Stephan Märki – Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle Weimar/Staatstheater Thüringen, Intendant

Welches war Ihr herausragendstes, schönstes, beeindruckendstes Theatererlebnis im Jahr 2009, am eigenen Haus oder an anderen Häusern? Und warum?

Den Superlativ, den ich mit meinen Theatererlebnissen 2009 verknüpfe, möchte ich partikularisieren; er verteilt sich auf mehrere Aufführungen und unterschiedliche ästhetische Ansätze. Sie haben aber gemeinsam, dass sie sich aus meiner Sicht durch einen unmittelbaren Zugang zu Theater und seinen Gegenständen auszeichnen und auf neue Formen hinweisen.

Jan Philipp Glogers Bühnenfassung und Inszenierung der Schnitzlerschen Traumnovelle in Mainz beweist, wie wichtig es ist, Theaterautoren mehr Vertrauensraum zur Verfügung zu stellen. Deshalb möchte ich auch die Veranstaltung der Berliner Festwochen Schleudergang Neue Dramatik als Kommunikationsplattform und Impulsgeber hervorheben. In Anknüpfung an den "Stückemarkt" könnten solche Veranstaltungen mehr als die Bildung 'neuer' Fördermodelle textlicher Produktionsgrundlagensicherung zur Folge haben.

Dafür ist auch das Projekt Studien zur deutschen Seele von Nora Schlocker und Tina Rahel Völcker am Deutschen Nationaltheater Weimar beispielhaft. Wenn dabei im scheinbar schon allzu Bekannten neue, Publikum und Kritik überzeugende Interpretationen gefunden werden, ist Theater am Punkt der Unmittelbarkeit. In Weimar sind in dieser Spielzeit mit Karsten Wiegands Rigoletto und Claudia Meyers Dreigroschenoper zwei weitere Stücke gelungen, die das geschafft haben: Beide bringen in ausdrucksstarken Bildern Klarheit zum Ausdruck, ohne an sinnlicher Spiel- und musikalischer Ausdruckskraft einzubüßen, und beiden gelingt es, Text und Musik in lebendige Bühnensprache umzusetzen.

Es gibt offenbar andere Möglichkeiten, auf Theatralität zu setzen, als die wieder um sich und zurück greifende Tendenz zum Naturalismus, die nicht die Suche nach gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit illusionistischer Wirklichkeitskonstruktion kompensieren. Das zeigt sich in allen hier erwähnten Arbeiten, für mich auch immer noch bei Schlingensief in toto. Deshalb noch die Erwähnung von Andreas Kriegenburgs Inszenierung des Prinz Friedrich von Homburg am Deutschen Theater Berlin: eine klare ästhetische Setzung gegen den Trend, mit allem Gewinn und allen Einbußen einer solch radikalen Bildsprache. Ad absurdum führt das natürlich die grandiose Inszenierung der Inszenierung von Wirklichkeit: Rimini Protokoll mit dem Besuch der Daimler-Chrysler-Hauptversammlung.

Doch das vielleicht Fulminanteste zum Schluss: Wie Theater und Wirklichkeit verdichtbar sind, hat Trust von Falk Richter und Anouk van Dijk in der Schaubühne gezeigt: In der Verbindung von Text und Choreographie transportiert es gesellschaftliche Schwingungen in eine zugleich analytische und sinnliche Theatralität – seismographische, fein ortbare Wirklichkeit, ohne Abbildung.

Was man in deutschsprachigen Theaterleitungen über das Jahr 2009 sonst noch denkt, sagen: Andreas Beck (Schauspielhaus Wien), Karin Beier (Schauspiel Köln), Thomas Bockelmann (Staatstheater Kassel), Amelie Deuflhard (Kampnagel Hamburg), Matthias Fontheim (Staatstheater Mainz), Elmar Goerden (Schauspielhaus Bochum), Markus Heinzelmann (Theaterhaus Jena), Jan Jochymski (Theater Magdeburg), Ulrich Khuon (Deutsches Theater Berlin), Sewan Latchinian (Neue Bühne Senftenberg), Julia Lochte (Münchner Kammerspiele), Enrico Lübbe (Theater Chemnitz), Joachim Lux (Thalia Theater Hamburg), Stephan Märki (Nationaltheater Weimar), Roland May (Theater Plauen-Zwickau), Barbara Mundel (Theater Freiburg), Amélie Niermeyer (Schauspielhaus Düsseldorf), Christoph Nix (Theater Konstanz), Elias Perrig (Theater Basel), Oliver Reese (Schauspiel Frankfurt), Friedrich Schirmer (Deutsches Schauspielhaus Hamburg), Holger Schultze (Theater Osnabrück), Wilfried Schulz (Staatsschauspiel Dresden), Kathrin Tiedemann (Forum Freies Theater Düsseldorf), Lars-Ole Walburg (Schauspiel Hannover), Barbara Weber (Theater Neumarkt Zürich), Hasko Weber (Staatstheater Stuttgart), Tobias Wellemeyer (Hans-Otto-Theater Potsdam), Kay Wuschek (Theater an der Parkaue Berlin).