Kein Platz für Krisengrämerei!

von Georg Petermichl

Wien, 23. Januar 2010. Ein Theater-Relaunch in Wien – wie erfrischend! So eine Neupositionierung eröffnet die Möglichkeit, sich ein wenig in den Kontexten eines Theaters zu verlieren. Also: Das Ensembletheater am Petersplatz – jetzt in "Garage X" umbenannt – bot seit den 1980ern Platz für klassisches, solides Theater im Kellerlokal. Manchmal Strindberg, oder Brecht. Dann vielleicht auch Nicky Silver oder Albert Ostermaier. Gesamt genommen war ihm aber mit seinem dunkelhölzernen Mobiliar der Sprung in die 2000er Jahre kaum mehr gelungen.

Neuerdings kann man sich aber die Motti der Theaterschwerpunkte als Attitüden auf T-Shirts kaufen: "Verarmen Jetzt", "Schicksal Kaufkraft", oder "Vorstadt/Lichterloh". Der Bar-Raum ist mit einem Garagentor ausgestattet, die Getränke werden aus einem Wohnwagen verkauft – Lichterketten rundherum. Alles schreit nach schablonenhafter Berliner Kreativ-Gemütlichkeit; Die Räumlichkeiten gestalten sich perfekt, um die Grenzen des Pop-Theaters in Richtung bildender Kunst, Musik-, Performance-, Lecture- oder Partykultur zu überschreiten.

Warenkorb Theater

Die neue Leitung unter Ali M. Abdullah und Harald Posch verschreibt sich bereits seit Jahren unter dem Off-Theater-Label "Drama X" einer soziopolitischen Ausrichtung. Das Theater begreifen sie als vergnüglichen Denkraum, als einen Ort, an dem die intellektuellen Ressourcen einer Stadt für ein Thema spontan gebündelt werden können.

Bestes Beispiel dafür liefert "Vive la crise", das soeben im "Garage X" Premiere feierte: Der bildende Künstler Daniel Richter – Professor an der Wiener Akademie der bildenden Künste – zeichnet für den Bühnenraum verantwortlich. Seine Frau Angela Richter führt Regie und hat als Leiterin des "Fleetstreet"-Theaters in Hamburg die Schauspieler Eva Löbau und Yuri Englert mitgenommen. Jörg Ratjen und Melanie Kretschmann kommen aus dem Burgtheater-Ensemble dazu. Und unter diesen Voraussetzungen wird eine angenehm unprätentiöse, experimentelle Produktion zur aktuellen Wirtschaftskrise mit Aussparung der dafür gängigen Bühnenklischees abgefeiert.

Drop-out-Turnier für Hinz und Kunz

So findet man sich in einem abgehalfterten Tanzwettbewerb wieder. Als Assoziationshilfe dienen die biederen 1950er: Funkelnd Strass-besetzte Abendkleider und adrette Smoking-Kombinationen. Der Fortschrittsglaube hat Hinz und Kunz samt Partnerinnen zum Drop-out-Turnier verführt. Gewinnen wird dasjenige Paar, das sich am längsten auf den Beinen hält – so die Ausgangslage für "Vive la crise".

Nur dass die einfühlsam gelangweilte Off-Stimme (Phillip Haupt) über dem Bild von zwei ermatteten Tanzpaaren von Beginn an klar stellt, dass es sich hier um Schauspieler inmitten ihres Kampfes um die Darstellergage handelt: Die Produktion kostet angeblich soundsoviel, und "die Schauspieler haben sich darauf geeinigt, auf ihr Honorar zu verzichten. Stattdessen wird nur eine oder einer von ihnen die verbleibenden 15.000 gewinnen." Der Stücktext wird in den Tanzpausen gesprochen und nach den Anweisungen der Off-Stimme mit Grundemotionen eingefärbt: "Schade, mit dem 'Hass' konnte sich niemand so richtig auszeichnen. Probieren wir's jetzt mal mit 'Weinen'!"

Das Off-Theater legt mit diesem Regiekonzept seine Produktionsbedingungen frei. Das Ensemble wird zum leistungsorientierten Freiwild erklärt; die Bühnenemotionen sind vorgespielt und dienen höchstens dazu, sich wach zu halten – Verausgabung auf postdramatisch.

Aus super-sparsamem Hause

Die "große Depression", samt "Massenhysterie" am "Börsenparkett", und ihre "ökonomischen Muntermacher". – Das Stück bedient sich in seinem Schlagwortreigen des Gedankenkonglomerats aus Popliteratur und -theorie: Rainald Goetz trifft auf Noam Chomsky, im Setting von Cordula Stratmann (Dramaturgie: Jens Dietrich). "Wirtschaftliche Prozesse wirken sich auf Räume und Körper aus", wird gebetsmühlenartig wiederholt.

Entlang dieser allgemeinen Zwangslage entstehen wunderbare Theatermomente: Nach Anweisung dem Wahnsinn verhaftet stehen die vier Schauspieler gegen Ende an der Rampe und lauschen Eva Löbaus herzzerreißendem Pseudo-Werdegang aus einer super-sparsamen Familie. Nur einmal gebadet hätte sie pro Woche und zu essen gab es auch nicht genug: "Da war ich 10. Ich bin dann auch nicht mehr viel gewachsen danach." Dabei hat sie ständig ihre Finger im Mund. Jörg Ratjen zeigt derweilen seinen Zahnschmelz oder verzieht seine Gummifresse. Melanie Kretschmann gibt sich naiv schwachsinnig, sie schielt und tritt von einem Bein aufs andere. Und Yuri Englert schaut wie besessen durch die Luft, während er mit Löbaus Haaren spielt.

Dieser Abend ist schlichtweg unterhaltsam. Und ein Programmheft im Fanzine-Format (von Daniel Richter) gibt's auch noch dazu.

Vive la crise!
Regie: Angela Richter, Bühne: Daniel Richter/Angela Richter, Dramaturgie: Jens Dietrich, Video: Phillip Haupt, Kostüme: Moana Stenberger.
Mit: Yuri Englert, Melanie Kretschmann, Eva Löbau, Jörg Ratjen.

www.theaterpetersplatz.at

 

Im September 2007 berichtete Georg Petermichl bereits in einem Überblickstext von der Aufbruchstimmung in der Freien Szene Wiens. In letzter Zeit besprach nachtkritik.de Claudia Bosses 2481 desaster zone im Theatercombinat Wien (Oktober 2009) und Ich sterbe. I'm dying, den letzten Teil der Tschechow-Trilogie von toxic dreams, im Wiener brut (November 2009).

 

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