Etwas ist faul im Plastik-Rund

von Andreas Schnell

Bremen, 28. Januar 2010. Es stimmt schon, dass die Bremer Shakespeare Company oft eher in den Komödien (nicht nur denen ihres Namenspatrons) überzeugte. Der "Kaufmann von Venedig", den Nora Somaini vor zweieinhalb Jahren dortselbst inszenierte, überraschte dann allerdings mit einem für die Company ganz unerwarteten Stil: Mit Videoprojektionen, einem kühlen Bühnenbild und dem Verzicht auf die gelegentlich klamaukigen Exkurse, die manche Inszenierung der Company würzen, brachte sie frischen Wind ins Haus.

Und ihr "Hamlet" erfüllte gestern Abend die Erwartungen, die in sie gesetzt wurden. Mit einem entschlackten Text, der ganz ohne die außenpolitischen Ereignisse um den norwegischen König Fortinbras auskommt und auch sonst ein paar Überraschungen bietet, zeigt sie die Geschichte in einem Mikrokosmos, der durch ein Halbrund aus Plastikfolie umgrenzt ist, welches das Personal in aller Regel kriechend durch ein Loch im Boden betritt, während um die Halbkugel herum immer wieder gespenstische Gestalten schlurfen. Die Folie dient zugleich als Projektionsfläche für die Bilder der Handkamera auf der Bühne. Reizvoll auch die Kostüme: Hamlet (Christian Bergmann) wird beispielsweise als Muttersöhnchen in einem schreiend roten Pullunder eingeführt, Claudius (Peter Lüchinger), sein frischgebackener Stiefvater, steckt in einem futuristisch anmutenden Rock.

Rasender Hamlet, staubfrei

Ungefähr in die Gegenwart versetzt, in der natürlich später statt einer Theater- eine Filmvorführung den Vater entlarven wird, hat der Prinz, angewidert vom neuen König, enttäuscht von seiner treulosen Mutter, mit dem Wunsch des toten Vaters zu kämpfen, der hier gleich als Chor durch die Nacht Helsingörs geistert. Dabei wird die Figur Hamlet gründlich von Klischees befreit. Nicht einmal der berüchtige Anfangssatz des berühmten Monologes klingt hier, wie er immer klingt: "Ein Mensch zu sein oder nicht...", heißt es da, ein Schädel kommt auch nicht vor. Und die eintrudelnde Hofgesellschaft gibt diesem Hamlet nicht einmal Zeit genug, sein Sinnieren auszukosten.

So klopft die Regisseurin dem Stoff den Staub ab und zeigt einen rasenden Hamlet, dessen Straucheln und Zaudern sich immer wieder auch körperlich, in epileptischen Anfällen, ausdrückt – eine Art moderner Fürst Myschkin aus Dostojewskis "Idiot". Dessen Moral scheitert am Zynismus der Macht, die Peter Lüchinger als Claudius glänzend personifiziert, assistiert von seinem Gefolgsmann Polonius (Michael Meyer).

Kalt bis kindsköpfig

Was übrigens nicht die einzige Ebene dieser Arbeit ist: Da gibt es Rosencrantz und Guildenstern, die zu einer Art Turbo-Folk als zotige Russen die Szenerie betreten und Stichwörter wie "Kapitalismus", aber auch pornografisches Vokabular der drastischeren Art injizieren und Hamlet als "Schwuchtel" bezeichnen – Symptom einer Gesellschaft, in der Härte als Stärke gilt. Da herzen sich Polonius und sein Sohn, derweil das Königspaar sich in stilisierter Gestik kaum je berührt. Da wird Heiner Müllers "Hamletmaschine" angeworfen, als Hamlet seine Mutter bestürmt. Da gibt es offenbar ein technisch hochgerüstetes Überwachungsregime.

Ohne das Stück zu überfrachten, sorgt das für einen spannenden Abend, der von seinem Publikum einfordert, sich auf seine visuellen, gestischen Mittel einzulassen, und nicht zuletzt auch auf den Sound, den Somaini geschaffen hat. Hoch artifiziell, geradezu kalt auf der einen Seite, hoch emotional bei Hamlet, kindsköpfig bis an die Grenze des Erträglichen bei Ophelia (Svea Meike Petersen, auch als Gertrude zu sehen).

Am Ende ist wenig Hoffnung: Nach dem Duell, bei dem sich Laertes (Gunnar Haberland) und Hamlet in einer Art Wetttauchen messen, reiht sich selbst Horatio (reizvoll zwischen naiv und weise changierend: Janina Zamani) ein in die geisterhafte Prozession, die um die mittlerweile am Boden liegende Plastikhülle kreist.

Hamlet
von William Shakespeare
Übersetzung: Jürgen Gosch / Angela Schanelec
Regie: Nora Somaini; Bühne: Ulrich Leitner; Kostüme: Heike Neugebauer; Video-, Sounddesign: Till Caspar Juon; Dramaturgie: Stephan Weiland; Mit: Christian Bergmann, Svea Meike Petersen, Peter Lüchinger, Gunnar Haberland, Michael Meyer, Janina Zamani

www.shakespeare-company.com

 

Mehr lesen über andere Hamlet-Inszenierungen der letzten Zeit? Christian Stückl schrammte im Münchner Volkstheater knapp am Kunsthandwerk vorbei (November 2009). Beim Leipziger Festival euro-scene war Oskaras Koršunovas "Hamletas" aus Litauen zu sehen (November 2009). Und die Interkulturalitäts-Künstlerin Monika Gintersdorfer ließ ihre Performer in "7 % Hamlet" am Deutschen Theater Berlin das überforschte Territorium mit eigener Biographie und Erfahrung besetzen (Oktober 2009).


Kritikenrundschau

In der taz-Nord (30.1.2010) schreibt Klaus Wolschner über Nora Somainis "Hamlet"-Version für die Bremer Sakespeare Company, die Regisseurin habe aus der alten Geschichte und den alten Sprüchen ein "beinah multimedial gestaltetes Märchen" gemacht. Die riesige Plastikplane, "die als bewegte flexible Leinwand funktioniert", sei "eine faszinierende dramaturgische Idee". Hamlet-Darsteller Christian Bergmann ziehe die Zuschauer im Laufe des Abends "immer mehr in seinen Bann – als Verkünder der Shakespeare-Wahrheiten und als Mann, dessen Irrsinn eine fast schon normal zu nennende Reaktion ist auf die irrsinnige Welt". Ein überzeugender Hamlet, vor allem im zweiten Teil.

Ganz anders sieht das Alexander Schnackenburg in der Kreiszeitung (30.1.2010). Somaini habe den "Hamlet" "auch nach mehrwöchiger Probenzeit immer noch nicht verstanden", das werde "in dieser Inszenierung offensichtlich, und zwar spätestens nach zehn Minuten (...). Wer den Text kennt, spürt sofort: Es geht in die falsche Richtung!" Peter Lüchinger unterstreiche als Claudius "nahezu jeden seiner Sätze mit einer affektierten Gebärdensprache". Natürlich könne man ein so vielschichtiges Stück unterschiedlich deuten. "Wer aber den Text liest, wird im Normalfall zu dem Ergebnis gelangen, dass es sich (...) um ein 'Trauerspiel' handelt und nicht um eine Klamotte." So versuche die Regisseurin in anderen Szenen dann auch wieder "zurück zu rudern" und nehme Shakespeares Figuren "auf einmal – wenigstens partiell – (...) wieder ernst". Doch da sei es bereits zu spät, die "Fallhöhe des Stücks" verloren. "Man nimmt der Inszenierung keine Ernsthaftigkeit mehr ab: Sie rauscht vorüber, ohne den Zuschauer jemals zu bewegen. Umso weniger, als viel zu viel Schnickschnack auf der Bühne vom eigentlichen Geschehen ablenkt." Was etwa soll das ständige Abgefilme mit der Handkamera? Fazit: Dieser "Hamlet" sei "vollkommen missraten".

Somaini erzähle das "tot interpretierte" Stück als "effektvolles Kammerspiel" mit "supercoolen Projektionen" und "zurückhaltender Musik", die "stimmungsvoll ins sinnliche Erlebnis" hineinwirke, schreibt wiederum Lars Warnecke im Weser-Report (31.1.2010). Dass dieser "Hamlet" nicht zur "seelenlosen High-Tech-Show" gerate, sei Somainis Ideenreichtum, teils "deftigem Humor" sowie den "exzellent agierenden" Schauspielern zu verdanken. Nach zweieinhalb "atemlosen Stunden" mit "freiwillig komisch inszeniertem Gift-Duell" am Ende sei "die Welt als Mördergrube enttarnt".

 

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