Die Hoffnung liegt im Dirty Deal

von Inga Fridrihsone

Riga, Januar 2010. Wie jedes Jahr wurde am 23. November 2009 der lettische Theaterpreis verliehen. In den wichtigsten Kategorien wie etwa Regisseur und Inszenierung des Jahres ging der Preis an das Neue Theater Riga (JRT), an dessen künstlerischen Leiter, den Regisseur Alvis Hermanis, und die Schauspieler für die Inszenierungen "Marta aus Zilaiskalns" und "Der Großvater". In seiner Rede sagte Hermanis, die Letten könnten stolz auf ihre Theaterkultur und insbesondere auf ihre Schauspieler sein, das könne er angesichts seiner großen Auslandserfahrung sicher behaupten. Wir seien nicht nur das Volk der Sänger, wie wir uns häufig bezeichnen. Das Volk der Theaterspieler seien wir ebenso.

Genau zwei Wochen später, am 7. Dezember, folgte die Meldung über die nächstfolgende Kürzung des Theateretats. Wie so viel Anderes hat auch das Theater das Jahr 2009 im Zeichen der Krise oder des "Großmissgeschicks" verbracht, wie die Letten die Finanzkrise euphemistisch umbenannt haben. Dreimal wurden 2009 die staatlichen Subventionen für die Theater gekürzt. Nach der letzten Kürzung im Juli blieben ihnen nur noch 60% von dem, was sie im vorhergehenden Jahr bekommen hatten.

Nur zwei Vorstellungen im Monat

Schaut man auf den Jahreshaushalt für 2010, hat das Theater mit einer weiteren Förderungs-Verringerung um fast 40% im Vergleich zu 2009 zu rechnen. Der Theateretat für dieses Jahr umfasst etwa 6 Millionen Euro, von denen aber fast 2 Millionen in die Rekonstruktion des Russischen Theaters Riga fließen sollen. Das übrige Geld soll für alle lettischen Staatstheater ausreichen.

Von den insgesamt acht Stadt- und Staatstheatern befinden sich fünf in Riga. Die drei Provinztheater sind am stärksten dem Risiko einer für ihre Existenz bedrohlich großen Kürzung ausgesetzt. Das Theater Liepaja an der lettischen Westküste fand eine Lösung, indem die Stadt Liepaja alleinig dessen Finanzierung übernahm. Das Theater in Daugavpils im Südosten des Landes steht hingegen möglicherweise kurz vor der Schließung, denn die geplante Förderung sieht nur zwei neue Inszenierungen für die gesamte Saison vor, außerdem nur knapp zwei Vorstellungen jeden Monat. Begründet wird dies vor allem mit der schwachen künstlerischen Leistung. Die ist zwar objektiv ein Problem, doch das Theater vor unmögliche finanzielle Bedingungen zu stellen, anstatt es durch Investitionen aufzubauen, bedeutet einen weiteren Rückschritt und macht das Durchbrechen des Teufelskreises erst recht unwahrscheinlich.

Wieviel Theater braucht das Land?

Brauchen wir, ein Land mit nur etwa 2,3 Millionen Einwohnern, denn überhaupt ganze acht Repertoiretheater? Bei jeder neuen Kürzung stellt der eine oder andere Kulturpolitiker diese (rhetorische) Frage. Gleichzeitig mangelt es an wirklichen Diskussionen über strukturelle Änderungen oder alternative Modelle.

Das Theatersystem Lettlands basiert ähnlich wie das in Deutschland auf dem Repertoirebetrieb. Neben den Stadt- und Staatstheatern gibt es nur wenige freie Gruppen, die Projekt-weise finanziert werden. Die wenigen freien Theater, die über eigene Räumlichkeiten verfügen, versuchten bisher meist, das Modell Repertoire-Theater (im Kleinen) zu kopieren und konnten nur selten eine künstlerische Alternative bieten. Bis jetzt gibt es keine Spielstätte für unterschiedliche freie Gruppen, die eine Finanzierung für beispielsweise ein oder zwei Jahre bekäme.

Regie-Held Hermanis

Dies wäre aber nötig, um dem lettischen Theater zu einer größeren Vielfalt zu verhelfen. Angesichts der sehr kleinen und überschaubaren Theaterlandschaft, die für Künstler bis jetzt kaum Alternativen zur Arbeit an einem der acht Stadt- oder Staatstheater bietet, erscheinen Adjektive wie "vorhersehbar" und "konventionell" viel zu häufig auch in Bezug auf die künstlerischen Prozesse als angemessen.

Wer aus einer westlichen Theaterlandschaft nach Lettland zurückkehrt, dem fällt vor allem die immer noch vorherrschende Dominanz des psychologischen Theaters auf, das durch den langen Einfluss des russischen Theaters in Lettland zur bestimmenden Ästhetik geworden ist. In der Theaterarbeit Alvis Hermanis' hat diese Basis zu ihrer künstlerisch stärksten, souveränsten Form gefunden; seit Jahren ist er die führende Gestalt unter den lettischen Regisseuren.

Seelen-Forschung, nach innen gerichtet

Er und die Schauspieler des JRT beschäftigen sich auch in dieser Saison mit anthropologischer Letten-Forschung, wobei sie die Stücke aus eigenen Recherchen entwickeln. Vor über einem Jahr schrieb der Regisseur, dass sie während dieser "Forschungen" immer wieder feststellten, dass die Letten aufgrund einer gewissen Angst vor dem Fremden sonderbar stark nach innen gerichtet seien, ihre Seele erkundeten und dadurch die Fähigkeit zu einer sehr feinen und poetischen Weltbetrachtung entwickelt hätten.

Was Hermanis beschreibt, lässt sich auch über das lettische Theater sagen: Es ist generell sehr metaphorisch, in seiner Tonalität leiser als das deutsche Theater, selten sozial oder politisch ausgerichtet. In den besten Fällen wird die Metaphorik zu theatralischer Poesie, in den schlimmsten wird sie zur leeren Symbolsprache. Das JRT hat in den vergangenen Jahren ein konsequentes künstlerisches Profil entwickelt, das sein Publikum unter jungen Leuten, Studenten und der Intelligenz gefunden hat.

Unterhaltung ohne Experimente

Das zeigt auch, dass es in Zeiten des "Großmissgeschicks" nicht zwingend ist, konzeptuelle, künstlerische Kompromisse einzugehen, wie es die größeren Rigaer Theater tun, das Nationaltheater und das Künstlertheater. Beide haben größere Säle zu füllen, das bestehende Publikum zu halten, also keine künstlerischen Experimente einzugehen, sowie ein neues zu holen, das am leichtesten durch Unterhaltungsstücke zu erreichen ist.

Das Künstlertheater hat die Saison seit September ausschließlich mit Komödien bereichert. Das Nationaltheater laviert hingegen zwischen musikalischen oder klassisch einstudierten Stücken und sogar Konzertprogrammen auf der großen Bühne und ästhetisch sowie thematisch mutigeren Produktionen in der kleinen Spielstätte (etwa David Harrowers "Blackbird"). Dabei steht es zur Zeit allerdings vor dem Problem, dass das potentielle Publikum für diese experimentelleren Arbeiten das Theater wegen dessen Alle-bedienen-wollen-Repertoirepolitik bereits verlassen hat.

Alternatives Angebot im Entstehen

Durch die anstehenden krassen Spar-Entscheidungen wird der Spalt zwischen dem Kommerziellen und dem künstlerisch Anspruchsvollen immer breiter. Die Spaltung des Publikums zwischen unterschiedlichen Theatern ist deutlicher als je zuvor zu beobachten. Wo geht das Publikum hin, das das National- und Künstlertheater verlässt?

Mitten in den Diskussionen und der Suche nach Geld, während es kein lettisches Kampnagel oder HAU gibt, bilden sich in Riga gerade mehrere kleine Zentren um junge Schauspieler und Regisseure, die eine künstlerische Ausbildung erhalten haben, momentan aber angesichts der Situation in keinem der Repertoiretheater eine Stelle bekommen können. Ein solches formiert sich etwa in der Speicherstadt unter dem Namen Dirty Deal Teatro. Die Versuche sind noch neu und die langfristige Entwicklung ungewiss, doch ihre ersten interdisziplinären Aktivitäten deuten darauf hin, dass hier möglicherweise mit der Zeit ein "freies Theater" mit "alternativem Angebot" entstehen könnte.

 

Inga Fridrihsone
geboren 1984, studierte Theaterwissenschaft an der Ruhr Universität Bochum und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Lettlands sowie als freie Theaterkritikerin.

 

Mehr zum Theater in Osteuropa? Im nachtkritik-Archiv finden Sie nicht nur verschiedene Nachtkritiken zu Inszenierungen von Alvis Hermanis, sondern etwa auch vier Theaterbriefe aus Polen, über politisches Theaters nach den Wahlen im Herbst 2007 (1), die Position des Dramaturgen im polnischen Theater (2), Theater in der polnischen Provinz (3) und den Kampf ums neue Theater in Jelenia Góra (4).