Was ist ein Hals gegen einen Hemdkragen

von Tomo Mirko Pavlovic

Mannheim, 18. Dezember 2009. Herr Ellenbeck ist außergewöhnlich. Er gehört zu jenen letzten Männern, die für den Doppelten Windsor weniger als zwei Minuten benötigen. Korrekt gebundene Krawatten sind Ellenbecks Leben. Er hält sich an ihren Enden verzweifelt fest wie an einem gestorbenen geliebten Menschen. Anstecktücher. Kaschmirschals. Dicke und dünne Kunden, die einen Anzug von der Stange brauchen. Ellenbeck respektiert sie alle, auch wenn sie immer seltener vorbeikommen.

Am allerliebsten aber hat er das Kaufhaus, sein Zuhause, wo Ellenbeck ein ganzes Angestelltenleben verbracht hat. Doch das gute Kaufhaus, diese aus der Mode gekommene Kirche des Konsums im gelobten deutschen Wirtschafts- wunderland, hat in unserer schönen neuen Warenwelt ausgedient. Altmodisch wirkt es, graumeliert und leer wie Herr Ellenbeck selbst, der von seiner Chefin deswegen in den Vorruhestand gejagt wird. Sein letzter Arbeitstag in der Abteilung für Herrenoberbekleidung könnte daher traurig stimmen, sentimental, ja sogar tragisch werden. Aber am Ende ist einem dieser skurrile ältere Herr einfach nur egal.

Stelldichein der Kundentypen
Eigentlich schade. Denn Theresia Walsers Stärke ist die Farce, das Abklopfen der hohlen Realität auf der Suche nach einer poetischen Absurdität. In ihrem mittlerweile dritten Auftragsstück für das Nationaltheater Mannheim erfindet die Autorin seltsame Kundentypen, deren Kaufkraft gegen null geht. Verhuschte Einzelgänger. Fauchende Mütter mit viel zu alten Söhnen. Eine hysterische Abteilungsleiterin, die die Rolltreppen tuned. Oder diese junge Frau, die für ihren toten Vater einen Einreiher sucht.

Morbide Freaks und lunare Wesen, die man mindestens verachten oder gar verlachen und für einige wundervolle Walscherschen Satzkaskaden unbedingt beneiden müsste, die einem demnach nie gleichgültig erscheinen dürften, wenn nicht, ja wenn sich nicht der Regisseur Burkhard C. Kosminski bewusst für eine eher behagliche Untertreibung entschieden hätte. Das Kaufhaus als Irrenhaus war wohl zu keinem Augenblick eine Inszenierungs-Option. Die Regie liefert die Figuren eben nicht aus, schützt sie vor sich selbst, betont bei aller Komik Wärme und Identifikation statt Distanz und Entfremdung.

In der Allerweltskaufhalle
Die Schwierigkeit dabei: Walsers Figuren lassen jegliche Tiefe vermissen, ihre Charaktere sind vorsätzlich flach und flüchtig ausgearbeitet. Ihre Worte gehören ihnen längst nicht mehr. Der ausgemusterte Ellenbeck kommentiert einmal die blumige Rhetorik seines jüngeren Kollegen Lenz mit der zynischen Analyse: "Als wollten Sie denen ein Leben einreden. Ein Leben, das mit ihrem Leben gar nichts zu tun hat."

In Walsers Text vollzieht sich nach und nach ein kapitalistischer Tausch: Die Ware wird zum Fetisch, der sich den Menschen einverleibt, und nicht umgekehrt. Ein Hemdkragen ist daher mehr wert als sein Hals. Diese Inversion bleibt allerdings nicht mehr als eine Ahnung an diesem Abend. Das realistische Bühnenbild (Florian Etti) unterstützt die komödiantische Version. Man sieht halt, was jeder kennt: eine lang gezogene Allerweltsverkaufshalle samt Düdeldü-Musik, Drehtür, Anzugständern, Umkleidekabinen, darin die üblichen Verdächtigen und zwei Verkäufer, die gegensätzlicher nicht sein könnten.

Bis die Hose nachgibt
Peter Rühring gibt seinem Ellenbeck eine altersweise Kauzigkeit, während sein Konkurrent, der schnöselhafte Jungspund Lenz (Sven Prietz), trotz aggressiver Verkaufsstrategien ebenfalls erfolglos auf seinen dottergelben Sommerhosen sitzenbleibt. Sie belauern sich, umschleichen sich und ihre verwirrten Opfer wie zwei zahnlose Wildkatzen im Käfig, bis einer von beiden im Feinripp dasteht. Den stärksten Eindruck hinterlässt aber das lustvolle Spiel von Reinhard Mahlberg, dessen Investor Fürth mit Kindheitstraumata, einem Brustbeutel aus Hasenleder und klemmenden Reißverschlüssen zu kämpfen hat. Irgendwann wälzt er sich nur noch sinnlos auf dem Parkett, man hört erleichtert etwas reißen und empfindet doch tatsächlich so etwas wie Mitleid - und zwar mit der atmenden Hose.

 

Der Herrenbestatter (UA)
von Theresia Walser
Regie: Burkhard C. Kosminski, Bühne: Florian Etti, Dramaturgie: Ingoh Brux.
Mit: Peter Rühring, Sven Prietz, Anke Schubert, Ralf Dittrich, Gabriela Badura, Jacques Malan, Jenny König, Reinhard Mahlberg, Hans Fleischmann.

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Mehr über Theresia Walser im nachtkritik-Archiv: Ihr Stück Monsun im April wurde im Dezember 2008 zur Uraufführung gebracht, und zwar ebenfalls von Burkhard C. Kosminski am Nationaltheater Mannheim. Weiter besprochen wurde  Morgen in Katar, inszeniert von Schirin Khodadadian in Kassel im März 2008, das auch zu den 33. Mülheimer Theatertagen eingeladen war; Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm, inszeniert von Alexander May in Nürnberg im Juni 2008.

 

Kritikenrundschau

"Man weiß bei Theresia Walser nie, ob sie die Figuren, die sie zeigt, von vornherein lächerlich findet", meint Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (21.12.2009), "oder ob sie voller Mitleid zuschaut, wie die Verhältnisse sie zu lächerlichen Figuren degradieren". So auch wieder in ihrem neuen Stück "Der Herrenbestatter" – mit diesem habe Walser "eine knallige Kaufhauskomödie geschrieben, ein Stück zur Krise." Und "im Krassen und Kracherten" habe sie ihr Revier, in dem sich auch Burkhard Kosminski, der Regisseur der Mannheimer Uraufführung, und die Schauspieler wohl fühlten, "in einer Gesellschaft, die nicht mal mehr das Kaufen hinbekommt". Doch irgendwann zerfasere das Stück und produziere "Sinn- und Figurenüberschuss". Davon abgesehen aber bleibe "in Walsers Boshaftigkeit etwas Bohrendes, hinein in Figuren, die zugleich nur Abbild der Zustände sind. Da drinnen vermischen sich Pointe, Poesie und Plattitüde zu einer sprudelnden Posse."

"Theresia Walser, Fachkraft für skurrile, mysteriös leuchtende Alltagsdramen in geschlossenen Räumen und labyrinthisch verfahrenen Situationen, hat in der Herrenabteilung eines maroden Kaufhauses viel Konfektionsware gefunden", schreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen (21.12.2009). Doch ihr neues Stück gehöre "selber zu den eher leichtgewichtigen Textilien. Die Markenware aus der Damenabteilung des Hauses Walser erweist sich diesmal als nicht sehr strapazierfähig: Die Figuren sind flach, der sonst so anmutige Sprachwitz ist (...) ein wenig fadenscheinig, der dünne Stoff franst an den Bündchen und Nähten aus." Zum "Fehlkauf" aber mache sie erst die Inszenierung. Kosminski verramsche "Walsers poetischen Surrealismus gnadenlos als Klamauk-Sonderangebot im vorweihnachtlichen Winterschlussverkauf. Die leiseren Momente und stillen Seelenaufschwünge werden voll dröhnend überspielt, offene Hosenläden und platzende Nähte zu marktschreierischen Verkaufsargumenten."

Theresia Walser, die "eigentlich Meisterin auf dem schmalen Grat zwischen den Genres ist", habe mit dem "Herrenbestatter" ein Stück geschrieben, das "sich nicht entscheiden kann, ob es Komödie, Gesellschaftskritik, absurd, poetisch oder tiefsinnig sein will", meint Ralf-Carl Langhals im Mannheimer Morgen (21.12.2009). Walser reiße ihre Figuren diesmal nur an, "wie ein unentschlossener Kunde" habe sich die Autorin "zu unverbindlich umgeschaut, denn der Handel bietet an gelackten Abteilungsleitern, dynamischen Wichtigtuern oder neuen Besen, die allenfalls zum Schaumschläger taugen, wahrlich genug Material. Was den Schauspielern bleibt und von Regisseur Kosminski über die Maßen bedient wird, ist Überzeichnung schwach Gezeichneter durch komödiantische Spielart, die durchaus für Lacher sorgt, dann aber wieder auf Dramatikerlyrik trifft". Langhals' Fazit: "Was ein solider Gebrauchstext mit Nähe zur Groteske hätte werden können, ist auch durch das Zutun von Burkhard C. Kosminski leider nur verlegener Klamauk geworden."

Die Karstadt-Quelle-Pleite sei durchaus gegenwärtig in Theresia Walsers neuem Stück – sagt Cornelie Ueding auf Deutschlandradio (19.12.2009): Wenn die Autorin "über die Bedeutung von Kaufhäusern nachdenkt, einst und jetzt, sowie über Fragen von Kündigung, Vorruhestand, Mitabeiter- und Kundenpflege in Krisen-zweiten. Und über unsere Abhängigkeit von Erfolg, Geld und Waren." Die Figuren seien "Beweisstücke in diesem Argumentationsgeflecht". Das Kaufhaus also "als Schule und Durchgangsstation des Lebens. Dafür hätte die Regie stimmige Situationen und ja, überzeugende wenn nicht Menschen, so doch Typen schaffen müssen. Kurz und knackig und mehr als ein Hauch der besessenen Ernsthaftigkeit von Loriot-Figuren und der Genauigkeit seiner Situationen, und der Abend hätte so absurd wie komisch werden können, bis einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Aber Burkhard Kosminski lässt's lieber krachen." Das aber vertrage das "kleine Werk, ein sprachverliebtes Kammerspiel mit grotesken Einsprengseln", leider gar nicht. Die "sich von Gag zu Gag hangelnde Aufführung ist schon lange vor dem gespenstischen Kaufhaussterben mausetot".

Der Text des "Herrenbestatters" habe es in sich, meint Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (21.12.2009): "Gut recherchiert und originell formuliert, lässt er heiter-grimmig nicht nur die Verkaufskultur, sondern auch (am Horizont) gleich die ganze Kultur des Abendlands untergehen. Bei der Lektüre, im heimischen Sessel unter der Leselampe, zündet da auf der Kopfbühne eine Pointe nach der andern." In Mannheim aber "wollen diese Sätze, ihrer unbestrittenen Schönheit zum Trotz, nicht zünden." Das liege wohl an Burkhard C. Kosminski, "der sich als Regisseur doch mehr Freiheiten gegenüber Theresia Walser rausnehmen sollte. Sie hat Beckett auf den Boulevard geschickt und ein wunderbares Lesedrama geschrieben. Er aber hätte dem Lesedrama auch szenisches Kaufhausleben einhauchen müssen. So aber wird er, fast, zum Stückbestatter."

Auf Welt Online (22.12.2009) schreibt Uwe Wittstock : "Die Welt der Angestellten ist voller Absurditäten. Zumal in Zeiten der Krise, wenn alle Arbeitsverhältnisse prekär werden. Mehr Einsatz und erhöhte Identifikation mit dem Unternehmen wird dann von ihnen erwartet - auch wenn der Arbeitsplatz morgen schon verloren und jede übertriebene Identifikation mit ihm eine zusätzliche psychische Bürde sein kann." Diese "ebenso vertraute wie bizarre Lebensnot" habe Walser zum Stoff ihrer "Tragikomödie aus dem Milieu der Textilfachverkäufer" gemacht. Regisseur Kosminski setze "ganz auf die komischen Effekte des Stücks". Das sei "verständlich und klug", denn Walsers Figuren hätten "wenig Eigengewicht", "typisierte Karikaturen", wollte man ihre "Seelendisposition eingehender abklopfen", klänge das "vermutlich ziemlich hohl". Die Stärke der Komödie liege in der "illusionslosen Bestandsaufnahme": Die Kunden des Kaufhauses haben "kein Geld mehr, die Angestellten keine Würde, die Manager keine zündenden Ideen - und das Unternehmen keine Zukunft." Wenn alle dennoch so tun, als seien noch irgendwelche großartigen Ziele zu erreichen, wirkt das "sehr komisch" und "sehr bitter". Dem Ensemble gelänge es, "beides zugleich spüren zu lassen". Selbst hinter "grotesken Selbsttäuschungen" und "clownesken Hampeleien" brächten die Schauspieler "noch eine Portion Existenzangst zum Vorschein".

 

 

 

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