Auch Seifenblasen hinterlassen Trümmer

von Ute Grundmann

Dresden, 30. Dezember 2009. Es ist ziemlich finster in Kötzschenbroda. Irgendwann hat Karl, Handelsreisender, hier mal die Liebe gefunden, doch die ist lange weg, und nun singt er nachts in der Bar von "der Bar nachts um halb drei". So wie er sind alle irgendwann, irgendwie hier hängengeblieben, in diesem düsteren Raum mit "Rezeption/Bar", einem kaputten Fahrstuhl, Staubsauger, Drehtür und Kanzlerinnen-Dekolleté-Bild. Über das regt sich hier allerdings niemand auf, weil alle mit sich selbst zu tun haben, und sei es, um zu beweisen, dass mit einem Lied auf den Lippen zwar vieles besser geht, aber längst nicht alles.

Franz Wittenbrink hat wieder einen seiner Liederabende kreiert, diesmal in einem Hotelfoyer, deshalb heißt er auch "Die Lobbyisten". Am Dresdner Staatsschauspiel, wo er seine Uraufführung erlebte, war auch schon Wittenbrinks aus Hannover importierte Revue "Denn alle Lust will Ewigkeit" zu sehen. "Die Lobbyisten", der zweite Wittenbrink in Wilfried Schulz' erstem Intendanten-Jahr, ist eigens für Dresden entstanden.

Wilhelm, Rosa, Adolf
Gleich nach dem ersten Lied, jenem vom "Hotel Kötzschenbroda", ist im Großen Haus die Stimmung bombig, und Wittenbrink lässt mächtig die Typen tanzen. Da ist Omi (die wunderbare Ursula Geyer-Hopfe), die mit Klopapierrolle in der Hand durch den Raum schwebt und zum Besten gibt, was in ihrem Leben musikalisch im Schwange war – egal, ob unter "Kaiser Wilhelm, Rosa Luxemburg, Adolf Hitler".

Durch die Drehtür rauscht die neureiche Russin Tatjana (Susanne Jansen) herein, was der hinterhergezerrte Minihund fast nicht überlebt. Gatte Michael (Hannes Hellmann), ein "Bisnissmann", verdrückt sich erst mal in die Ecke. Und als er mit einem seiner Geschäftsfreunde telefoniert, steht der – Überraschung! – in der Lobby hinter ihm. Es ist ein "Mann mit Kontakten", Lutz-Uwe (Ahmad Mesgarha), früher Leiter der Lebensmittelkoordination, heute beim Bauamt. Er singt davon, "dass die gute alte Oststruktur heute beste Westfigur macht".

Das ist von Wittenbrink, der ansonsten hemmungslos plündert: "Wie ein Stern" von Frank Schöbel passt hier ebenso  wie "Red Roses for a Blue Lady" von Sinatra. Xavier Naidoo, Rosenstolz und der "Möbel-Hübner-Marsch“ kommen auch unter, und selbst Mozarts "Zauberflöte" findet ein Plätzchen.

Im Bus nach Brasilien
Gesungen wird dabei zwar nicht ohne Luftholen, aber ohne Pause, gesprochene Zwischentexte braucht Wittenbrink nicht, um von Verlierern und Verlorenen, von Einsamkeit und DDR-Vergangenheit, von Wende-Tristesse ("auch Seifenblasen hinterlassen Trümmer") oder einfach nur Kleinstadt-Frust zu erzählen. Mit den eigentlichen "Lobbyisten", den Politiker-Flüsterern, hat das Stück dabei nichts zu tun, es ist so politisch wie ein Silvesterkracher.

Das alles passt bei Wittenbrink in zwei Stunden, soll aber bitte nicht wehtun, nicht tief gehen, lieber schnell das nächste Lied. Das exzellente Dresdner Ensemble bedient diese Wittenbrink-Mischung dabei perfekt: Hotelbesitzerin Renate (Helga Werner) schickt Lutz-Uwe, der scharf auf ihr Hotel ist, ein inbrünstiges "Er war schon immer ein Schwein" hinterher; Punk-Töchterchen Sandra (Mila Dargies) reimt aus lauter Rauswollen-Sehnsucht "Brasil" auf "Kiel", leider aber fährt der Bus nach Brasilien nur montags und mittwochs.

Angela und Erich
Nur der fernsehbekannte Hannes Hellmann bleibt als "Bisnissmann" und Gast im Ensemble doch ziemlich blass. Und wenn er bei der kleinen Combo flott ein Lied bestellt, sich dann aber in den Hexenschuss tanzt, ist man bei jenen Gags, die Regisseur Wittenbrink leider nicht lassen konnte. Da ist der Holzhammer nicht sprichwörtlich, sondern wird größer, je widerspenstiger das lockere Brett in der Wand ist.

Und natürlich fällt mehr als einmal jemand in den Fahrstuhlschacht, gibt's die Klamotte um zuviele Koffer für den schmalen Hotelpagen. Ebenso erwartbar fällt Angela Merkel aus dem Bilderrahmen, dahinter wartet Honecker; im zweiten Gag-Anlauf dann noch Stalin. Und es kommt  immer die nächste Musiknummer: Da rocken Tatjana und Sandra ("enough is enough") gegen die Männer, Omi bringt noch mal ihr Liedgut vorbei, vier, fünf mögliche Schlüsse gehen vorüber, bis das Schluss-Potpourri von "Über sieben Brücken" bis zu "The Winner takes it all" gespannt wird.

Im langen Schluss-Applaus strahlte Wittenbrink, der als Regisseur und am Klavier den Ton angab, am meisten.


Die Lobbyisten (UA)
Ein musikalischer Abend im Hotel von Franz Wittenbrink
Regie und musikalische Leitung: Franz Wittenbrink, Bühne: Philipp Nicolai, Kostüme: Nini von Selzam, Dramaturgie: Robert Koall.
Mit: Helga Werner, Mila Dargies, Ursula Geyer-Hopfe, Eike Weinreich, Benjamin Höppner, Matthias Luckey, Hannes Hellmann, Susanne Jansen, Ahmad Mesgarha.

www.staatsschauspiel-dresden.de


Mehr zu Franz Wittenbrink im nachtkritik-Archiv: Zuletzt sahen wir So leben wir und nehmen Abschied im April 2009 am Wiener Burgtheater.

 

Kritikenrundschau

Valeria Heintges - in der Sächsischen Zeitung (2.1.2010) - hat viel Spaß gehabt. An dem immer größer werdenden Hammer von Elke Weinreichs Hotelpagen Kevin, über die musikalischen Wale, die im Dresdner Schauspiel gestrandet sind, über Omi Haussmann "hinreißend verkörpert von Ursula Geyer-Hopfe", über Sandra, "höchst pubertär und größtmöglich gelangweilt - eine Mischung, die Mila Dargies perfekt in ihrem Spiel vereint". Über Tatjana, die von Susanne Jansen gespielte, "heißblütige" Gattin von "Bisnissmann" Hannes Hellmann, bei der "die Luft brennt". Auch die übrigen fünf Schauspieler Helga Werner, Benjamin Höppner, Ahmad Mesghara, Lutz-Uwe Kleinert und  Matthias Luckey gefallen und alle zusammen liefern "eine Story zum Lachen, Schauen und Wiedererkennen". Das Publikum, schreibt Heintges, applaudierte "begeistert und erfreut sich an durchweg überzeugenden Spiel- und Sangesleistungen".

Boris Michael Gruhl - in den Dresdner Neuesten Nachrichten (2.1.) – hat ein "Nachtasyl für Übriggebliebene, Hinzugekommende und Durchreisende" auf der Bühne gesehen, für "Menschen, die alle etwas verloren haben". Der Gesang dieser Gesellschaft sei "entwaffned grandios", die "Methode Wittenbrink" uns mit dem "zu überraschen, was wir kennen", funktioniere wieder einmal. Ein "wunderbar unterhaltender Abend", "absurd und fragil", ohne "Scheu vor dem Kalauer und der Klamotte. Viel Spaß am schrillen Übermut" …

Auf Welt Online befindet Reinhard Wengierek (4.1.2010) "in diesen Leuten in der lädierten Hotel-Lobby oben auf der Dresdner Schauspielhausbühne" stecke "allemal ein Stück von uns unten im Parkett." Das Schönste sei: "Sie quatschen kaum, schweigen vielsagend und singen unentwegt." Die neun "tollen" Schauspieler, Wittenbrink und seine "Alleskönner-Band" machten aus dem Abend "große Oper, die den Erregungen nebenan bei Sempers in nichts nachsteht". Da "schmachten, gurren und gellen total normale, ziemlich irre oder irritierend liebreizende Auf- und Abstürzler", "Zeit- und Nichtgenossen", so Wengierek ganz seelig weiter, taumelten vorüber "voller Herzschmerz und Kopfwut" - "allsamt Dresdner Allerweltsleute". Mit dieser Produktion sei die neue Intendanz "unverrückbar angekommen im Zentrum der Stadt - etwa in der Mitte zwischen Schlossaufbau und Infineon-Kahlschlag". Die Langeweile von zuvor sei beendet, das Zuschauerinteresse steige.

 

 

 

Kommentare  
Wittenbrink in Dresden: dünn, insgesamt aber ganz nett
Saß gestern selbst im Publikum und kann die Kritik nicht vollends teilen: Die musikalischen Darbietungen waren durchaus ansehnlich und oft gelungen, insbesondere die "Ouvertüre" in der sich das weltbekannte "Hotel California" in das provinzielle "Hotel Kötzschenbroda" transformiert, ließ viel vom leichten und dennoch scharfsinnigen Witz erahnen, der so manches mal das Stück beleben sollte. Die skurrilen, bewusst überzeichneten Figuren sind nur teilweise gut gelungen; maßgeblich aus meiner Sicht positiv hervorzuheben sind hierbei der von suizidaler Sehnsucht erfasste Hans-Magnus (M. Luckey) und der "Mann mit Kontakten" (A. Mesgarha), die mit Überzeugung und Authentizität dargestellt wurden. Weiterhin bemerkenswert spielt Neuzugang Mila Dargies, die vor allem musikalisch und mit ihrer Körpersprache theatralisches Talent in mehrfacher Hinsicht beweist. Dagegen fiel das restliche Ensemble regelrecht ab, am schwächsten besetzt war dabei der Page, der mit den Musikstücken "Arbeit nervt" und "This Is A Man's World" leider deutlich überfordert war. Inhaltlich stellt sich die Frage: Wenn Franz Wittenbrink den Anspruch eines unpolitischen Stückes gehabt hat, wozu dann die nichts sagenden Anspielungen auf DDR-Vergangenheit, Intrigen und politische Kungeleien zwischen ehemaligen Kombinatsvorsitzenden und heutigen Baubeamten, zwischen Ansprachen von früher (an die Pioniere) und heutigen Politikerreden? Quintessenz: Diktaturen kommen und gehen (s. Bilderrahmen), die Menschen bleiben (s. Hotelgäste)? Das ist nicht neu und wenig erhellend, dann soll Herr Wittenbrink gleichermaßen auch seine eigene Biographie nicht außen vor lassen. Nebenbei fiel wieder einmal deutlich auf: das moderne Theater kommt anscheinend ebenso wenig ohne vulgäre Texte und Darstellungen aus, zum Glück musste sich diesmal keiner ausziehen. Das ist kein individuelles Problem von Herrn Wittenbrink, sondern vieler Inszenierungen in Dresden und anderen Theatern der Republik - wenn einem Regisseur nichts mehr einfällt, müssen sich die Akteure nur Begrifflichkeiten wie "ficken" oder "Schwanz" auf der Zunge zergehen lassen oder den Koitus praktizieren. Nicht dass mich das moralisch erschüttern würde - GOTT BEWAHRE - es ist nur so schrecklich langweilig und albern...
Als musikalischer Abend aber insgesamt ganz nett, für das Staatsschauspiel Dresden nach meinem Gusto zu dünn...
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