Der Eigenbrötler

von Lena Schneider

Edinburgh 30. August 2007. Er habe ein Schmetterlingshirn, sagt Neil Doherty unvermittelt, "a butterfly mind". Wir streifen durch die Irrgänge der "Arches", auf der Suche nach einem ruhigen Ort für unser Gespräch. The Arches, ein Theater in bunkerartigen Hallen unter der Glasgower Central Station, eignet sich gut für Irrgänge. Fensterlos, düster, undurchsichtig. "Es fällt mir schwer, voraus zu denken, meine Gedanken sind immer überall." Tatsächlich ist Doherty sprunghaft im Gespräch, assoziativ, oft lässt er Gesten, Geräusche, kurze Momente der Stille, erklären, was er sagen will. Sätze, die nicht funktionieren, lässt er offen. Wir biegen um zwei weitere Ecken und landen in einem fensterlosen Probenraum. Über unseren Köpfen rattert ab und an ein Zug vorbei. Er sagt, das Beste, was an Theater in Schottland momentan entstehe, stamme von hier.

Sweet Little Sixteen

Das erste Mal stand Doherty, Jahrgang 1963, auf einer Bühne, noch bevor er sechzehn war. Das war in Dublin, am renommierten Project Arts Centre unter Jim Sheridan. Weil Sheridan einen obdachlosen Jungen suchte und Doherty ein ziemlich schmächtiger Bursche war, bekam er die Rolle. Sie hatte nicht viel Text, aber sie führte ihn ein in die professionellen Theaterkreise Dublins. Für einige Zeit stand das Schauspielen von da an im Vordergrund: Dublin Youth Theatre, National Youth Theatre, später dann, in Glasgow, Gemeindetheatergruppen und, wieder in Dublin, Comedy. Glasgow, die Stadt seiner Geburt, und Dublin – zwischen diesen beiden Orten spielt sich sein Leben ab, nie hat er anderswo leben wollen. Am wenigsten, wie so viele Glasgower, in Edinburgh ("Zu wenige Schotten, nur Engländer").

Keine Antworten zu bieten

Seine erste Regie ist Dario Fos "Accidental Death of an Anarchist" in einem Community Center in Glasgow. Dario Fo, Eugène Ionesco, vor allem Samuel Beckett – im absurden Theater findet er, was er als Regisseur sucht. "Ich mag es, zu verwirren, zu dekonstruieren, das Publikum suchen zu lassen. Es soll nicht unbedingt leiden, aber es doch nicht zu leicht haben. I want them to earn the points". Er selber habe keine Antworten zu bieten, will auch als Regisseur dem Publikum keine vormachen. "Ich mag Fehlschläge: versagen, und dann besser versagen, wie Beckett sagt." Er beschreibt sich selbst als "Schauspieler-Regisseur", der vor allem versucht, die Schauspieler geborgen durch den Probenprozess zu bringen. "Kollaboration zwischen Darstellern und Regisseur ist wichtig. Ich bin nicht derjenige, der alles entscheidet. Es passiert zusammen." Das Reizvollste ist dabei das Unerwartete, Unplanbare: "Das Schönste am Theater sind glückliche Zufälle."

Preis für Joyce Carol Oates-Inszenierung

The Arches, seit der Gründung 1991 eine der wichtigsten Plattformen für neues schottisches Theater, sind eng verbunden mit Neil Dohertys Weg als Regisseur. Das erste Mal inszenierte er hier 2003. Mit "Tone Clusters" von Joyce Carol Oates bewarb er sich damals um den Arches Award for Stage Directors – "einfach, um mir zu zeigen, dass ich es schaffen kann" – und gewann.

In dem Stück geht es um den Mord an einem jungen Mädchen in der amerikanischen Provinz. In Dohertys Inszenierung sitzt ein Ehepaar wie angeklagt vor einer überdimensionalen Fotografie ihres Sohnes, dem Hauptverdächtigen. Eine anonyme, teils verstörend verzerrte Stimme aus dem Off peinigt sie mit Fragen. Auf Fernsehbildschirmen entfaltet sich der Grundriss des Tatorts, Strichmännchen zappeln dazwischen, als würde jemand versuchen, eine Topografie der Geschehnisse darzustellen. Alles, was an der Regie gut ist, sei schon in Joyces Text, sagt Doherty: Ein universales, menschliches Thema. Mut zur Brechung. Fragmentierung von Geschehnissen. Das Beckettsche Spiel mit der täglichen Routine, die immer gleich und doch nie dieselbe ist. Und eine Sprache, präzise und poetisch, "wie die Liedtexte von Laurie Anderson".

Vereinfachungen vermeiden

Nach "Tone Clusters" folgten unter anderem die Arches-Produktionen "Danger Hollow Sidewalk" von Rebecca Sharp und "Pit" von Megan Barker. "Pit", das mit großem Erfolg beim diesjährigen Fringe gezeigt wurde, greift das Thema soziale Ungerechtigkeit auf. Es ist die Geschichte einer mittellosen Frau aus den amerikanischen Südstaaten, die ihrem Sohn das letzte Mahl bereitet. "Es war mir wichtig, die Frau, die zufällig außerhalb der ökonomischen Norm lebt, als so gewöhnlich wie möglich zu zeigen. Ohne Krankenversicherung und Fürsorgerecht. Und die nicht etwa in der dritten, sondern in der ersten Welt lebt. Wo man mehr Geld in die Armee steckt als in soziale Netzwerke." Etikette wie "böse", "Lügnerin", alles Vereinfachende, wollte er vermeiden. Um jeden Preis.

Ich sehe mich als Eigenbrötler

Trotz des Erfolgs – eine neue Inszenierung in den Arches, etwas "bislang Unversuchtes", ist in Planung – besteht Doherty darauf, unabhängig zu sein. Seine eigenen Produktionen laufen dort unter dem Namen "Seenunseen Productions". Das will er: ungesehen gesehen werden. "Ich sehe mich als Eigenbrötler", sagt er. "Wenn mir morgen einer die künstlerische Leitung des Royal Lyceums' anbieten würde, ich würde wahrscheinlich ablehnen." Das Lyceum, eines der großen Theater in Edinburgh, wie auch das 2006 gegründete National Theatre of Scotland, sind Institutionen, von denen er sich nicht bestimmen lassen will. "Ich will nicht mit dem Kulturministerium anbändeln und mich um Versicherungen und Arbeitsschutz kümmern müssen. Vermutlich ein weiterer Fehlschlag." Die Schauspielerei, nicht die Regiearbeiten, sei im Grunde das einzige, mit dem er je Geld verdient habe. "Aber ich will einfach Kunst machen, produzieren. Mit beiden Händen arbeiten."

 

www.thearches.co.uk

 

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