpflichen Sarkasmusvorrat. Eher muss man sich ein elegantes Starlet in den 40ern vorstellen, eine zielstrebige Frau, die "Ich habe Hunger" ruft, wenn sie Hunger hat, und singt, wenn sie fühlt.

Von ihrem großen Gefolge ist fast nichts übrig. Die Milliardärin reist fast alleine an, ohne Roby, Toby, Woby, Loby und wie sie alle heißen. Kein dunkel-komischer Popanz mit Eunuchen und Wechselgatten also. Dafür ein allegorischer Leoparde (statt eines Panthers), der ebenso rätsel- wie katzenhaft auf der Bühne herumschleicht und offenbar das Tier im Menschen verkörpern soll – was vordergründig und banal wirkt.

Andreas Leupold hat als Alfred III alias Ill Ähnlichkeit mit Nick Nolte – und macht seine Sache gut. Er gibt den in Gutmütigkeit Ergrauten, der sich hinter abgelegten Illusionen eingerichtet hat, zahm meist, dann doch rasend. Der Dandy lugt ihm noch aus dem Mantelkragen, aber den Kampf gegen sein Schicksal gibt er schnell verloren.

Aus Dürrenmatts Nachkriegs-Rachedrama ist in Petras' freier Variation ein Drama der Nachwendezeit geworden. Ein pochendes, bittergroteskes, teils satirisch angespitztes Stück über menschliche Verhältnisse und ihre Wandelbarkeit. Letztlich handelt der Abend (den Petras auch als Regisseur verantwortet) von misslingender Verständigung über ein teuflisch unmoralisches Angebot, nicht anders als bei Dürrenmatt, nur näher herangerückt an das Panorama von 1989, mit Extremanbiederung im Kampf um Investoren, mit Stasi-Akten, mit Arbeit, die fehlt.

 

Der Besuch der alten Dame
von Friedrich Dürrenmatt in einer Neubearbeitung von Armin Petras
Koproduktion mit dem Maxim Gorki Theater Berlin
Regie: Armin Petras, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Katja Strohschneider.
Mit: Christine Hoppe, Andreas Leupold, Sabine Waibel, Stefko Hanushevsky, Anne Müller, Wolfgang Michalek, Matthias Reichwald, Gunnar Teuber, Berit Jentzsch.

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Mehr zu Armin Petras im nachtkritik-Archiv. Im Oktober 2009 stellte er im Maxim Gorki Theater Berlin im Kontext der Spielzeitauseinandersetzung "Geld oder Leben?" anhand von Shakespeares Der Kaufmann von Venedig die Frage nach dem Preis des Geldes.

 

Kritikenrundschau

Armin Petras habe die Vorlage in seiner Inszenierung von Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" "kräftig umgebaut" und nutze sie, um gegen jene Wand anzuspielen, "die Arme und Reiche trennt", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (14.12.09). "Gern schaltet er diesen Unterschied mit jenem zwischen Ost und West parallel, so auch jetzt." Wieder liefere er also einen "trubeligen, verschwitzten Abend über deutsch-deutsche Wirklichkeiten": Seine alte Dame ist die "neureiche Clara", die "in ein abgewracktes Zonen-Städtchen" kommt, dessen Bewohner "halb Witz-, halb Trauerfiguren" seien. "Man schaut ihnen gern beim schleichenden Wertezerfall bis zur fröhlichen Einwilligung in den Ill-Mord zu". Zwar kenne man "dieses sympathische Setting (...) hinlänglich aus dem reichen œuvre Petras'", allerdings verliehen manche der Szenen dem Abend "eine staunenswerte Dichte und Dringlichkeit". Zu verdanken sei dies vor allem Christine Hoppe, die ihrer Clara "eine kühle Unberechenbarkeit" erspiele, die der Figur "tragische Weite verleiht". Die Inszenierung lasse sich "nicht auf die deutsch-deutsche Geschichte und nicht auf eine Moral-Story verkleinern".

"Dass mit der Wende in ostdeutsche Kommunen gespülte Geld lässt die gerade erkämpfte demokratische Moral ins Wanken geraten." Gabriele Fleischer von der Freien Presse (14.12.09) findet's einen "gelungenen Schachzug" von Petras die Dürrenmatt-Handlung in der Nach-Wende-Zeit anzusiedeln. Das Auf und Ab über die antikisierte Treppe im Bühnenbild verlange "bisweilen eine gebückte Haltung" – "mehr als ein Symbol für den moralischen Verfall" der Stadt, schließlich machen Antike-Assoziationen Sinn, wo Clara Ähnlichkeiten mit Medea hat. "Auch wenn sie die Eiseskälte der Rache beherrscht, bleiben die Gefühle im Spiel von Christine Hoppe meist verborgen. Nur einmal (...) scheint sich etwas in ihr zu regen." Die Videoeinspielungen sorgten dafür, dass "Licht in die Erinnerungen" gebracht werde, und "mit den Schlussfilmszenen" nach dem Mord, entlasse Petras das Publikum überdies "mit einem Anstoß": "Rechtfertigt Geld wirklich alles?"

"Gänzlich unerfreulich" findet dagegen Irene Bazinger (FAZ, 15.12.09) diese Inszenierung: Armin Petras, "der viele Stücke oft nicht nur in Grund und Boden inszeniert, sondern sie sich zuvor platt und plump zurechtschreibt", habe eine "so schlampige wie unlogische Adaption"; sowohl "intellektuell wie ästhetisch" könne sie nur als "triste Sparvariante bezeichnet werden: "Gekleidet wie Ladenhüter aus den letzten Tagen der DDR, hampelt und strampelt das Ensemble über die vom Bühnenbildner Olaf Altmann entworfene Revuetreppe aus Pappe. Sie ist das Einzige, was bei dieser Veranstaltung nicht flach ist". Und als Clara sei "Christine Hoppe unübersehbar wie unüberhörbar überfordert". Dieser "Besuch der alten Dame" "in einer Bearbeitung von Armin Petras" sei eine Frechheit".

Den Dürrenmatt-Klassiker in den Nachwende-Osten zu verlegen, findet hingegen Stefan Kirschner von der Berliner Morgenpost (11.1.10) – der die Berliner Premiere am Maxim Gorki Theater gesehen hat – ziemlich schlüssig: "Die Platz-an-der-Sonne-Hütte eingegangen, die Wagnerwerke zusammengekracht, Bockmann bankrott. Die Menschen leben von der Arbeitslosenunterstützung. Und der Polizist (...) hat Angst, dass das Auftauchen seiner Stasi-Akte ihm die Karriere versauen könnte." Beim Dramen-Personal habe der Regisseur stark ausgedünnt: Roby und Toby, Koby und Loby sowie die Zachanassian-Ehemänner seien gestrichen, wodurch das Stück "viele witzige Dialoge" verliere, die Petras "durch ein paar slapstickartige Nummern zu ersetzen versucht". Während Hoppe mitunter "göttinnengleich" auf den Bühnen-Stufen throne, nehme man Leupolds Ill nicht wirklich ab, "dass er früher mal ein Dandy war". Auch zeichne Petras die Geschichte "mit einem allzu dicken Pinsel", und setze Dürrenmatts tragischem Ende obendrein "noch einen geschichtspessimistischen Schluss auf: Alfreds Ills Tochter (...) steht mit einem Koffer in der Hand am Bahnhof".

Der Grundkonflikt bleibe in Petras' stark bearbeiteter Fassung erhalten, auch wenn "fast neunzig Prozent des Textes" nun von ihm seien, schreibt Gunnar Decker im Neuen Deutschland (11.1.10). Eben das mache den Abend "so gegenwärtig", der "etwas unerwartet Physisches" bekomme, "streng durchchoreografiert bis in die letzte Nuance" wirke. Hier gehe es "nicht um eine weit zurückliegende Schuld und die Frage, ob und wie diese zu sühnen sei", "nicht um die Aufdeckung des Charakters der Bürger der Stadt Güllen". Petras, "der mit der 'alten Dame' und ihrem Geld natürlich den Assoziationsraum für deutsch-deutsche Verhältnisse öffnet, spielt die Szenerie mit einem furios sicherem Instinkt durch. Die Mehrheit hat immer recht, wenn sie gemeinsam schuldig wird." Dass Ill hier zum Opfer werde, sei "pure Willkür, schlimmer noch: Zufall. Und so treibt Petras das Verhängnis voran in eine melancholisch grundierte Groteske, bei der im Schatten der Festtagsrhetorik die immer gleiche Niedertracht am Rad der Geschichte dreht". Die Schauspieler fänden "zu einer lange so nicht am Gorki-Theater erlebten Intensität von Zusammenballung und Abstoßung".

Ganz anders Peter Hans Göpfert im rbb-Kulturradio (11.1.10): Petras habe offenbar "bei seinem manchmal beängstigenden Arbeitsdruck diesmal nicht die Zeit gehabt, ein wirklich eigenes Stück unter seinem Dramatiker-Siegel Fritz Kater zu fabrizieren", sondern sich stattdessen "den Dürrenmatt-Stoff frisiert, um sein eigenes Hauptmotiv, die Ost-West-Thematik, herauszupressen". Dem Image der "schönen Frau" genüge Christine Hoppe "betont divenhaft elegant und blond verfärbt". Petras mache aus Dürrenmatts Stück "ein Kaspertheater", hetze seine Spieler "hart am Rand der Klamotte (...) polternd, feixend, schreiend über eine steile Holztreppe". Die Tänzerin, "die als 'Leopard' auf dem Zettel steht, figuriert hier (...) als jugendliche Clara. Diesem Kitschwesen fällt dann am Schluss kurioserweise die Rolle des eigentlichen Todesengels zu." Zwar habe der Abend "seine kurzweiligen Seiten", aber "die beiden großen Motive des Stücks, die Käuflichkeit der Moral und das allmählich wachsende Schuld-Bewusstsein eines Einzelnen – das kehrt Petras ruckzuck unter den Teppich seiner platten Neufassung".

Wo die "turbulente Regierungsbildung in Brandenburg" erst wenige Wochen zurückliege, komme Petras' Nachwende-Variante des Dürrenmatt-Stücks gerade zur rechten Zeit, schreibt im Gegensatz dazu Christian Rakow in der Märkischen Allgemeinen Zeitung (11.1.10). Die Bühnen-Treppe lasse nach oben nur "einen schmalen Spalt zum Ausgang. Wer hier raus will, der muss seinen Rücken krumm machen. Keine guten Bedingungen für den moralischen, aufrechten Gang". Die "eingangs klaren Unterscheidungen von Böse und Gut (...) verschwimmen. Das Märchen vom reichen Westen, der den ökonomisch schwächelnden, aber utopiefähigen Osten annektiert, löst sich auf": So korrumpiere Clara mit ihren Milliarden zwar "die wendehälsigen Kleinbürger", prangere gleichzeitig aber auch "am lautesten den allseitigen gesellschaftlichen Verrat an: 'Ich will ihn wiederhaben, meinen Traum', den Traum von sozialer Gerechtigkeit". Dem stelle Leupold "seinen Stasi-Spitzel Ill mit lässigem Zynismus und Schwerenöterlust entgegen", erarbeite sich mit der Opferrolle aber auch "die Würde der Selbsterkenntnis: 'Ich führe ein lächerliches Leben.'" "In dieser Verweigerung von eindeutigen Beurteilungen" sei der Abend bestechend, wirke "in seiner Spiellaune" bisweilen jedoch "ausgebremst", wohl "ein unangenehmer Nebeneffekt des Koproduktionswesens. Dem Ensemble fehlt die Abstimmung". Dennoch: "einer der derzeit diskutabelsten Theaterbeiträge zur Wendegeschichte".

 

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