Dekubitus im Arschgeweih

von Christopher Scholz

Mainz, 18. Dezember 2009. Mit der Deutschen Bahn kann diese Reise nicht gelingen, so viel steht fest. Gibt man online bei der Reiseauskunft ein zeitlich zurückliegendes Datum ein, erfolgt der Hinweis: Verbindung liegt in der Vergangenheit. So steht es auch auf dem Vorhang geschrieben, der eingangs die Bühne verhüllt. Was er enthüllt, als er gelüftet wird, passt in seinem konfrontativen Wesen durchaus zu dem entschlossenen Ausruf, der dem Stück seinen Namen gibt: "Uns kriegt ihr nicht!" Der scheinbare Garant dafür: Ein Panzer, Typ 2010.

Den Ziffern nach ein modernes Teil also, mit drehbarem Geschützturm und einer mächtigen Wumme, die bei der Uraufführung auch schon mal auf die Zuschauerränge im TiC Werkraum des Mainzer Staatstheaters zielt. Die Gefahr freilich hält sich in Grenzen, so ganz kampftauglich ist der Kriegsapparat auf Tischbeinen nicht.

Die Blumen und die Gießkanne, der Briefkasten und auch der Schaukelstuhl davor mindern doch erheblich sein martialisches Auftreten. Eine Dame und zwei Herren im fortgeschrittenen Alter fristen ein wenig erquickliches Dasein im Altenheim. Irgendwie finden sie hinaus, begeben sie sich auf die Flucht vor den starren Tagesabläufen und den nach Desinfektionsmittel schmeckenden Suppen, auf die Suche nach Bruchstücken ihrer Vergangenheit. Mit dabei eine junge Pflegerin, eine Praktikantin, die eher zufällig, bestenfalls aus Langeweile, mit auf die Reise geht – in eben jenem Vehikel.

Vorstellungen vom Altsein
Die Autorin des Stücks, Lisa Danulat, ist Jahrgang 1983. Letztes Jahr hat sie bei "Text trifft Regie" im Staatstheater Mainz mit "Too low terrain" den ersten Preis erzielt, ein Text, der unter der Regie von Robert Borgmann im Juni dieses Jahres uraufgeführt wurde. Postwendend folgte der Stückauftrag des Staatstheaters, sie widmete sich der Thematik des Altseins, dem Dialog der Generationen, nahm Bezug auf eigene Erfahrungen als Praktikatin in Seniorenstiften, auf Unterhaltungen mit älteren Menschen.

Nicht von ungefähr ist der Charakter der von Verena Bukal wunderbar überdreht interpretierten Pflegerin, Fräulein Zelda, am deutlichsten gezeichnet: Eine reichlich desillusionierte junge Dame, die eher selten Sinnfragen jenseits von Tanzen, Sex und Alkohol nachhängt: "Müdigkeit ist der Schrei der Leber", sagt sie. Ihre Vorstellung vom Altsein gepaart mit ihren Pflegeerfahrungen münden in eigenwilligen Szenarien: "Ich träume jede Nacht von Dekubitus im Arschgeweih".

Solcherlei Sorgen plagen die drei Alten nicht. Von jungen Schauspielern dargestellt, die gar nicht erst versuchen, mit entsprechender Mimik senile Gebrechen auf die Bühne zu bringen, äußert sich ihr Alter im wesentlichen durch ihre Biographie. Die prüde Frau Ilex (Victoria Schmidt) steht für ein halbes Jahrhundert Monogamie. Der schüchterne Herr Springorum (Leonard Hohm) steckt in einer Welt vergangener Gedichte fest, während Herr Xylander (Jan-Philip Frank) in seinem militärischen Tonfall und Vokabular an ein besonders dunkles Kapitel deutscher Geschichte erinnert. Daneben spielt Stefan Graf noch Jeanne Calment, die 1997 mit 122 Jahren verstarb, und als bislang älteste Frau der Welt gilt, vor allem aber ist er Faktotum, Motivationsguru und Schildkröte.

Surreal, durchgeknallt, tragisch
Dieses Ensemble nun verliert sich in einem Puzzle aus grauen Erinnerungsbildern und freien Assoziationen, die immer wieder mit einer lärmenden Gegenwart kollidieren. Der Panzer schottet sie wie ein Faradayscher Käfig von der Außenwelt ab, bietet aber letztlich nur bedingt Schutz, vor allem vor den eigenen Fragen, die im Innenraum weitergeistern. Was zum Beispiel ist schlimmer? Geistig fit zu sein und körperlich im Eimer oder das Umgekehrte? Auf dem Hintergrund von Quellwolken vor blauem Himmel, vor einem insgesamt hervorragenden Bühnenbild von Tobias Schunck, gelingt es Regisseur Hannes Rudolph, der in Mainz in der letzten Spielzeit eine bemerkenswerte Inszenierung von Georg Büchners "Leonce und Lena" präsentierte, nicht, das Puzzle völlig stimmig zusammenzusetzen.

Im widerstreitenden Chor der Stimmen verlieren sich zu viele Aussagen im Nichts – vor allem die Worte der Alten verhallen ungehört, gewissermaßen wie in einem Heim. Das wäre ja allzu passend, nur leider sind es nicht allein ihre Hirne, die aus Mangel an Anhaltspunkten ins Leere laufen. Die Puzzleteile im Einzelnen sind surreal, durchgeknallt, tragisch, zynisch und auch oft komisch, nur für das Gesamtbild fehlen einfach diverse Teile.

 

Uns kriegt Ihr nicht! (UA)
von Lisa Danulat
Regie: Hannes Rudolph, Bühne: Tobias Schunck, Kostüme: Caroline Jarczyk.
Mit: Verena Bukal, Jan-Philip Frank, Stefan Graf, Leonard Hohm, Victoria Schmidt.

www.staatstheater-mainz.de

 

Mehr lesen über die Dramatikerin Lisa Danulat im nachtkritik-archiv: Robert Borgmann inszenierte im Juni 2009 am Staatstheater Mainz die Uraufführung von Danulats Too Low Terrain. Auch beteiligte sie sich 2009 am Projekt szenen.nachtkritik.de, das in Kooperation den Studiengängen Szenisches Schreiben der Berliner UdK und UniT Graz stattgefunden hat.

 

 

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