Mein ist die Rache, redet der Rosshändler

von Shirin Sojitrawalla

Wiesbaden, 30. Januar 2010. Die Prognosen standen nicht gut. Die meisten versprachen sich wenig von einer Dramatisierung des "Kohlhaas". Was sollte das auch bringen? Heinrich von Kleist hat schließlich in seiner meisterlichen Novelle alles gesagt – und das in feinnerviger Umständlichkeit, die sich nicht ohne weiteres im Theater auf den Punkt bringen lässt. Doch schon 1828, keine 20 Jahre nach dem Erscheinen der Erzählung, kam die erste Dramatisierung heraus, und es sollten viele folgen.

Auch die Regisseurin Konstanze Lauterbach hat sich nicht schrecken lassen und gemeinsam mit ihrer Dramaturgin Dagmar Borrmann eine stark gestraffte Theaterfassung der Erzählung geschrieben, die zwar viel weglässt und manches umdichtet, aber den Kern des Ganzen dennoch nicht beschädigt. Selbst den bürokratischen Chronistenstil Kleists bringen die beiden in ihren Dialogen unter, und die Stimme des Erzählers tönt bei ihnen aus vielen Kehlen.

Der kleine Mann als Che Guevara

So weit, so gut. Doch auf der Bühne? Aufstand, Feuer, Reiter und so weiter? Um es vorwegzunehmen: Lauterbach und ihr gut eingespieltes Ensemble adaptieren den Stoff szenisch dicht, abwechslungsreich und unterhaltsam für die Bühne. Das mag oberflächlicher sein als das Original, aber es ist ohne Zweifel auch unterhaltsamer, weniger anstrengend und manches Mal richtiggehend erhellend.

Den Rosshändler Michael Kohlhaas spielt in Wiesbaden Michael Günther als gemütlichen Papa in Cordhosen, der ziemlich ungemütlich werden kann, wenn er sich um sein Recht betrogen sieht. Er ist der kleine Mann, der den Aufstand gegen die Mächtigen wagt, den gewaltvollen Widerstand probt und dafür vom Volk wie Che Guevera angehimmelt wird. Dabei ist seinem Aufbegehren, das nur die Seinen als einen gerechten Krieg empfinden, durchaus etwas kindisch Trotziges zu eigen. Dieser Mann will einfach nicht einsehen, wie die Welt tickt, und noch weniger kann er seinem Feind vergeben, was angesichts des Unheils, das er anrichtet, das Klügere gewesen wäre.

Choreografierter Habitus

Diesen Feind verkörpert Wenzel von Tronka, den Lars Wellings als nölige Adels-Schwucke im Lachnummernformat gibt. Doch der wahre Antipode zu Kohlhaas ist Nagelschmidt, der lupenreine Bösewicht, der sich aufgeilen kann an Leid und Elend, das er verursacht. Oliver Breite spielt ihn als gewitzt bösen Geist, dessen Anziehungskraft sich auch aus seiner ehrlichen Gemeinheit speist. Der personalreichen Erzählung rückt die Inszenierung mit allerlei Doppel-, Dreifach- und Vierfachbesetzungen zu Leibe – das könnte leicht peinlich werden, funktioniert an diesem Abend aber gut.

So spielt der mit seiner Bühnenpräsenz auftrumpfende Oliver Breite nicht nur Nagelschmidt, sondern auch den Kurfürst von Sachsen, der in seiner ganzen Haltung, Gestik und Artikulation nur so vor Staatskalkül strotzt. Wie überhaupt die Figuren in ihrem ganzen Habitus choreografiert scheinen, jede noch so kleine Handbewegung oder Ausstellung eines Fußes charakterisiert sie. Unbedingt zu erwähnen ist auch Jörg Zirnstein, der als Knecht Herse den Schmutz vergangener Zeiten atmet und auch als Prinz von Meißen umwerfend auf den Punkt genau agiert.

Rechtschaffen, aber auch entsetzlich?

Karen Simon hat das Ensemble in Kostüme aus dem Nirgendwo und -wann gesteckt und Andreas Jander die Bühne mit zwei haushohen Holzblöcken zerteilt, die sich verschieben und drehen lassen, darin sind Türen und Fenster eingelassen, so dass sie für wechselnde Schauplätze gerade stehen. Und wenn Kohlhaas und seine Mannen die Tronkenburg einäschern, sieht man zwar kein Feuer auf der Bühne, aber man riecht es, es stinkt bestialisch verbrannt, und mehr braucht es nicht.

Kohlhaas ist der Verantwortliche für diese Mordbrennereien, sie geschehen auf seinem Rachefeldzug im Namen der Gerechtigkeit, wobei die filmmusikgeschwängerte Inszenierung ihn zumindest vor ungnädigen Verurteilungen schützt. So wirft etwa nicht er selbst in einer der grausamsten Szenen Säuglinge aus dem Fenster in den Tod, sondern seine Männer. Bei Kleist indes heißt es schon im ersten Satz, Kohlhaas sei einer der "rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit".

Die Ambivalenz der Figur, die einen Großteil ihres Reizes ausmacht, steht an diesem Abend aber nicht im Vordergrund. In Wiesbaden bleibt Kohlhaas trotz aller Rachsucht und allem Selbstjustizgebaren ein Mensch, dem man seinen scheinbaren Triumph am Ende gönnt. Ob das gerecht(fertigt) ist, ist die große Frage.

 

Michael Kohlhaas
nach der Novelle von Heinrich von Kleist
Theaterfassung: Konstanze Lauterbach und Dagmar Borrmann
Regie: Konstanze Lauterbach, Bühne: Andreas Jander, Kostüme: Karen Simon, Musik: Achim Gieseler, Dramaturgie: Dagmar Borrmann.
Mit: Michael Günther, Oliver Breite, Doreen Nixdorf, Jörg Zirnstein, Lars Wellings, Tobias Randel, Uwe Kraus, Florian Thunemann, Eva-Maria Damasko, Bruno Winzen, Michael von Bennigsen, Benjamin Krämer-Jenster, Steven Gänge, Gregor Müller u.a.

www.staatstheater-wiesbaden.de


Mehr zu Regiearbeiten von Konstanze Lauterbach im nachtkritik-Archiv: im November 2009 machte sie aus Tom Lanoyes krude assoziierendem Atriden-Text Atropa am Theater Konstanz ein bildmächtiges Lamento auf die geschundene Frau. Im Februar 2008 poetisierte Lauterbach in Leipzig Hans Magnus Enzensbergers Calderón-Variation Die Tochter der Luft.

 

Kritikenrundschau

"Ein trockener Stoff. In Bandwurm-Prosa" ist Heinrich von Kleists Novelle "Michael Kohlhaas" für Viola Bolduan vom Wiesbadener Tagblatt (1.2.2010). In der Inszenierung von Konstanze Lauterbach würde sie jedoch "zum lauten, bunten und – man mag es kaum glauben – unterhaltsamen Spektakel". Bei Michael Günther sei Kohlhaas "ein präsent kraftvoller Kerl, dem man den Ausbruch seiner Wut eher glaubt als die Phasen, durch die sie sich anstaut". Und Oliver Breite sei in der Rolle des Nagelschmidt "fulminant", als Kurfürst "geschmeidig perfide". Der "präzise Stimmenchor" trage "erzählend und erklärend (...) über Kürzungen hinweg. Fast ist es durchweg Kleist-Text, der, sehr organisch dramatisiert, gesprochen wird." Dem Zuschauer gingen die Augen über, Karen Simon kleide die Komparsen des Aufruhrs "mit schriller Fantasie ein", während sie "dem Kohlhaas’schem Bürgersinn dessen biedere Brauntöne" lasse. "Rasante Szenenwechsel demonstrieren eine Welt, die in Unordnung gerät und damit auch clowneske Momente in sich birgt. Komödiantisch lässt sich die Tragik eines Michael Kohlhaas für heutiges Publikum vielleicht noch am eindringlichsten erzählen."

Lauterbachs Inszenierung verdanke dem Bühnenbildner Andreas Jander ziemlich viel, schreibt Eva-Maria Magel in der Rhein-Main-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen (1.2.2010). Dessen Bilder übernähmen "einen ordentlichen Teil der schwierigen Aufgabe", Kleists "ungeheuerliche Geschichte" auf die Bühne zu bringen. Lauterbach weise "mit einem großartig agierenden Ensemble jeder Figur (...) eine Eigenständigkeit zu. Zumal Michael Günther (...), der vom jovialen Gemütsmensch zum Gerechtigkeitsfanatiker wird". Beeindruckt ist Magel v.a. auch von Doreen Nixdorf, Jörg Zirnstein und Lars Wellings. Zuweilen ergäben die Doppelrollen sogar "doppelten Sinn". Bisweilen entstünden "Momente, in denen die Psychologie Raum bekommt, denn ansonsten ist kaum mehr als die Handlung zu sehen". "Das Ambivalente, das Prekäre, die Frage nach Recht und Rechtfertigung, Kleists Urthemen, müssen indes zu kurz kommen, das Wunderbare auch." Auch wenn der Wiesbadener Abend "durchaus kurzweilig" sei und das Publikum "begeistert", gelinge es nicht, "den eigentlichen Skandal, das Beunruhigende an jener Figur hervorzukehren, die Kleist im ersten Satz als den 'rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit' beschreibt."

Judith von Sternburg empfiehlt in der Frankfurter Rundschau (3.2.2010) die wiederholte Lektüre des Kleist-Kohlhaas in unserer Zeit des "ausbleibenden Zorns". Die Wiesbadener Theaterfassung von Konstanze Lauterbach und Dagmar Borrmann sei "dramaturgisch überzeugend", die Inszenierung hinterlasse dagegen einen "zwiespältigen Eindruck". "Vernünftig" der Verzicht darauf, "tagesaktuell zu bebildern". Michael Günther als Kohlhaas "ein stabiler Baumstamm und glücklicher Familienvater", werde vor allem von dem Wort "Schlucker" verfolgt. Trotz seiner Alles-oder-Nichts-Politik würde er gerne in ein "friedliches bürgerliches Leben zurückkehren". "Entsetzlich" sei er nie. Und das sei das Problem des Abends. Zu "zeitlos adrett" die Bühnen-Bilderwelt von Andreas Jander, zu "geschmackvoll" die Kostüme von Karen Simon, zu "gediegen" die Stoffe, zu "flott melancholisch" die Filmmusik. Oliver Breite und Lars Wellings genössen "das Bösesein auf überzeugende, unterhaltsame Art", da wünsche man sich "womöglich doch etwas Brachialeres. Und weniger Träumerei, Choreografie und possierliche Maskerade." Wobei: Wenn das "neckisch bunte Volk", Kohlhaas zujubele, tue es das "leise" und ziehe "schnell den Kopf" wieder ein. Insofern sei Lauterbachs "Kohlhaas" der "Kohlhaas" "zur Stunde".

 

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