Und alle sind einsam und gehen fremd

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 13. Januar 2010. Es sollen in Stuttgart 150.000 Singles leben. Bei einer Einwohnerzahl von gut 600.000 eine ganze Menge. Dabei müssten wir doch, wenn es nach Platons Kugelmenschen-Mythos geht, nur nach dem einen streben: Unsere zweite Hälfte (wieder-)zufinden, die irgendwo auf dieser Welt genauso verzweifelt suchend herumirrt wie wir selbst. Wenn man sich die Statistik anschaut, darf man dieses Unterfangen als recht ineffektiv bezeichnen.

Der schöne Mythos von den Kugelmenschen, deren vierfüßige, doppelköpfige Existenz die Götter einst durch Teilung zerstörten, gab den Vorspann zu einem kurzweiligen Abend des Staatsschauspiels Stuttgart, der sich im Stuttgarter Kammertheater einem zeitlosen Dauerthema widmete: der Frage nach der Unvereinbarkeit von wahrer Liebe und Sexualität.

Für ihr Stück "Dürfen die das?" – betitelt nach einer Zeile aus dem Ärzte-Song "Meine Freunde" – hatten sich Regisseurin Corinna Preisberg und ihr Dramaturg Christian Holtzhauer von Arthur Schnitzlers Prinzip des "Reigen" inspirieren lassen und darin Geschichten verflochten, die ihnen Menschen aus Stuttgart im Interview verraten hatten. Geschichten über ungelebte Liebe, über gelebte Sexualität und die Unmöglichkeit, in der Ehe beides zu finden.

Jeder kann finden, was er nötig hat

Der "gut gestellte" Angestellte (Reinhold Ohngemach) geht zur Domina (Nadja Stübiger), weil er dort seine sozialen Rollen ablegen kann. Seine Gattin (Marietta Meguid) treibt es mit einem homosexuellen Studenten (Jan Krauter), der mal wissen will, wie "es" so ist mit Frauen. Sein Geliebter (Bijan Zamani) ist glücklich, eine Frau mit Kind zu heiraten ("Ich bin nicht schwul. Familie ist doch auch wichtig."). Seine Frau ist am Ende die Domina. Da schließt sich der kurze Reigen.

In der schillernden Welt der unterschiedlichsten sexuellen Praktiken, in der jeder finden kann, was er nötig hat, bleibt die Liebe eine Utopie, ist mit Sexualität unvereinbar. Die Liebe, welche die Nähe, die Harmonie, das Einssein mit dem anderen sucht, steht sogar konträr zur Sexualität, "die vom Fremdsein, von der Spannung lebt", so heißt es im Stück. Sexualität und wahre Liebe schließen sich aus. Und alle sind sehr einsam und gehen fremd.

"Dürfen die das?" ist der erste Teil einer Trilogie, in der sich drei junge Regisseure und Regisseurinnen unter dem Motto "Stäffele to heaven" Gedanken machen über die Liebe in Stuttgart. Stäffele nennt man die gut 400 Treppenanlagen, auf denen Fußgänger die Hügel in und um Stuttgart erklimmen können. Entsprechend besteht das Bühnenbild von Hannes Hartmann, das allen drei Inszenierungen zugrundeliegen wird, aus einem hohen Metallgerüst, dessen drei Ebenen durch Treppen miteinander verbunden werden. Auf dem lässt sich herrlich herumklettern.

Soziale Stufen spielen kaum eine Rolle

Auch wenn "Dürfen die das?" wenig von dem versprochenen Lokalbezug aufweist, der sich in ein paar "schwädscht, bischt, machscht" erschöpft, und deshalb auch überall anders in Deutschland spielen könnte. Auch wenn die sozialen Unterschiede, die in Schnitzlers "Reigen" eine so große Rolle spielen, weil sie verschwinden unter der Gewalt des Sexus, an diesem Abend eher Nebensache sind und die Typen "gut situierte Hausfrau", "Student", "Angestellter" und "Domina" einen begrenzten und eher langweiligen Querschnitt unserer Gesellschaft präsentieren. Auch wenn "der empirische Teil des Abends", in dem Fragebögen zum Thema Liebe im Publikum verteilt und später vom Ensemble "ausgewertet" werden, die Dramaturgie zum Erschlaffen bringt.

Insgesamt ist der Abend doch sehr anregend und unterhaltsam. Vor allem wegen seiner vielen skurrilen Einlagen und des mitreißend agierenden Ensembles: Witzig, auf welch sportlich-akrobatische Weise hier die Geschlechtsakte angedeutet werden. Wunderbar auch die abgefahrene Country-Version des Sonny-and-Cher-Hits "Bang bang, my Baby shot me down" oder der schmierige Cowboy-Tanz der beiden Macho-Schwulen. Und herrlich der an der E-Gitarre sensibel agierende Alexander Mahr, der dem Abend mit sanften und rockigen Klängen musikalische Erdung gibt.

 

Stäffele to heaven I: Dürfen die das?
Eine szenische Collage von Corinna Preisberg und Christian Holtzhauer auf der Grundlage von Arthur Schnitzlers "Reigen" und Interviews mit Menschen aus Stuttgart
Regie: Corinna Preisberg, Bühne: Hannes Hartmann, Kostüme: Gesine Pitzer, Dramaturgie: Christian Holtzhauer, Musik: Alexander Mahr.
Mit: Jan Krauter, Marietta Meguid, Reinhold Ohngemach, Nadja Stübiger, Bijan Zamani, Alexander Mahr.

www.staatstheater-stuttgart.de

 

Einen echten Reigen von Arthur Schnitzler besprach nachtkritik.de zum Beispiel im März 2007, und zwar von Michael Thalheimer in Hamburg inszeniert.

 

Kritikenrundschau

Adrienne Braun schreibt in der Stuttgarter Zeitung (15.1.): "Dürfen die das" verorte sich "mitten in Stuttgart im Jahre 2010, mit Rössle auf dem T-Shirt, süßen Wibele aus der Tüte und Fernsehturm im Popo". Man könne "geteilter Meinung" sein, ob das eine "kämpferische Rückbesinnung auf die lokale Identität" sei - oder "schlicht provinziell". Das "muntere Schauspielerteam" beginne mit dem halbierten Menschen von Platon. Doch wer glaube überhaupt noch an die große Liebe, die göttliche Fügung? Wer "einfältig genug" sei, werde in den kommenden 65 Minuten eines Besseren belehrt. Die kurzen Szenen seien "munter vorgetragen und um Witz bemüht", doch die Texte seien "banal". Die Medien leuchteten heute die Abgründe der Gesellschaft ständig und grell aus, "Dürfen die das?" reproduzieren dagegen nur "abgedroschene Gemeinplätze". Eigentlich "will man - wenigstens im Theater - erst wieder etwas von Sex hören", wenn jemand mehr zu sagen habe als "Sexualität lebt von Spannung" oder "es gibt hunderttausend Gründe fremdzugehen".

 

 

 

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