Vom Himmel hoch, da kommt mein Heer

von Andreas Klaeui

Basel, 20. Dezember 2009. "Kurz und gut lebt der Soldat" – denn auf die munteren Marschrhythmen und feschen Federbüsche folgt unweigerlich das Gemetzel. "La Grande-Duchesse de Gérolstein" ist wohl Offenbachs bösartigste, bissigste Opéra-bouffe (im Deutschen etwas undifferenziert in den Operetteneintopf geworfen), der große Franzose nimmt da in einem Winzfürstentum säbelrasselnde Chefgeneräle und aus lauter Langeweile Schlachten befehlende Koloraturkriegsgurgeln ins Visier, und das Stück bezieht seine Kraft und seinen Witz natürlich genau aus dem ambivalenten Faszinosum militärischer Attribute. "Ah, que j'aime les militaires ...", singt die Großherzogin lasziv: ihre Schnauzer! ihre Federbüsche!

"Ich bin so ... heiß", zögert Anne Sofie von Otter nicht anzufügen, mit tadellos verhauchter Intonation, wie sie ihre Regentinnenrolle ohnedies, man kann nur sagen: mit absoluter Souveränität ausfüllt. "Ah, wie liebe ich die Soldaten": Christoph Marthaler folgt ihr genau so lange, bis es in die Schlacht geht und das Militär-Spiel seine Unschuld verliert.

Et piff, paff, pouff, et tara-tatapoum!

Noch tritt die Kapelle im Kampfanzug auf und spielt schmissig das Gerolsteiner Regimentslied, und der vorwiegend Herzattacken reitende General Boum (Christoph Homberger at his best – "et piff, paff, pouff, et tara-tatapoum!") lechzt nach "dem Feind, dem Feind" wie nur die drei Schwestern "nach Moskau, nach Moskau". Da will der formidable Dirigent Hervé Niquet am liebsten selber singen, was den Chor aufs Höchste erzürnt; da treibt der Regisseur ein hochgradig amüsantes Spiel mit geschürter Erwartung und präziser Enttäuschung, unfehlbarem Timing und unendlich langen Retardements.

Seine künstlerische Position bleibt offenbar kontrovers: "Ist ein Regisseur im Publikum?", rief Ueli Jäggi eingangs wie nach einem Arzt. Was er hier wieder inszeniert, ist jedenfalls ein Schlag ins Gesicht all jener, die sich ungetrübten Operettengenuss erhofft hatten. Die Buhs, die sich beim Applaus in die Bravos mischten, zeugen davon: denn von dem Moment an, da der junge Soldat und Günstling der Großherzogin, Fritz (Norman Reinhardt), tatsächlich in die Schlacht ziehen muss, wendet sich der Basler Abend diametral.

Lamenti und Trauergesänge aus Zeiten des Krieges

Banges Warten macht sich von da an breit im Reich der Großherzogin – einem verglasten Saalbau mit Einlegershops im Souterrain (die "Park Boutique" und eine neu eröffnete Waffenhandlung). Anna Viebrock nähert sich den Seventies und damit auch Moonboots und Daunenjacken (stilsicher aufgestöbert von Sarah Schittek), und wenn der eher halbseidene Waffenhändler (Raphael Clamer) ein Weihnachtsschild zu den Kalaschnikoffs ins Fenster stellt: "Es gibt sinnvollere Geschenke als alkoholische Getränke", dann ist dies allerdings eine wunderbare Pointe, an und für sich, aber erst recht in diesem Stück, in dem der brave und offensichtlich pazifistisch angehauchte Fritz den Feind am Ende tatsächlich mit 120 Flaschen Bordeaux in die Knie zwingen wird.

Doch so weit sind wir nicht – sondern unversehens in einem sehr ernsten, sehr skeptischen Marthalerabend mit Lamenti und Trauergesängen aus Zeiten des Krieges. Angstvolle Erwartung und plötzliche Panik zucken auf, heftige Musikgefühle lassen die ihnen ausgelieferten Menschen sich selbst überschlagen. Das ist die Marthaler-Familienwelt mit ihren fallsüchtigen Glückssuchern und ihrer unvermittelt aufleuchtenden Sehnsucht, die in berührenden Momenten ein musikalisches Fenster auftut hinaus aus der Welt.

Fragiler Zaubermoment

Auch dafür ist Anne Sofie von Otter freilich die perfekte Protagonistin; wie sie und der falsettierende Jürg Kienberger halb im Liegen, halb im Stehen das Duett "Son nata a lagrimar, a sospirar" aus Händels "Giulio Cesare" singen, das wird sich als fragiler Zaubermoment nicht schnell aus dem Gedächtnis stehlen.

So endet dieser buffoneske Abend mit einem sehr skeptischen Abgesang, auf einer durchaus melancholischen Note (aber was hatten Sie erwartet?), kaum noch unterbrochen durch Pausen on the rocks ("Holiday on ice" nennt die Großherzogin das) und Offenbach-Reminiszenzen. "Selig sind, die da Leid tragen", singt das Ensemble nun in kostbarem Sottovoce: "Denn sie sollen getröstet werden". Trost mit Brahms. Messias Musik. Oder, wie es Hombergers General Boum nun formuliert: "Vom Himmel hoch, da kommt mein Heer."

Da ist Marthaler freilich ganz bei sich, und die Operette fast schon Weihnachtsmärchen. Eine Sternstunde.


La Grande-Duchesse de Gérolstein
von Jacques Offenbach (Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy)
Musikalische Leitung: Hervé Niquet, Inszenierung: Christoph Marthaler, Bühnenbild: Anna Viebrock, Kostüme: Sarah Schittek.
Mit: Anne Sofie von Otter, Norman Reinhardt, Agata Wilewska, Christoph Homberger, Rolf Romei, Karl-Heinz Brandt, Ueli Jäggi, Jürg Kienberger, Bendix Dethleffsen, Raphael Clamer, Altea Garrido, Carina Braunschmidt, Karin Gamboni, Martin Zeller, Chor des Theaters Basel, Kammerorchester Basel.

www.theater-basel.ch


Mehr zu Christoph Marthaler im nachtkritik-Archiv: bei den Wiener Festwochen kam im Sommer 2009 sein Defilée der Desillusionierten Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie heraus. In Zürich erhielt Marthaler im Sommer 2009 den Kulturpreis der Stadt. Marthaler-Protagonist Jürg Kienberger zeigte im August 2009 im Berliner Radialsystem seinen Soloabend Ich bin ja so allein.

 

Kritikenrundschau

In der Sendung Kultur heute auf Deutschlandfunk (21.12.2009) beschreibt Frieder Reinighaus das Bühnenbild von Anna Viebrock (hier die Audio-Version): "Eine innerstädtische Installation erfüllt das Große Haus von der Unterbühne bis zum Bühnenhimmel, von links außen, wo diskret die elektronische Zugangssperre wartet, bis ganz nach rechts, wo sich die Einfahrt zur Tiefgarage befindet." Das erinnere an Köln, Frankfurt oder Zürich mit seinen "funktional-repräsentativen Architekturobjekten der 60er-Jahre". Etwas "souterrain" ein Modegeschäft, nebenan der Waffenladen, darüber in zwei Etagen der Regierungssitz des Großherzogtums Gérolstein. Die Großherzogin Anne Sophie von Otter I. "überlebensgroß in Essig und Öl und Sternen im Haar" auf Leinwand hinterm Amtsschreibtisch gebannt. Nach einer halben Stunde käme die Kapelle endlich in die Spur der Grand-Duchesse. Und in den folgenden zwei Stunden würden tatsächlich auch noch einige Offenbach-Nummern "in Marthalers Warteübung eingebaut". Marthalers Personal habe "sich überlebt." Es könne nicht viel Lachen im Hals stecken bleiben, weil "angesichts der Redundanzen der Inszenierung kaum ein solches" aufkomme. "Vom Ende her betrachtet war die eingangs ans Auditorium gerichtete Frage: "Ist ein Regisseur im Publikum" das einzige wahrhaft kritische Moment der neuen Marthaler-Kreation. Selbstkritisch sogar."

Manuel Brug schreibt auf Welt Online (21.12.2009) Marthalers "ätzend-verhaltene Militärsatire" oder präziser sein "gezeichnetes Sittenstück mit kalkulierten Rissen". Ein "eher stilles" Gesellschaftspanorama, "mit Gewalt komisch", aber eigentlich furchtbar traurig. Selten "zuckte man vor der Gewalt der Marschmusik aus Trommeln und Trompeten zusammen, wie wenn nach fast stummem Vorspiel vom als General gekleideten Dirigenten Hervé Niquet zur Attacke geblasen wird"."Das lebende Stillleben à la Marthaler mit seinen typischen Melodien und Mechaniken, Ticks und Wiederholungen hat sich weiträumig entfaltet, bevor nach zwanzig Minuten der erste Offenbach-Orchesterton erklingt." Anne Sofie von Otter fügt sich "vollkommen" in die Marthaler-Familie. Zwischen Marthalers Offenbachtrubel ist "eisige Einsamkeit und leere Pflichterfüllung um diese leicht derangierte Herrscherin". Nach dem ersten Akt folgt nurmehr "eine Marthaler-Musikcollage zum einsam modulierenden Klavier".  Die Gesellschaft werde "betrunkener und sentimentaler, keck und albern", Offenbach interessiere kaum noch, so dass die Resthandlung "so hastig wie beiläufig" abgespult werde. "Wo in Berlin das komplette "Pariser Leben" von Sylvain Cambreling für Marthaler genial umorchestriert und geschmeidig aktualisiert wurde, da taugt ihm jetzt in Basel der Original-Offenbach höchstens als so fragmentarische wie löchrig böse, bisweilen auch routinierte Befindlichkeitsstudie, die im Nichts abstürzt."

Für Marthaler sei das Stück ein gefundenes Fressen, schreibt Peter Hagmann in der Neuen Zürcher Zeitung (22.12.2009). "Liebevoll und mit jenen ebenso artifiziellen wie erheiternden Wiederholungsschlaufen werden die Granden in ihrem billig protzigen Empfangssaal blossgestellt." Was nach dem ausgedehnten ersten Akt von Offenbachs Operette folge, "ist sozusagen reiner Marthaler". Während draußen unsichtbar der Kampf tobt, der bei Offenbach dank der Anwendung von Alkohol ausfällt, wird drinnen fleissig getrunken – und kommt bald jene bleierne, durch einzelne Eruptionen von Energie unterbrochene Mattigkeit auf, die zu Marthalers Markenzeichen gehört. "Ganz wie er es mag, dehnt und beschleunigt er den Zeitverlauf, kürzt er die Substanz und fügt er neue Elemente hinzu." Und anders als bei "Kasimir und Karoline" von Horváth oder Verdis "Traviata", wo lineare Dramaturgien herrschen, kann sich Marthaler hier voll auf seine Kunst der abstrahierenden Verfremdung einlassen. "Und fast hat es den Anschein, als habe er in dieser Produktion eine neue Stufe dieser Kunst erklommen."

"Christoph Marthalers Bühnen-Kreationen bestehen immer auf ihrer eigenen Ästhetik", so Joachim Lange in der Frankfurter Rundschau (22.12.2009), "haben einen besonderen Sound und ihre eigene Dynamik. Man kann das lieben oder für Bühnenblödsinn halten, aber musikalisch ist es auf jeden Fall. Besonders, wenn er sich eine Operette von Offenbach vornimmt." Bei ihm werde das Ganze aber nicht nur zu einer Parodie aufs militaristische Gehabe und Personalpolitik eines Fürstenhauses, "er schafft es auch, dem Stück, das nicht zu den genialsten Libretto-Erfindungen des Duos Meilhac/Halévy gehört, einen abgründig melancholischen Boden einzuziehen, der mit musikgeschichtlicher Hinterlist vom Klavier meist als Wagner herüber weht."

"Regisseur Christoph Marthaler liebt es, seine Protagonisten aus ihren Rollen fallen zu lassen, das ist jetzt am Theater Basel nicht anders", so Anna Kardos im Zürcher Tages-Anzeiger (22.12.2009) und der Basler Zeitung (22.12.). Dazu kämen weitere Déjà-vus: "Menschliche Kleinlich- und Peinlichkeiten oder die omnipräsente Einsamkeit. Langweilig wird das nie, vielmehr ist man froh um das Vertraute. Denn der Abend ist unglaublich dicht. So viele Schichten baut und so viele Verweise tut er auf, dass einem schwindlig werden könnte." Mehrschichtig auch Anna Viebrocks Bühne, "während die einen droben wohnen, müssen die anderen unten handeln. Mit Waffen oder kitschigen Kleidern." Außer der Bühne sei in dieser Inszenierung kaum etwas überhöht. "Vielmehr entwickelt die Inszenierung den Blick fürs Kleine und nimmt das Libretto immer wieder beim Wort."

"Das ist großartig", ruft Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (2.1.2010) aus und annonciert zwei Sensationen. "Die eine ist eine Inszenierung, die aus schalem Vergnügen die (deutsche) Todessehnsucht herausdestilliert. Die andere ist Anne Sofie von Otter. Vor 26 Jahren begann die Mezzosopranistin ihre Weltkarriere in Basel, jetzt kehrt sie als Großherzogin zurück. Und zwar so, als hätte sie nie etwas anders gemacht, als sich mit Marthalers Eigenheiten zu beschäftigen. Sie trägt jene Ordensschärpe, die die hilflose Zensur bei der Uraufführung verbot, eine riesige Sonnenbrille und eine große Handtasche, in der sie oft herumkruscht. Sie pfeift auf Schöngesang, wenn es die Inszenierung erfordert, sie berückt, wenn sie darf (Händel). Und sie fügt sich in die Marthaler-Familie mit ihren seltsamen Verhaltensformen ein, als wäre sie schon seit langem adoptiert. Anne Sofie von Otter versteht Theater, durchdringt die Inszenierung, macht sie sich zu eigen."

 

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