Willkommen in der Tchibo-Welt

von Petra Hallmayer

München, 16. Januar 2010. Die goldenen Tage sind vorüber. Das Familienvermögen ist futsch und nachdem sie auch noch ihren Job als Lehrerin verloren hat, sucht Blanche Zuflucht bei ihrer Schwester Stella, die in New Orleans den polnischen Einwanderer Stanley Kowalski geheiratet hat. Wie wenig willkommen sie hier ist, wird in den Kammerspielen gleich zu Beginn überdeutlich. Während Stella (Katja Bürkle) in einem langen Intro mit ihren Freunden die von kahlen Sperrholzwänden umrahmten Zimmer einrichtet, findet sie in einer Tüte ein Tüllkleid von Blanche, brüllt "Raus!" und schleudert es weit von sich.

Kurz darauf steht Blanche tatsächlich da, züchtig-elegant ganz in Schwarz stöckelt sie mitten hinein in das neue Leben ihrer Schwester. Dass ihrem Herrentochterdünkel längst jede Berechtigung abhanden gekommen ist, sie sich nach zahllosen Affären auf der Rutschbahn abwärts befindet, blendet Blanche aus, die sich in Lügen und Traumgespinste rettet, die Stanley schließlich brutal zerschlägt.

Wo Dartpfeile fliegen und Körper ruckeln

Die Welt, in der sie bei Sebastian Nübling strandet, ist beherrscht von munterer Langeweile. Die Mädels tragen Minishorts, die Männer Blumenhemden und Tatoos, man plänkelt, betrinkt und kabbelt sich wie irgendeine Clique aus einer Eckkneipe in München Untergiesing.

Tennessee Williams' Klassiker "Endstation Sehnsucht" erzählt von der Konfrontation der untergehenden Südstaatenaristokratie mit einer nach oben drängenden Arbeiterschicht, die die puritanisch-bürgerliche Gesellschaft in ihren Bedrohungsfantasien mit verführerisch animalischer Potenz und rücksichtsloser Aggressivität ausstattete, auf die sie mit Furcht und Neid blickte.

Das lässt sich natürlich nicht so einfach ins Hier und Heute übersetzen, wo es keinen Grund mehr gibt, sich vor denen da Unten zu fürchten, da wer unten ist, ziemlich sicher auch unten bleibt. Aber es wäre durchaus möglich, anhand des Textes etwas über soziale Reibungen, Verwerfungen, Normenkonflikte und Abstiegsängste der Gegenwart auszusagen. Allein: Nübling beschränkt die soziale Differenzierung auf die Signalsprache des Outfit und ein Potpourri aus Verhaltensklischees. In heillos überdehnten Szenen zeigt er Vorgartengrillparty-People, die Dartpfeile werfen, knutschen, Hasch-mich spielen, Wände im Tschibo-Design der Siebziger tapezieren, sich kindergeburtstagsbunte Drinks reichen, nie allein sein können, gemeinsam über die Bühne turnen und tollen wie ein gesichtsloses pittoreskes Proletariat.

Vor diesem verschwommenen Hintergrund läuft sogar das Spiel einer Wiebke Puls als Blanche manchmal ins Leere. Dennoch ist es natürlich immer wieder eine Freude ihr zuzusehen. Sie wandelt sich unvermittelt von einer Grande Dame in eine ruppige Widerspenstige, einen rassistischen Snob und ein verletzliches Mädchenkind, kippt mit wunderbarer Leichtigkeit aus strengem Ernst ins Komödiantische. Und wie sie und Jochen Noch als Mitch einander tastend umkreisen, wie die beiden, die bereits in Nüblings "Dunkel lockende Welt" ein furioses Paar bildeten, mit aneinander ruckelnden Körpern groteske Versuche der Annäherung vorführen, das ist großartig.

Wo die netten Kerle wohnen

Doch ein schlüssiges Inszenierungskonzept ist nicht zu erkennen. Es sind immer nur einzelne Passagen, die überzeugen, und viel zu selten reflektiert eine Szene unsere eigenen Denkschablonen, wie jene, in der Stella sich zornig gegen die Frauenbefreiungspredigten wehrt, mit denen Blanche ihr ein Glück einzureden versucht, das sie nicht haben will.

Über weite Strecken zeichnet den Abend eine erstaunliche Harmlosigkeit aus. Die Verstörungen von Gewalt und Sexualität bleiben ausgeklammert. Steven Scharfs Stanley ist ein hübscher, erotisch nicht weiter aufregender Mann, ein im Grunde netter Kerl, auch wenn er manchmal ausrastet. Dass er seine schwangere Frau schlägt, geht im Gerangel mit ihr unter.

Erst gegen Ende gewinnt die Aufführung an Dichte und Intensität. Wenn Blanche in einer flamingorosanen und hellblauen Tüllwolke gedemütigt auf Mitch wartet und ihren Überrest an Stolz zusammenrafft, wenn sie, als er endlich auftaucht und sie an sich reißt über seinen an ihre Brust gedrückten Kopf hinweg mit mädchenhaft heller Stimme fragt "Wer ist denn da?", unaufhaltsam wegdriftet in den Wahn, da darf Wiebke Puls noch einmal ihr großes künstlerisches Potential demonstrieren. Wirklich versöhnen mit dieser Inszenierung aber kann das nicht mehr.

 

Endstation Sehnsucht
von Tennessee Williams, deutsch von Helmar Harald Fischer
Regie: Sebastian Nübling, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Amit Epstein, Musik: Lars Wittershaben. Mit: Wiebke Puls, Katja Bürkle, Steven Scharf, Jochen Noch, Tabea Bettin, Lasse Myhr u.a.

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Mehr zu Sebastian Nübling lesen Sie in unserem Glossar an DIESER Stelle. Andere A Streetcar named Desire-Aufführungen gab es in den letzten Jahren im September 2007 von Schirin Khodadadian in Essen, von Stephan Kimmig im Februar 2008 in Hamburg, von Enrico Lübbe zu Beginn seines Chemnitzer Schauspieldirektoriums im Oktober 2008 und von Benedict Andrews an der Berliner Schaubühne im April 2009.

 

Kritikenrundschau

Im Zentrum von Sebastian Nüblings "Endstation Sehnsucht"-Inszenierung an den Münchner Kammerspielen stehe einmal nicht Blanche, "die gestrandete Bling-Bling-Prinzessin", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (18.1.), "im Zentrum steht hier die pittoreske Clique, die mit Stella und ihrem 'Polacken'-Ehemann Stanley eine reichlich chaotische Hausgemeinschaft bildet. Indem Nübling dieser kunterbunten Spaß-WG gleich mal die ganze Bühne und sehr viel Zeit zum Ausbreiten einräumt, erschafft er für seine Inszenierung einen ganz eigenen Kosmos, weit entfernt von den Klischees des Stückes". Nübling sei "regelrecht verliebt in diesen Schrägvogeltrupp, der zwar kurios anzusehen, aber durch und durch harmlos und ohne gesellschaftliche Brisanz ist". Und so sei es, "aller Typen- und Gruppendynamik zum Trotz, doch der Abend von Wiebke Puls", die "mit einer physischen und wunderbar komödiantischen Geschmeidigkeit" spiele und "sämtliche Klischees ihrer labilen Rolle unterläuft". Sie spiele eine Frau, "die bis auf ihren Dünkel zwar alles verloren hat: (...) Aber es könnte für sie, und diesen Realitätssinn spielt Wiebke Puls am Rande des Nervenzusammenbruchs eben auch, schon noch eine Rettung geben."


Sebastian Nübling löse sich in seiner Inszenierung "an entscheidenden Stellen von Vorlage und Filmbildern", meint Hannah Schmeller in der tageszeitung (18.1.), er verorte "Endstation Sehnsucht" "in einer von Integrationsproblemen geplagten, emotional entzauberten und daher dauerfrustrierten Gesellschaft." Nübling nehme "seinen Protagonisten jede wütende Erotik. Besonders deutlich wird dies, wenn Stanley nach seiner Stella brüllt, die er zuvor zusammengeschlagen hat: im Film verzweifelt und eigensinnig wie ein Kind, auf der Bühne bloß noch mechanisch, laut und gewollt blutleer. Wo in der Nachkriegszeit noch blinde Wut sein sollte, ist nur mehr Verrohung übrig." So schlage der Regisseur – "und beinahe noch mehr: eine alles überstrahlende Wiebke Puls in der Rolle der Blanche DuBois – eine distanzierte, fast schon verkopfte und ebendeshalb so brutale Bresche durch die Intimität der Figuren, was den Zuschauer eher intellektuell fordert, als an eigene Leidenschaften zu erinnern." Und so bringt Schmeller die Aufführung schließlich auf den Punkt: "Endstation Kopfmensch."

"Ist das ein Heimwerker-Wettbewerb, ein Turnverein oder eine Proll-Kneipe?" fragt sich Gabriella Lorenz in der Münchner Abendzeitung (18.1.). Jedenfalls seien die Prolls "billige Klischees, und als Gipfel der Peinlichkeit spielen die Männer im Weiberfummel die Affenhorde, wie Blanche sie später nennt. Zur Erhellung trägt das nichts bei." Einzig Wiebke Puls sorge mit Partner Jochen Noch für Spannung: Meisterhaft lege sie "Blanches Nerven bloß. Sie changiert zwischen Snobismus und Mädchenhaftigkeit, damenhafter Fassade und Trinker-Scham, züchtiger Sentimentalität und frivoler Herausforderung – und verblüfft immer wieder mit grotesker Körperkomik." Großartig spiele auch Jochen Noch "die Einsamkeit des Muttersöhnchens. Wunderbar komisch umklammern sich die beiden mit wippenden Körpern und kriegen sich doch nicht zu fassen – da ist die ganze Tragik und Verlorenheit der Figuren spürbar." Ansonsten aber habe Wiebke Puls in Nüblings "unendlich zerdehnter, zeit-, ort- und stilloser Inszenierung keinen Gegenpart".

"Blond, blass, den linken Zeigefinger im Kragen ihres kleinen schwarzen Lehrerinnenkleides, um sich die aufgesetzte Züchtigkeit verstohlen vom Hals zu halten", so steht laut Teresa Grenzmann (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.1.) Wiebke Puls' Blanche auf der Bühne. "Der Raum scheint durch ihren Fremdkörper zu schrumpfen; die freundlichen WG-Dimensionen drohen zu entgleiten; das Chaos hat einen neuen Mittelpunkt gefunden: Blanche bezieht das Bad, und die groteske Tragödie hat begonnen." Grotesk sei dabei vor allem "die Kantigkeit, mit der Wiebke Puls die Divenallüren der Blanche gründlich untergräbt". Durchbrochen werde diese Kantigkeit "nur in den großartigen Momenten einer gefräßigen Schwäche: in denen Blanche plötzlich nach einem Pfannkuchen schnappt und ihn verschlingt" oder "über Kopf im Kühlschrank nach einer Flasche Hochprozentigem angelt". Katja Bürkle und Steven Scharf "machen indes als Stella und Stanley eine bewegende Wandlung durch: Ihr unbeschwerter Gleichmut macht einer beinahe ohnmächtigen Sorge um ihre Schwester Platz; seine lauernde Gereiztheit entlädt sich plötzlich und in roher Gewalt". Dabei wirke "keine Eskalation jemals plump". Und "die komische Fallhöhe, die der Regisseur sorgfältig für jede dieser Figuren aufbaut (...), ist enorm."

Auf Welt Online (20.1.2010) schreibt Thomas Meyer über "Endstation Turnhalle": Der Versuch, aus Williams' "psychologischer Studie über fatale Träume" eine "Art Typenlehre zu kreieren", gehe in "branchenüblichem Geturne, in schwachen Kalauern und nervigen Sphärenklängen" unter. Die Ambivalenzen der Figuren blieben auf eine "wenig glaubwürdige Milieustudie" reduziert: "Tätowierte Protze und ihre Ladies in Einheitsbilligchic füllen sich mit billigem Fusel ab." "Darüber hinaus gehende Ambitionen" habe der Regisseur bloß "angedeutet". Vielleicht habe er sich zu sehr auf die darstellerischen Möglichkeiten von Wiebke Puls verlassen. "Geschickt deutet sie mit minimalen Gesten diverse Vorgängerinnen in der Rolle an, verrenkt, dreht und wendet sich, dass es eine Freude ist." Ihr fehlten von Anbeginn an "jeder Halt und jedes Zentrum". Puls vermöge auch "Williams' zentrale Idee" des "Strömens und Fließens in ihrer Körpersprache zu verbildlichen".

 

 

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