Der, den das Morden ekelt

von Andreas Wilink

Köln, 16. Januar 2010. Wie auf einem Trainingsfeld verteilen sich die vier Frauen und vier Männer – weniger als ein Drittel des von Büchner vorgesehenen Personals, nicht gerechnet Volk, Deputierte und Grisetten. "Haben Sie Fragen?", wendet sich eine Darstellerin ans Publikum, zunächst auf Englisch, um nur ja Abstand zum identifikatorischen Theater zu halten, und so, als stünde eine Lektion Büchner an. Unterricht in praktischer und theoretischer Revolutionskunde.

Die Acht machen sich locker, laufen sich warm, queren die Kölner Schauspielhaus-Bühne, die mit weißer Ballonseide und schwarzem Vorhangstoff ausgeschlagen wurde wie für ein pompe funèbre. Oder wie bei einer Aktion von Christo: Verhüllen, um etwas durchsichtig zu machen.

Traumwandeln durchs Schreckensleben

Laurent Chétouanes Theater kann man in seinen besten Momenten beim Denken zuschauen. Gerade deshalb ist es ihm um Leichtigkeit und Transparenz zu tun. Wer die Text-Analysen und Bühnen-Liturgien des in Berlin lebenden Franzosen (Jahrgang 1973) kennt, weiß, dass ihn kein lukullisch narratives Theater erwartet. Vielmehr das Konzentrat eines Stücks. Der Regie-Ingenieur bleibt fasziniert von Konstruktionen, Proportionen, Ab- und Ausmessungen. Bereit sein ist alles.

Aber das aus Schauspielern und Tänzerinnen bestehende Ensemble scheint sich diesmal nicht sicher zu sein, wofür. Befangen wie in Selbstüberprüfung, strecken sie die Arme wie Wegweiser aus, tasten, schlackern sich aus, greifen nach dem Nächsten, kuscheln sich aneinander, ohne eine rechte Position zu finden. Also stehen sie wieder da, tänzeln und traumwandeln durch ihr Schreckensleben bis zur Guillotine, die an der Rampe aufragt und deren schräges Messer die zwei pausenlosen Spielstunden mit einem Schlag beenden wird.

Dass Politik ein Angebot macht, um Sprachlosigkeit und Handlungsarmut zu überwinden, wäre eine schöne Moral. Politiker reden gern von ihrem Gestaltungsspielraum, den sie entweder nicht haben oder ausschöpfen wollen. Georges Danton, wie sein Namensvetter, der 21-jährige Dr. Georg Büchner, ihn erfasst und wie sein französischer Landsmann Chétouane ihn betrachtet, kann so wenig wie – und eher noch weniger als – seine Umgebung an diese Vorstellung glauben.

Unerhörte Sprache, protestierende Körper

Retter des Vaterlandes, einst Leib und Seele der Revolution, der, was sein Antipode Laster nennt, für allzumenschlich hält, der der Sinnenlust und lieber noch der Ruhe frönt, und den das Morden ekelt, dieser Danton fasst seinen Geschichtsfatalismus und Determinismus so zusammen: "Puppen sind wir, von unbekannten Gewalt am Draht gezogen". Nicht Subjekte, sondern Objekte führen sich bei Chétouane selbst am Faden. Wenn sie sich in bunte Röcke, Schürze, Spitzenjabot und Prunkgewand hüllen, sind es Verkleidungen, die sie probieren wie Gesellschaftskostüme. Ihre Gesten sind rhetorische Billigangebote; ihre Gliedmaßen scheinen sich von der Hirnzentrale unabhängig zu regen. Wo Büchner eine unerhörte Sprache findet, protestieren bei Chétouane die Körper.

Robespierre, der rigorose Tugendwächter, Blutrichter und Verkünder des Terrors, taucht bei Chétouane kaum auf. Nur in seiner Gegenrede im Schauprozess vor dem Konvent führt ihn Maik Solbach mit entblättertem Lorbeerkranz und leiernd hohltönend als Phrasendrescher vor. Sonst ist er nur anwesend, wenn die Übrigen seine didaktisch fuchtelnden Fingerzeige nachahmen.

Als Chétouane vor fünf Jahren am Schauspielhaus Hamburg Büchners "Woyzeck" inszenierte, hat er ihn von "Lenz" her gedacht: als Sprachbehinderungsdrama. Devid Striesow, der klare, kühne, unangestrengte Schauspieler, ging mit dem Leiden an der Sprache grandios um. Man musste schier den Atem anhalten, wenn er lauschte, stockte, stammelte und Sätze fand, die erstmals Laut zu werden schiene.

Totengräber der Hoffnung

Nun, in Büchners – sehr eingestrichenen – Revolutionsszenen ist Striesow die "Reliquie" Danton (meistens jedenfalls). Er spricht ihn fast auf einem Ton, ohne dass dieser fad, belanglos, lau wäre. Ermattung als Folge der Reflexion. So macht Bewusstsein Zögernde aus allen. Hans Mayer hat mit Blick auf Hölderlin vom "progressiven Verstummen" gesprochen.

Das trifft auch diesen Danton, der vor dem Revolutionstribunal allerdings sein fest umrissenes (Striesow-)Ich an ein Stimmen-Terzett abtritt, als sei die Selbst-Verteidigung seine Sache nicht. Den Tod vor Augen, gerät auch er (nun wieder ganz Striesow) ins Stottern. Klare Rede löst sich auf. Oder wird, wie bei St. Justs rationaler Demagogie, von der Marseillaise abgelöst. Oder ist in der Masse und Menge, dem großen Lümmel, mickrig vertreten durch heiseres Geschrei. Nichts da von selbstbewusstem "Wir sind das Volk"-Stolz. Allesamt sind nur Totengräber ihrer Hoffnung im Diesseits und Jenseits.

Chétouane, dessen Theaterarbeit immer von der Gefahr heimgesucht wird, genial daneben zu liegen, hält die Wunde Büchner offen. Sein Requiem-Raisonnement scheut nicht die überdeutlichen Zeichen: Julie stirbt stumm – ihre letzten Worte erscheinen nur als Schrift auf einem gespannten weißen Leichentuch; die vier Delinquenten fallen bei ihrem letzten Gang in rezitativen Gesang, als sei ihre Rolle in der Geschichte eine Opernpartie; Lucie führt zum Schluss ihren eigenen rührend kargen Totentanz auf. Dann fällt das Messer.

 

Dantons Tod
von Georg Büchner
Regie: Laurent Chétouane, Bühne: Patrick Koch, Kostüme: Sanna Dembowski, Musik: Leo Schmidthals, Video: Anna Henckel-Donnersmarck, Dramaturgie: Jan Hein.
Mit: Lisa Densem, Robert Gwisdek, Anna MacRae, Renato Schuch, Maik Solbach, Devid Striesow, Isabell Giebeler und Sigal Zouk.

www.schauspielkoeln.de


Mehr lesen zu Laurent Chétouane? Ebenfalls in Köln brachte er im Oktober 2008 Goethes Faust I heraus. 2008 war er mit seiner Heiner-Müller-Inszenierung Tanzstück #1 - Bildbeschreibung der Hauptpreisträger des NRW-Festivals Theaterzwang-Favoriten08.

Kritikenrundschau

"Man streckt und dehnt sich, absolviert kleine Sprünge und Drehungen, die Arme weisen in verschiedene Richtungen" beschreibt Hans-Christoph Zimmermann vom Bonner General-Anzeiger (18.1.2010). Aber funktioniert "Dantons Tod" als "Trainingsstunde? Tanztheater? Party?", fragt er sich angesichts von Laurent Chétouanes Kölner Inszenierung. Dieser definiere die Revolutionäre "als eine Gruppe junger Leute, die mit einer ganz unpathetischen Legerezza an die Sache gehen". Die Identitäten blieben dabei "fließend, Rollen lassen sich allenfalls nach textlicher Klumpenbildung zuweisen". Robespierre sei weitgehend gestrichen, seine Auseinandersetzung mit Danton finde nicht statt. Der Titelheld werde bei Devid Striesow "zum Revolutionär ohne Emphase, den weder sein Bewusstsein des immergleichen menschlichen Schlachtens lähmt, noch die Blutquelle der Guillotine (...) ekelt". Das Spielerische der Inszenierung erweise sich "als Bumerang", fehle ihr doch "die emotionale Amplitude und Triftigkeit". Überdies mache "der wohltemperierte Ton (...) den Abend je länger, desto zäher und trieb viele Zuschauer in die Flucht". Und natürlich bliebe "ohne Kenntnis des Stücks vieles unverständlich". Manches erschöpfe sich "in simplen Bildmetaphern", anderes sei allerdings auch "scharf gesehen".

Auf der Webseite des Deutschlandfunks schreibt Christiane Enkeler (18.1.2010): Laurent Chétouanes Figuren tasteten oft nach "Möglichkeiten im Raum". Die Darsteller beschrieben die Bühne "wie ein Koordinatensystem mit vier Dimensionen". Sie "bewegen sich zeichenhaft, leicht schematisch." In "Dantons Tod" glitten die Schauspieler unter einem "großen schwarzen Vorhang … hinein oder hinaus, spielen mit schlaffen Körpern Müdigkeit und Überdruss, während sie von einem straffen Staatskörper reden". Devid Striesow spiele Danton "im leichtfüßigen Rückwärtsgang oder widerwillig getrieben", die Todesangst im Kerker "so schlotternd, dass sich der ganze Mensch schon vor dem Tode auflöst". Das berühre. Bei Chétouane gebe es keine Helden, nur  "Überdruss, Angst und Tod". Das Stück sei "mit seinen naturhaften Vergleichen" wie geschaffen für Chétouanes Inszenierungsstil, am besten aber laufe es, wenn die Bewegung das Gesagte nicht abbildet, sondern konterkariert: Tatenlosigkeit gegen ein "Wir müssen handeln". Schwach werde es wenn die "Gesten leer wirken" - und so wirkten sie "recht oft". Passagenweise "möchte man gerne mehr Sinn in Erzählung und Struktur verstehen", an andren Stellen aber sei man an diesem Abend "berührt" von "Momenten tiefster Angst, die das Team sogar humorvoll zeigen kann: Der Abgang zum Schafott wird ganz opernhaft gesungen, voller Abstand und Ironie".

Chétouanes Inszenierungen sind stets ein Postulat der Relevanz", behauptet Egbert Tholl (Süddeutsche Zeitung, 19.1.2010), und zwar "der Relevanz des Relevanten. Meist ist dies der Text und zwar der Text allein, was zunächst noch keine Aussage an sich ist." Und ja "spröd" sind seine Inszenierungen, "sie sind mitunter unerträglich, aber in den gelungenen Momenten wohnt ihnen eine berückende Schönheit inne". Dann nämlich, "wenn der Versuch gelingt, in der Vergangenheit, also in Texten aus der Vergangenheit, für die Gegenwart zu lesen, ohne die Gegenwart mit diesen Texten zu behaupten". Chétouane misstraue "den Chiffren moderner Inszenierungen in einem Maße, dass er sich selbst längst zum Markenartikel einer Gegenbewegung gemacht hat". Und "da Chétouanes Grundinteresse dem sprechenden Schauspieler gilt, dem Text absondernden Körper, war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, dass er irgendwann beides inszenierte, den Leib und das Wort". Hier nun, in dieser Inszenierung, entstehe "aus Gesten des Lapidaren" eine "wunderbare Atmosphäre, eine Art klarer Nebel".

In der Frankfurter Rundschau (22.1.2010) schreibt Stefan Keim: Chétouane inszeniere Büchners Drama "so undramatisch wie man es sich nur vorstellen kann." Die großen Reden nichts als "schlappe Propaganda", "Wortgetöne ohne innere Wahrhaftigkeit. Chétouane sei einer der letzten "Abonnentenschrecks" im deutschen Stadttheater, weil er das psychologische Theater konsequent verweigere. Meist laufe der Text "wie ein großes Gedicht" durch alle Darsteller hindurch, werde "verkünstelt, ausgestellt, befragt". So gelinge es häufig, "überraschend präzise den Kern eines Textes frei zu legen". Diese Ästhetik sei in Köln abgemildert. Die meiste Zeit spiele Devid Striesow "klar identifizierbar" den Danton. Er spiele "ganz von innen heraus, klar und konzentriert, scheinbar auf einem Ton, aber mit vielen kleinen Abstufungen und Schattierungen". Dieser Mann glaube sich selbst nicht mehr, das sei seine Tragik. Chétouane stelle die "Zeichenhaftigkeit des Theaters" heraus, eine Ästhetik, die einem in zweiundeinviertel Stunden" auch schon mal ordentlich auf die Nerven" gehen könne. Die Aufführung stagniere häufig inhaltlich und nur Striesow habe den Spielstil so verinnerlicht, "dass er ihn zu etwas Eigenem weiter entwickelt". Danton kratze müde am Sargdeckel, ein intellektuell nachvollziehbarer Zugang, der eine Gesellschaft der leidenschaftslosen Als-Ob-Diskussionen treffe. Doch abendfüllend sei diese These nur bedingt, zumal keine Gegenposition sichtbar wird.

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