Dreier mit Dandy

von Christian Rakow

Berlin, 18. Dezember 2009. Überraschend. "Die Hölle, das sind die anderen." Diese unvergessenen Worte, die hatte man doch ganz anders in Erinnerung. Damals, als man sich zu Abiturzeiten gegenseitig Bücher widmete, da besaß dieser Satz noch die ganze Kraft eines Ego-Trips. Da tönte durch die Pubertätshölle eher laut als leise der Ruf nach unumschränkter Selbstbestimmung. Und heute im Maxim Gorki Theater?

Heute bemerkt man in "Geschlossene Gesellschaft" wie zum ersten Mal die intellektuelle Gymnastik für sozial und emotional verspannte Egozentriker. Die Hölle sind eben nur diejenigen Anderen, die rücksichtslos durch ihren Alltag pflügen. Drei solcher Exemplare werden in diesem kleinen Konversationsstück des großen Existenzphilosophen Jean-Paul Sartre vorgeführt – als Eingeschlossene in einer Unterwelt, die wie ein Salon des Second Empire aussehen soll.

Erotische Offerten als Höllenfeuer

Estelle ist eine geschmäcklerische Schickse, Männerverschleißerin und – fast schon en passant erwähnt – Kindsmörderin. Die ehemalige Postbeamtin Inés hat ihre Geliebte und deren Cousin auf dem Gewissen. Und Garcin terrorisierte seine Ehefrau, weil er sich als Literat, Journalist und Pazifist zu Höherem berufen fühlt. Unter diesen Sündern von mittlerem Schlage gerät das Ringen um soziale Anerkennung schnell zum Nervenkrieg. Und ihre wechselnden erotischen Offerten sind die eigentliche Höllenfolter.

Mit prononciertem Stilempfinden geht Regisseurin Felicitas Brucker das Fegefeuer der Eitelkeiten an. Die Retro-Outfits (von Kostümbildnerin Sara Schwartz) könnten direkt aus Camden Town in London stammen. Wenn Robert Kuchenbuch in Jackett und hautenger Röhrenjeans seinen Künstlertypen Garcin mit Pete Doherty-Einschlag an die Wand schrägt, meint man, jeden Moment müsse der Vogue-Fotograf um die Ecke biegen. Dieser Held lebt den neuen Dandyismus. Oder doch den alten? In der Rahmensituation erinnert Brucker jedenfalls an einen Stammvater der modernen Künstlerexzentrik, wenn sie Johann Jürgens zur E-Gitarre Verse des Dichters Arthur Rimbaud intonieren lässt.

Unter schlechtem Stern

Bühnenbildnerin Ulrike Siegrist versetzt den Dreier mit Dandy in eine stechend weiße Box, zwischen Stangen und Schaukeln. Videos auf der Rückwand spielen gelegentlich Erinnerungsbilder aus dem Leben der Eingeschlossenen ein. Es sind realistische Snapshots von Selbstmord, Flucht und städtischer Einsamkeit. Der prägnante, heutige Look dieser Inszenierung, ihre lyrische Vertiefung und ihr äußerer Rhythmus stimmen. Auch die geradlinige, von größeren Texteingriffen absehende Erzählweise wäre perfekt für das vornehmlich jüngere Publikum des Gorki Theaters geeignet. Aber was ist bloß mit dem Schauspiel passiert?

Spröde hangeln sich die Akteure zwischen den Stangen zueinander und wieder fort. Jedwede Impulse perlen aneinander ab; jedes Stichwort wirkt kalkuliert, jede Bewegung abgezirkelt. Und das bei einer Regisseurin, die eigentlich einen unverkrampften Zugriff und locker animprovisierte Szenen beherrscht?

Manche Theaterproduktion steht unter einem Unstern. Doch auf diese scheint ein ganzer Meteorregen Pech niedergegangen zu sein. Die Vorzeigeaktrice Julischka Eichel, ursprünglich für die Rolle der Estelle vorgesehen, musste aus Krankheitsgründen vor zehn Tagen durch die fraglos talentierte, aber bis dato eher in Nebenrollen erprobte UdK-Studentin Ninja Stangenberg ersetzt werden. Stangenberg selbst verstauchte sich heute Abend bei einem Wackler fast den Knöchel.

Konterkarierung und Intensität

Als aber schließlich eine Zuschauerin im Saal kurzzeitig kollabierte und das ohnehin mühsam aufrecht gehaltene Gerüst der Inszenierung beinah den Weg alles Irdischen (oder Höllischen?) nahm, da zeigte sich plötzlich, was für intensive Momente von Schauspielertheater hier eigentlich möglich wären. Anja Schneiders geerdete Inés kontert da plötzlich nach Belieben ihre Gegenspieler aus. Robert Kuchenbuch lässt das behäbige Pathos seines Garcin fahren und wagt ein ums andere Mal, blanke Nerven zu zeigen. Halb verzweifelt, halb lachend hämmert er Estelle gegen die Wand. Und Ninja Stangenberg wird unbefangener und bissiger und lässt vergessen, dass sie als Sinnenviech Estelle das Gros dieses Abends krabbelnd auf dem Boden verbrachte (ist dieser outrierte Kommentar auf Estelles Erotik von der Regisseurin tatsächlich ernst gemeint, oder schließt das bloß Lücken aus der Probe?).

Zwei Wochen mehr Vorbereitungszeit, und diese Produktion hätte sich frei gespielt. Aber das kann ja noch kommen während der Aufführungsstrecke. Wie meint Garcin zum Schluss, als alle Fluchtmöglichkeiten ausgeschlagen sind und die Figuren ihre Schicksalsgemeinschaft erkennen lernen? "Machen wir weiter."

Geschlossene Gesellschaft
von Jean-Paul Sartre, Deutsch von Traugott König
Regie: Felicitas Brucker, Bühne: Ulrike Siegrist, Kostüme: Sara Schwartz, Video: Isabel Robson, Musik: Felicitas Brucker/Johann Jürgens; Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Robert Kuchenbuch, Anja Schneider, Ninja Stangenberg, Johann Jürgens.

www.gorki.de


Mehr über Felicitas Brucker im nachtkritik-Archiv: Im Oktober 2009 inszenierte sie im Freiburg die Orestie; im April 2009 die Uraufführung von Ewald Palmetshofers faust hat hunger und verschluckt sich an einer Grete am Schauspielhaus Wien. Im letzten Jahr war ihre Uraufführung von Palmetshofers hamlet ist tot. keine schwerkraft zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Mehr dazu auf unserem Festivalportal Stücke '08.

 

Kritikenrundschau

Zwei zähe, seltsam klebrige Stunden erlebte Dirk Pilz für die Berliner Zeitung (21.12.2009). Immerfort hat er den Eindruck, die Inszenierung befinde sich in der Vorwärm-Phase, taste noch vorsichtig den Text und die Figuren ab. Gleich, denkt er dann, wird sie den Prolog-Modus verlassen. Und wartet vergebens darauf. "Vielleicht liegt es daran, dass die Spielvorlage, Jean-Paul Sartres frühes und selten inszeniertes Ein-Akt-Drama 'Geschlossene Gesellschaft', eher ein dramatisch aufgeblasenes Thesenstück ist." "Nie reißt hier ein Theaterhimmel auf, alles bleibt theoretisch, ausgedacht, hölzern."

"Felicitas Brucker inszeniert den Existenzialismusklassiker am Maxim Gorki Theater verhältnismäßig schnörkellos und schulklassenkompatibel vom Blatt", schreibt Anne Peter in der Berliner taz (21.12.2009). Sie halte sich mit Deutungsakzenten oder Konkretisierungen zurück und versuche stattdessen, ihre Schauspieler auf Figuren-Psycho-Kampf einzuschwören. Obwohl Sartre der Regisseurin aus Sicht der Kritikerin "mehr Identifikations- als Reibungsfläche" ist, gelinge es Brucker eher "leichte Dialogschlagfertigkeit als existenzialistische Schwere". Wer wolle, könne die gut zweistündige Veranstaltung "somit als sanfte Ermahnung zu Verantwortung und Eigeninitiative lesen, wie sie uns heute bisweilen fehlen."

Unfroh mit den Untoten zeigt sich Peter Hans Göpfert in der Berliner Morgenpost (21.12.2009). Zwar habe Felicitas Brucker Sartres Hölle modernisiert, das Stück aber damit nicht unbedingt spieltauglicher gemacht. Es gibt Anmutungen von "Strindberg im Fegefeuer". Grundsätzlich verfestigt sich beim Kritiker im Laufe des Abends der Eindruck, "der eigentlich Tote sei - das Stück selbst."

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