Ausgestöpselt

von Christian Rakow

Berlin, 14. Januar 2010. Man kennt das Phänomen aus Action-Trilogien. "Matrix" zum Beispiel. Da gib es eine große erste Erzählung, die eine Welt schöpft, Formen definiert, einen eigenen "kultigen" Stil kreiert und so unmittelbar gemeindebildend wirkt. Diesem Originalwerk folgen dann zwei kassenfüllende, aber gedanklich kaum mehr tragfähige Teile, in denen endlose Actionsequenzen ein knorriges Erzählgerippe zukleistern.

Patrick Wengenroth, der Morpheus des hyperselbstreflexiven Poptheaters, weiß selbstredend um diese Gefahr der Serie und hat also den Abschluss seiner Schaubühnen-Theorie nach Schiller von vornherein auf Raumschiffbruch angelegt: "Scheitern ist heute Abend Programm." Genützt hat es ihm nur bedingt.

Zum Davonlaufen

Auch in seinem  Finale feiert sich die Manier, wobei die Action im Gewand von Schlagern, Kalauern und Comedykrachern auftritt. War der erste Teil von Wengenroths Schiller-Reihe noch eine hintersinnige Satire auf Daniel Kehlmanns Werktreuemanifest; ließ sich der zweite Teil – vielleicht unter dem Mikroskop, aber immerhin – als Emanzipationstheater wider das Diktat des Eros auffassen, so halten wir nunmehr die losen Drähte einer abgeschalteten Denkmaschine in den Händen.

Eingestöpselt sind nur noch die Gitarren, das Keyboard von Matze Kloppe und der Slapstickgenerator. Nico Selbach gibt ein paar markige Schiller-Passagen über die Stabilität der Theatertugenden zum Besten, kracht danach ausgiebig auf einem kaputten Stuhl zusammen und singt anschließend Silbermond: "Gib mir’n kleines bisschen Sicherheit." So geht das hier. Die Aufführungskritik erledigt Wengenroths Komödiantentrupp gleich mit. Stolz verweisen sie auf eine Bewertung, die ihr zweiter Teil im Berliner Stadtmagazin zitty erhalten hat: "Zum Davonlaufen".

Nicht, dass man es falsch versteht. Ein mittelprächtiger Wengenroth-Abend wie dieser hat allemal noch Witz, aber eben auch wenig mehr. Es gibt starke Momente: Ernst Stötzner erscheint als tapsiger Kartonritter vor Johanna von Orleans; Carola Regnier gibt Schillers "Teilung der Erde" leise und tief; Niels Bormann darf seinen Daniel Kehlmann noch einmal durch den Kakao ziehen (bockig, im Pokemon-T-Shirt). Doch im Ganzen bleibt es eine unverbindliche, selbstironische Revue.

Der Engel der Geschichte

Mit einer Ausnahme. Da zitiert Carola Regnier mit festem Pathos den Nachruf für Jürgen Gosch, den der Feuilletonchef des Berliner Tagesspiegels Rüdiger Schaper jüngst verfasste: "Ein Engel geht durch den Raum". Es ist auch ein Manifest gegen das Theater der kleinen Formate, wie es Wengenroth pflegt. Dessen Antwort folgt, indem Ernst Stötzner, der große Gosch-Schauspieler, Walter Benjamins "Engel der Geschichte" bemüht: Jede Generation häufe ihre eigenen Trümmer. Und unerfüllbar bleibe der Wunsch, zum verlorenen Ursprung zurückzukehren – sei es der Ursprung des Theaters, des Textes oder eben der Schillerschen Gesellschafts- und Schaubühnentheorie.

O tempora, o mores – nichts da! Jede neue Kunst biegt sich ihre Tradition zurecht, an den Vätern und Müttern vorbei, vielleicht auch an den Kritikern. In etwa so hatte es schon der erste Schiller-Abend von Wengenroth geschildert. Aber auch das ist so ein Gesetz der Serie. Am Schluss hallt stets die Weisheit des Piloten nach.

 

Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?
Ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben.
Von Patrick Wengenroth nach Friedrich Schiller
Realisation: Patrick Wengenroth, Bühne: Mascha Mazur, Kostüme: Katharina Jockwer; Musik: Matze Kloppe; Choreographie: Anne Retzlaff.
Mit: Niels Bormann, Franz Hartwig, Ulrich Hoppe, Carola Regnier, Anne Retzlaff, David Ruland, Nico Selbach, Ernst Stötzner, Tilman Strauß, Patrick Wengenroth und Matze Kloppe (Musik).

www.schaubuehne.de

 

Mehr zu Patrick Wengenroth und seine andern beiden Schiller-Abende in der Schlaubühne? Sie finden Informationen und links in unserem Glossar, namlich genau hier.

 

Kritikenrundschau

"Über Theater zu reden, seine Macht oder Ohnmacht, sein Müssen, Sollen oder Dürfen, ist selbst immer großes Theater", schreibt Doris Meierhenrich (Berliner Zeitung, 16.1.). Ob es aber "groß ist oder klein, nebulös oder wahrhaftig, denkoffen oder engstirnig, ernst oder lächerlich, hängt vor allem davon ab, wie es selbst verstanden wird". Es sei eben schon immer "Spiegel" im Schiller'schen Sinne, und im besten Fall weite er Verstand und Herz; im schlechtesten drücke er Stempel auf. Gemessen daran sei dieser Abend "ziemlich großes Theater. Denn diese Aufführung denkt, spricht und spielt all die Möglichkeiten und Gefahren zusammen durch. Mehr noch als ein Spiegel fungiert sie darin als eine spiegelnde Lichtorgel, die das Bild, das sie aufnimmt, in sprühende Farben verwandelt." Kreis um Kreis "erweitern Wengenroth und die zehn Schauspieler den Blick, indem sie Schillers Text durch verschiedenste Spielformen drehen: Lesung, Tragödie, Rührstück, Satire, Popkonzert. Dabei gelingt Seltsames, nämlich den Text geradezu text-treu gegen den Strich zu bürsten".

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