Lopachins World

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 16. Januar 2010. Fünf Minuten lang spielt ein Bonbon die Hauptrolle. Stille. Ein Schmatzen. Ein arroganter Blick. Stille. Ein Schmatzen. Und wieder nichts. Gajew lutscht und saugt an diesem Bonbon, auf dass es gewiss bis in die letzte Reihe zu hören ist. Würde man diesem Kerl in einem Wartezimmer alleine gegenübersitzen, würde man ihn wahrscheinlich anspringen und einen Knoten in seine frechen, feuchten Lippenwürste drehen.

Doch es sei ihm gegönnt, Gajew, dem kommissarischen Gutsbesitzer, der in einer weichen Menschenwand aus Gescheiterten festgefroren ist, die das süße Leben bald hinter sich haben werden. Sie ahnen es, aber sie tun nichts. Was auch. Sie stehen nur da, schauen blöde über die Köpfe des Publikums hinweg in eine Dunkelheit – und ergeben sich widerstandslos. Unterdessen kostet Gajew sein Zuckerklümpchen bis zum allerletzten Geschmacksrest aus. Wer weiß, vielleicht ist es ein Bonbon mit Kirschgeschmack.

Wer nichts leistet, muss weg

Nach diesen frühen fünf Minuten ist alles vorbei. Tschechows "Kirschgarten" ist im Geiste abgeholzt. Regisseur Michael Thalheimer offenbart wie so oft bereits zu Beginn eine pessimistische Interpretation in einer Schlüsselszene: In dieser kurzen Ewigkeit verdichten sich bittersüße Eigensucht und fatalistische Geschichtsblindheit zu einem Vorwurf: Wer nichts leistet, der muss weg. Hat keinen Platz in Lopachins kapitalistischer Welt, in der ein verschuldetes Anwesen wie der Kirschgarten des dicken Gajew zwangsläufig parzelliert, kahlgeschlagen und an Ferienhäusler verhökert werden muss.

Thalheimers unheimliche Idee besteht gerade in der Behauptung einer unumstößlichen Zwangsläufigkeit. So wie die zwei planen, nüchterngrauen Filzlippen des Bühnenmauls sich mit der Zeit annähern und zur Falle werden. Ein Gesetz, welches den Nouveau riche Jermolaj Alexejewitsch Lopachin rehabilitiert, der in seiner standardisierten Version ansonsten meist als profitgieriger Geier den feudalistischen Sehnsuchtsmenschen das faule Fleisch aus der Seele rupft.

Doch wenn jetzt einer wie Lopachin, Workaholic, Sohn eines Leibeigenen, Selfmade-Millionär, auf dem Boden kauert, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, locker sitzender Krawatte, und seine zarten Hände in die Schäfte seiner gurkengrünen Gummistiefel drückt, kindlich, unschuldig, und den Satz hervorpresst "Unser Leben ist idiotisch", dann möchte man ihm tatsächlich glauben. Dass es keine andere Möglichkeit gibt, als zu kaufen, zu verkaufen, zu spekulieren.

In unsichbaren Leidenskokons gefangen

Und so verführt schaut man sich dann das ganze elende Pack genauer an, kühl wie ein Controller in einer Betriebsversammlung, und würde die ehemaligen Kirschenkönige am liebsten eigenhändig allesamt vom Hof jagen. Immer wieder versammeln sie sich zur Mauerschau vorne an der Rampe, Schulter an Schulter, und dennoch in ihren unsichtbaren Leidenskokons gefangen, ohne Nähe zum Nächsten, ohne Liebe.

Die Ranjewskaja, Gajews Schwester, die nach fünfjähriger Abwesenheit abgebrannt aus Frankreich auf ihr Gut zurückkehrt ist und nun nicht viel mehr weiß, als mit leidendem Blick Telegramme ihres Galans zu zerreißen. Ohne Sentiment verpackt Anna Windmüller die Leere in eine derangierte Ignoranz, die auf hohen Absätzen in einen tiefen Abgrund der Erinnerungen an verpasste Chancen und ein totes Kind stiert.

Oder der Möchtergern-Revoluzzer Trofimov (Christoph Gawenda mit gewohnter Aggressivität), ein ewiger Student und Aristokraten-Schoßhund, der in einem Augenblick im harten Gegenlicht der Bühnenbeleuchtung (von hinten links) die sozialistische Morgenröte erkennt und einen langen Schatten dieses neuen russischen Menschen wirft, aber eben nur einen Schatten, während er Anja (Sarah Sophia Meyer) im Arm hält, die Tochter der Ranjewskaja, und etwas davon faselt, "über der Liebe zu stehen."

Neoliberaler Gutmensch

Und schließlich Gajew, den Martin Leutgeb mit wohl dosierter Lustigkeit als korpulenten Bonvivant der Provinz gibt. Eine opulente Naturerscheinung in zotteligem Dreiviertelmantel und Samtrevers am hellen Anzug, ein liebenswerter Narr, der auch mal ein Tänzchen samt Gesang zum Besten gibt, eine Mischung aus hysterischem Ivan Rebroff und Petersburger Pogo, vieles verspricht und am Ende selbstkritisch doch nicht ohne Heiterkeit resümiert: "Man sagt von mir, ich hätte mein ganzes Vermögen als Bonbons aufgelutscht."

Zu den Klavierakkorden eines angejazzten Walzers (Bert Wrede) fegt die Regie jegliche Seelenduselei und Melancholie aus diesem blutgefrierenden Komödienkammerspiel, streng rhythmisiert durch monotone Klänge und regelmäßig einsetzende Körperzuckungen verwischen die Grenzen zwischen Tätern und Opfern allmählich. Das Ergebnis ist eine keim- und empathiefreie Zone: Lopachins World, in der die Arbeit alles ist.

Edelkonservative Aufräumaktion

Arbeit: Eine letzte und erste Utopie, ausgerechnet bei dem Apokalyptiker Thalheimer! Sein Lopachin, den Markus Lerch geradezu perfide gut abstimmt, ist im Grunde ein Zyniker der schlimmsten Sorte. Ein Hänfling, der seine sauberen Gummistiefel und Hemdsärmeligkeit (!) nur noch zum Zwecke des Understatement spazieren führt, sich als tougher Arbeiter aus dem Volke geriert, und den neoliberalen Gutmenschen hinter einer Maske aus Vernunft und dem vielbeschworenen gesunden Menschenverstand versteckt.

Aber man spürt: Dieser im Grunde nette, etwas peinliche Typ, der mit seinen Armen gelegentlich unkontrolliert schlackert und über seine eigenen Plattitüden lacht ("Auf Wiederdrehen!") könnte in jedem Moment einen Zahn zulegen, Schlimmeres tun als nur einen Kirschgarten ersteigern und seine – gewiss unfähigen – Bewohner vertreiben.

Was Thalheimer absichtlich bei seiner kaltschnäuzigen, edelkonservativen Aufräumaktion unter den Tisch kehrt, ist die vielleicht naive Frage, mit welchem Recht und durch welche sinnstiftende Arbeit ein einziger Mensch mit einigen seltsamen Geschäften zum Millionär aufsteigen darf. Lopachins World - die neue Sklavengesellschaft? Thalheimer sieht's aber scheinbar anders.

 

Der Kirschgarten
von Anton Tschechow
Übersetzung von Thomas Brasch
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Michaela Barth, Musik: Bert Wrede.
Mit: Anna Windmüller, Sarah Sophia Meyer, Minna Wündrich, Martin Leutgeb, Markus Lerch, Christoph Gawenda, Boris Koneczny, Rahel Ohm, Jonas Fürstenau, Emilia de Fries, Elmar Roloff, Markus Weickert.

www.staatstheater.stuttgart.de


Mehr lesen? In Frankfurt am Main inszenierte Michael Thalheimer die Eröffnungspremiere der Intendanz Oliver Reese, einen Verschnitt der beiden Sophokles-Tragödien Ödipus/Antigone. Im März 2009 verabschiedete er sich mit Schnitzlers Reigen vom Hamburger Thalia Theater, wo seine Karriere im Jahr 2000 mit seiner legendären Liliom-Inszenierung Fahrt aufgenommen hatte.

 

Kritikenrundschau

Auf der Webseite des Deutschlandradios schreibt Cornelie Ueding (17.1.2010): Trotz des Themas – schließlich handele es sich beim "Kirschgarten" um eine "Studie der Resignation" - gelinge Thalheimer "eine grandios komische Aufführung". Zu Beginn stürzen die Figuren an die Rampe stürzen, bauen sich als "lebende Phalanx" auf und - warten, so als würden sie auf "Impulse" hoffen irgendwo von außen. Als nichts geschehe, "schnattern und strampeln sie sich selbst aus der Lethargie". Die kahle Bühne und der Verzicht auf ein "realistisches Ambiente" lenke den Blick auf die "Wirklichkeitsferne der Figuren". Alles spiele sich "nur noch im Kopf, in der Erinnerung ab". Alle redeten, stampften, sängen oder tanzten sich "in Stimmungen hinein" und versuchten auf diese Weise, "Emotionen zu beschwören". "Für Gefühle, Liebe, die sie so gerne erleben möchten, haben sie keine Sprache." Auch der Kirschgarten blühe vor allem in den Köpfen der "Gefühlssehnsüchtigen". Anstalten ihn zu retten mache keiner. "Lachen und Weinen" lägen in dieser "hinreißend genauen und auch grandios komischen Aufführung" nah beieinander, wann immer die Figuren miteinander Kontakt aufnehmen, "geht was schief": windschief die Dialoge, Affektschübe würden"vor allem körperlich ausgetragen". Der "Ausblick, der ziellose Aufbruch am Ende", sei "desaströs". Bevor noch der erste Baum gefallen ist, "gehen die Menschen in ein erkennbar sinnentleertes Leben".

Gerhard Stadelmaier macht es unter der Überschrift "Die Entkirschten" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.1.) mal wieder denkbar kurz. Michael Thalheimer habe die Figuren aus Tschechows "Kirschgarten" in Stuttgart enthauptet, ihnen also ihre Köpfe mit den darin wuchernden "Gedanken, Träumen, Sehnsüchten, Hoffnungen, Illusionen" genommen. In einem "riesig aufgerissenen Sperrholzschlund" sehe man "neurotisch zappelnde, heiser brüllende, irrwitzig plappernde, starr glotzende kopf-, hirn- und seelenlose Marionettengespenster frontal zum Publikum hin ausspeien". Sie würden vom Regisseur "gleichgültig totinszeniert". Fazit: "Es ist ein Jammer."

Dass von den Figuren um Gutsbesitzerin Ranjewskaja nichts mehr zu hoffen sei, zeige schon das Anfangsbild, schreibt Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (18.1.). Die Figuren posierten hier als "Schatten ihrer selbst" elegant an der hinteren Bühnenwand – "ein Scherenschnittbild. Sie haben sich selbst überlebt. Fortschrittsverlierer", doch von "Larmoyanz" keine Spur. "Man zeigt Haltung, kein Abschiedsgeheul", "Liebeswirren werden auf ein Minimum reduziert, keine Zeit für Tändeleien verschwendet". Insgesamt ist es laut Golombek "ein nur mäßig komischer, dafür bemerkenswert bitterer Abend geworden", an dem die Angestellten "neurotische, aus der Zeit gefallene Figuren" abgeben und "absurdes Theater" veranstalten. Am Verkauf des Kirschgartens sei hier keiner unschuldig. Thalheimer treibe den Figuren "konsequent ihre Sehnsüchte aus, er lässt sie klar sehen, was sie verlieren". Des Regisseurs These: "Man unterschätzt Leute wie Lopachin. Kapitalismus sieht heute anders aus und nicht zwangsläufig fies, manchmal sogar ganz nett." "Kein Trost, dieses 'Es ist wie es ist', aber eine harte Diagnose."

Jenes Unglück, das stets sachte durch Tschechows Stücke zittere, hat Roland Müller von der Stuttgarter Zeitung (18.1.) hier "mit aller Wucht" angesprungen. "Statt russischer Folklore sehen wir eine existenzielle Wüste, die kein Erbarmen kennt". Eigentlich sei Thalheimer, als "Reduktionist" ja "kein Mann der leisen, fein ziselierten Seelentöne", "kein Mann für Tschechow". Zum Erstaunen des Kritikers "geht sein Konzepttheater der radikalen Entschlackung" jedoch selbst im hochempfindlichen "Kirschgarten" auf. Zu Beginn ergebe sich "ein Blickduell der eingefrorenen Körper – und eine Einstimmung auf die Kämpfe, die zwischen diesen Sprachkörpern (...) ausgetragen werden": Sätze "wie Handgranten", "immer frontal ins Publikum, sie reden nicht miteinander, sondern aneinander vorbei". Später würden aus diesen "Menschenautomaten" ansatzweise "Menschendarsteller, die – in hell aufleuchtenden Momenten – sogar Fleisch und Blut gewinnen". Thalheimer und Tschechow, "die beiden Antipoden des Theaters", kämen sich "plötzlich ganz nah", die Inszenierung "mit ihrer konzeptionellen Strenge" laufe "kompositorisch verblüffend rund". Und die Spieler nutzten ihre "(zugegeben) kleinen Freiräume, (...) um eindrucksvolle Charakterstudien abzuliefern", etwa Markus Lerch als ein Lopachin, der "unter seinen Finanzgeschäften leidet".

Dass diese Inszenierung "radikal reduziert" wirkt und ist, "muss kein Nachteil sein", urteilt Ulrich Weinzierl (Die Welt, 19.1.): "Auf Requisiten und Räume lässt sich verzichten, auf Darsteller, die ihre Rollen zu Menschen und Typen gestalten, nicht. Wie Scherenschnitte stehen sie da, weit hinten aufgereiht am Horizont, der statt Morgenröte finsterste Nacht verheißt." Minuten lang lutsche Martin Leutgebs Gajew "laut schmatzend" seine Bonbons. "Bloß ein unnötiger Regieeinfall? Nicht unbedingt, Gajews Passion für das Süße wird in Tschechows Text wiederholt erwähnt." Auch "andere, winzige Details von des Autors Anweisungen" habe der Regisseur "getreulich befolgt". Und Ranjewskaja, die "den Status der unglückseligen Heldin verloren" hat, ist "Teil des "Kirschgarten"-Kollektivs auf dem Weg in den Abgrund" geworden. "Solche Degradierung im theatralischen Sinn kann man bedauern – und ausnahmsweise trotzdem nachvollziehen. Denn sie passt zum Übrigen, dem sehr nüchternen Gesamtbefund Michael Thalheimers": "Der innere Kirschgarten ist abgeholzt."

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