"Wo zur Hölle bin ich?"

von Johanna Lemke

Leipzig, 16. Januar 2010. "Sophie Rois ist Medea", so prangte es tage-, wochenlang in großen pinken Lettern auf weißem Grund in der ganzen Stadt. Und das sind schon mal zwei Superlative, die Leipzig nur gut tun können: Das Donnerdrummelweib des deutschen Theaters spielt die femina non grata des europäischen Dramas.

Überregionale Stars sind in Leipzig selten zu sehen, Leipzig, das bekannt dafür ist, dass an seinem Theater fantastische Schauspieler geboren werden, die dann an die "bedeutenderen" Häuser abwandern. Immerhin: Intendant Sebastian Hartmann gelingt es, "die Großen" als Gäste ans Haus zu holen. Diesmal also Sophie Rois. Da kann die Regie dann auch gern mal von einem Theater-Neuling übernommen werden, Clemens Schönborn, einem jungen Filmregisseur. Und der lässt vor allem Sophie Rois machen, er kreiert eine Inszenierung, die sich mit ihrer Hauptdarstellerin entwickelt, ja, die aus dieser besteht.

Liebe, Blut und Ironie

Die textliche Bearbeitung des Regisseurs nach Euripides zeigt auch die Elemente, die im Original nur berichtet werden. Die Begegnung Medeas mit Jason zum Beispiel wird die ein filmischer Prolog in 20 Minuten zusammen gefasst, abgetrennt durch eine Einblendung "Ende erster Teil". Hier in Kolchis verfügt Medea schon über das, was wir nun eineinhalb Stunden von ihr sehen werden: Einen unerschütterlichen Anspruch auf Anerkennung. Sie ist enorm eigenmächtig, lässt sich nichts nehmen, weil sie – schließlich ist sie eine Prinzessin und die Nachfahrin des Sonnengottes – ihre Stellung kennt. "Ruhm? Was bringt mir das am Arsch der Welt?", schreit sie schon zu Beginn, mit einem riesengroßen Schwert in dem kleinen Händchen.

Als dann der gefangene Jason auf der leeren, sandfarbenen Bühne in einem Netz vor ihr baumelt, ein schmächtiges Kerlchen, das vor Angst kreischt und wimmert, folgt sie einfach dem, was sie für richtig hält: den Feind zu retten, aus reiner, hoffnungslos naiver Liebe. Auch, wenn das bedeutet, dass sie dafür ihre halbe Familie niedermeucheln muss. Blut schwappt eimerweise über die Bühne. Medeas Weg ist vorgezeichnet, das vermittelt auch die Filmmusik, die in endlosen Loops Anfang, Mitte und Ende markiert.

Die Inszenierung trennt Medea von allem ehelichen Kleinkrieg, sie entschlackt das Stück von der Eifersuchtsthematik und dem Diskurs der betrogenen Ehefrau. Clemens Schönborn vermeidet eine aktuell-gesellschaftskritische Übertragung, in der Medea gern als Folie für allerlei fehlgeleitete weibliche Leidenschaft genutzt wird. Einerseits gelingt das mit dem einfachen Mittel der ironischen Vergröberung, andererseits durch kluges Umgehen von Klischees. Medea lauscht Jason (Wolfgang Maria Bauer), als der ihr später versucht zu verklickern, dass sie sich im Palast anzupassen habe, ihr aufrührerisches Wesen sei nicht erwünscht, "Wir sind hier nicht bei den Wilden", sagt er, und Medea schaut verwundert, wie nur eine Sophie Rois verwundert schauen kann. Demonstrativ, gänzlich unverständig. Sie sagt schließlich: "Wo zur Hölle bin ich?" – und zieht damit alles vorher Gesagte ins absolut Lächerliche.

Was der Lauf der Dinge erfordert

Medeas Tat zu rechtfertigen ist ein wiederkehrendes Moment der Rezeptionsgeschichte. Im Centraltheater wird sie zur Täterin, deren Emotionalität in den Hintergrund rückt. Als ihr der junge Jason (David Kosel) im Traum wieder begegnet, zertrümmert sie mit dem Hackebeil diese ach so schmerzhafte Erinnerung.

Eine Medea im Krieg gegen die Leidenschaft – das soll aus ihr eine politische Figur machen – und macht sie dadurch am Ende etwas schmal. Sophie Rois’ analytische Diskurse, die sie volksbühnengleich proklamiert, ihre unnachahmliche Fähigkeit, alles durch Wiederholung oder Karikatur lächerlich zu machen, das ist das Machtinstrument der Medea. Sie selbst ist wichtig, das ist ihre erste und entscheidende Kategorie, alle folgenden Taten sind folgerichtige Resultate daraus. "Wenn man jemanden umbringen will, dann kann man auch. Man kann jeden umbringen", so konstatiert Medea, nachdem ihre Amme (Ellen Hellwig) versucht hat, ihr den Mord an ihren Kindern auszureden.

Am Ende ist der Figur jede Tragik genommen. Und die Tragödie wurde gründlich von Klischees sauber gekehrt. Leider bisweilen auch von Tiefe. Die anderen Figuren verblassen etwas; gern hätte man mehr von dem phlegmatisch-biederen Jason gesehen, vom starren Kreon. Das Töten der Kinder wird in der karikierenden Überspitzung fast zur Nebensache. Im Perpetuum der Filmmusik sitzt Medea am Ende auf ihrem Bett und hat nichts anderes getan als das, was der logische Lauf der Dinge erfordert hat.

 

Medea
nach Euripides, Bearbeitung von Clemens Schönborn
Regie: Clemens Schönborn, Bühne: Thomas Schuster, Kostüme: Nina Kroschinske, Choreinstudierung: Christine Groß, Licht: Jan Bregenzer,Dramaturgie: Michael Billenkamp. Mit: Wolfgang Maria Bauer, Natalia Belitski, Paula Hans, Josephine Heide, Ellen Hellwig, Lisa Jopt, Dorothée Kahler, Andreas Keller, David Kosel, Sophie Rois, Claudius Günther, Lukas Zoberbier / Niklas Groh, Lukas Habicht.

www.centraltheater-leipzig.de


Mehr zu Sophie Rois: im September 2009 eröffnete sie mit Gute Nacht, du falsche Welt von Gero Troike die Spielzeit im Prater der Volksbühne. In Berlin und Wien spielte sie bei René Pollesch: in Ein Chor irrt sich gewaltig und in Fantasma. Sie war Zofe in Luc Bondys Inszenierung von Jean Genets Die Zofen, das letzte Mal in der Regie von Frank Castorf spielte sie im Februar 2008 in Fuck off, Amerika in der Volksbühne zu Berlin.

 

Kritikenrundschau

Das Gemetzel unter den Ihrigen habe diese Medea "nicht aus Liebe, sondern aus Berechnung" angerichtet, schreibt Frank Quilitzsch in der Thüringischen Landeszeitung (17.1.2010), "weil sie sich nach Ruhm und Ehre sehnt". Sie sei bei Clemens Schönborn in Leipzig also "nicht die gekränkte Ehefrau, nicht die in den Wahnsinn getriebene wehrlose Fremde. Sie ist nicht Opfer, sondern Täterin". Dabei sei "die ganze Inszenierung auf die Protagonistin zugeschnitten". Es scheint Quilitzsch, als habe Regisseur Clemens Schönborn in seine Textfassung genau jene Sätze hineingeschrieben, "die Sophie Rois sagen möchte". Das Ergebnis findet er "sehenswert, denn es strotzt vor Ironie und entschlackt den Mythos bis auf seinen triebhaften, die Geschichte der Herrscherhäuser treibenden Kern". Schade nur, dass im Verlauf "die Szenen zerfasern und das komprimiert Bildhafte des filmisch stilisierten ersten Teils (...) aufgegeben wird zugunsten einer slapstickhaften, heiter-argumentativen Spielweise". "Pfeif auf die Moral!", ist laut Quilitzsch die Message, "die Sympathien gehören dem Monster Medea". Rois' "abendfüllendes Solo" habe "im Grunde keiner weiteren Figur bedurft", "ihre Stimme und körperliche Präsenz dominiert alle".

Rois und Schönborn gingen "rotzig-ironisch mit dem Stoff um", was Nina May von der Leipziger Volkszeitung (18.1.2010) "sehr unterhaltsam" findet. Sie befreiten die Medea-Gestalt dabei aus den "ihr (...) zugeschriebenen Zwängen ihrer Biologie" und den Mythos "von all dem apologetischen Schmus früherer Interpretationen, der ebenso schwer zu ertragen ist wie das ständige Gejammer der Medea beim Euripides". Rois' Medea pfeife "auf die Moral – und das ist unheimlich erfrischend". "Den Kitsch herkömmlicher Interpretationen, die Medea auf das Ehestreit-Thema reduzieren", entlarve Schönborn, indem er Jason zweifach besetze (erst "liebestrunkener, hilfloser Jüngling", später "kaltes Muskelpaket") und mit dem "Ende"-Schriftzug auf der Leinwand kurz nach der Eheschließung auch das "Hollywood-Happy-End (...) auf so einfache, so herrlich freche Weise" desavouriere. Hier gehe es "nicht um gebrochene Herzen, sondern um gebrochene Verträge: Medea hilft Jason nicht aus Liebe, sondern weil er ihr sein Königreich verspricht". Entsprechend sei die Gewalt hier "Kalkül, keine emotionale Handlung". Dazu schaffe das Team "mit Licht und theatralen Bildern eine sich perfekt an den mythischen Stoff anschmiegende Traum-Atmosphäre, der die Monströsität weniger grausam erscheinen lässt". Die Konstruktion des Abends zeige außerdem "Parallelen" zu den Stücken von René Pollesch.

Ralph Gambihler schreibt in der Chemnitzer Freien Presse (19.1.2010): Medeas "Blutspur" sei zweieinhalb Jahrtausende lang. Wer das Stück heute inszeniere habe darüber nachzudenken, "ob er der Figur einen Opfer- oder Täterstatus" zubillige "oder beides". Sophie Rois allerdings "springteufelt" aus allen "Figurenklischees", sie spiele "eine bestialisch-komische und ziemlich selbstherrliche Furie". Schönborn zeige das Bild eines "flammenden, archaisch-egozentrischen Menschen", dessen Moral im "eigenen Status gründet, in einer Art Naturrecht der Sonnengott-Enkelin auf Ruhm und Ehre". Das werde in 90 Minuten mit "Ironie und groteskem Humor verabreicht. Lachen mit Medea? Tatsächlich!" Eine "sprühende Sophie-Rois-Show. Die Hexe und die Kratzbürste, die Diva und die Schnarre, die Heroine und die Hysterikerin". Die restlichen Figuren schrumpften "beinahe zu Anlässen für das Zentralweib, in Aktion zu treten".

"Erzählt wird ohne viel Federlesen", berichtet Christian Rakow (taz, 19.1.2010), und zwar "nach Art des Treckerfahrer-Witzes: Wo sind deine Eltern und Geschwister? – Vom Trecker überfahren! – Oh, und was machst du den ganzen Tag? – Trecker fahren!" Und "Sophie Rois rennt nach links: "Jason, hier für dich, mein Vater!"; Rois rennt nach rechts: "Hier, meine Mutter!" Dazwischen schwappt das Kunstblut." Der Chor, "der beständig das biedere Mittelmaß preist", solle dabei "lediglich den Hintergrund grundieren. Die großen Farbtupfer setzt Rois." Es sei "der Irrtum dieser Inszenierung, dass sie nicht konsequent als Solo eingerichtet wurde". Und "Clemens Schönborn, Lebensgefährte von Sophie Rois, hat sich offensichtlich wie jeder hier eine dienende Rolle zugedacht". Als Filmregisseur habe er einen "Blick für schrullige Charaktere. Auf der Bühne fehlen ihm gänzlich die Mittel der Ensembleführung". Hingestellt wie Pappkameraden seien die Figuren. Die Leipziger Schauspieler "hat man noch nie so kraftlos gesehen. Nichts gegen Gastauftritte, aber wenn demnächst Sophie Rois wieder nach Leipzig gelotst wird, dann bitte in einer Regie, die allseitig fordert".

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