Lauter nette Leute

von André Mumot

9. Februar 2010. Hier spricht ein Liebender. Deshalb wundert sich der Leser auch nicht, wenn Hajo Kurzenberger plötzlich von seinem "inzwischen beträchtlich angewachsenen Wieler-Archiv" berichtet. Als Dramaturg hat er mit ihm am Theater Neumarkt Zürich zusammengearbeitet und kann seitdem nicht von ihm lassen. Wegen Jossi Wielers "großer Wertschätzung für Menschen" zum Beispiel. Und weil Wieler auch "zugeben kann, dass er etwas nicht weiß", weil er als Regisseur manchmal nur zuhört und weil deshalb ein "spielerisch-liebevoller Umgang zwischen den Beteiligten" herrsche.

Auch als inzwischen emeritierter Professor für Praktische Theaterwissenschaft schaut Kurzenberger gern hinter den Vorhang, liest mit Passion Probenprotokolle und empfiehlt seinen Kollegen das Gleiche: Die Theaterwissenschaft möge sich in Zukunft bitte nicht nur um Aufführungsanalysen, sondern auch um die "soziale Kunstform Theater" kümmern, um die Plackerei der Ideenfindung, um den "kollektiven künstlerischen Prozess".

Das böse autoritäre Theater

Dabei ist das Feindbild schnell klar. Autoritäres Regie- und Protagonistentheater sind für den Autor bloß hässliche Symptome von bösem Spätkapitalismus. Dass es vielleicht auch anders geht, wird an den historischen Beispielen mehr oder weniger erfolgreicher Theaterkollektive illustriert: an Peter Steins früher Schaubühnenzeit, am Schauspiel Frankfurt in den 70er Jahren oder an der einverständlich miteinander singenden Marthaler-Familie.

Apropos miteinander singen: Ein zweiter Schwerpunkt des Buches ist der Bühnenchor, jenes inflationäre Darstellungsmittel, in dem das Gemeinschaftsprinzip auch szenisch erlebbar wird. Im Idealfall mache so ein Chor nämlich aus "sozialisierten Disparaten, die wir alle sind, für eine kurze Zeit (...) sozialisierte Sozialisierte". Und so reflektiert Kurzenberger kurz und anschaulich, wie Max Reinhardt und Peter Stein, wie Ariane Mnouchkine, Einar Schleef und Volker Lösch mit Chören gearbeitet haben oder es immer noch tun.

Das gute schöne Kollektiv

Das Schwärmen aber kann er nicht lassen und findet die wirklich basisdemokratische Chorarbeit erst in der praktischen Theaterwissenschaft seiner eigenen Aufführungs-Projekte an der Universität Hildesheim verwirklicht: "Hier begegnen sich die gemeinsam Forschenden, Spielleiter und Spieler, Lehrende und Lernende auf fast gleicher Augenhöhe und in wechselnden Rollen, (hier) geht man davon aus, dass es beim Theatermachen und seinem kreativen Prozess kein Richtig oder Falsch gibt, allenfalls ein Besser oder Schlechter im Blick auf eine szenische Lösung, die aber jeweils empirisch und intersubjektiv überprüft werden kann und im Hinblick auf das sich immer wieder verändernde Darstellungsziel argumentativ zu begründen ist."

Mit dieser grauen Seminarsprache muss der Leser sich abfinden. Leider holpert das ganz von subjektiven Sympathien geleitete Unterfangen aber auch bei der Suche nach verbindlichen Thesen – spätestens wenn Kurzenberger zur Hymne auf die neun Intendanzjahre von Wilfried Schulz am Schauspiel Hannover ansetzt. Das hat dann nichts mehr mit Chor und auch nichts mehr mit Basisdemokratie zu tun, sondern höchstens damit, dass sich gelungenes Theater mal auf die eine und mal auf die andere Weise verwirklicht.

Aber was soll's: Immerhin stupst das Buch uns sozialisierte Disparate in Richtung Praxis und verfügt über eine Zentralerkenntnis, die tröstlicher kaum sein könnte: Theater, sagt Kurzenberger, funktioniert manchmal auch mit netten Menschen.

 

Hajo Kurzenberger
Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper, Probengemeinschaften, theatrale Kreativität
Transcript Verlag, Bielefeld 2009, 248 S. 25,80 Euro

 

Weitere Buchrezensionen? Zuletzt hat sich nachtkritik.de André Eiermanns Abhandlung zum Postspektakulären Theater gewidmet.

 

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