Ragout fin

von Felizitas Ammann

Zürich, 9. Februar 2010. Man hat eine gewisse Affinität zum Kino im Zürcher Theater Neumarkt. Leiter Rafael Sanchez gab sogar seinen Einstand mit der Adaption eines Films (Der Boss vom Ganzen nach Lars von Trier), und diese Spielzeit standen schon Baby Jane und Das Interview (nach Theo van Gogh) auf dem Programm. Und nun also Godard. Für dieses gewagte Vorhaben hat man mit dem Regisseur Robert Lehniger einen Fachmann engagiert, der seit vielen Jahren mit bewegten Bildern arbeitet. Bevor er selbst Regie führte, produzierte er Videos für Stefan Bachmann, Albrecht Hirche, Stefan Pucher oder Christiane Pohle.

Jean-Luc Godards "Week End" von 1968 ist nicht irgendein Film. Er gilt als "Anti-Film", der mit grossem Getöse das Ende des Erzählkinos markiert. Godard tut dies nicht etwa durch Abstraktion, sondern indem er seinen Handlungsfilm mit Illusionsbrüchen, kommentierenden Schrifttafeln und einer überbordenden Menge an absurden Vorkommnissen torpediert. Exemplarisch ist die knapp zehnminütige Kamerafahrt entlang eines grotesk inszenierten Verkehrsstaus – schrilles Hupkonzert inklusive. Bei Robert Lehniger sieht das so aus, dass sich alle Schauspieler auf einem kreisförmigen Laufband drängeln und schubsen, in der Hand Tafeln mit Auto-Fotos drauf.

Hart im Nehmen wie im Geben

Irene Ips Sperrholz-Filmset bietet dem Ensemble das optimale Setting, in dem der Film nachgespielt, gefilmt, gebastelt wird. Es gibt ein Cabrio samt Rückprojektion für Autofahrten, das Laufband für Bekanntschaften im Vorbeifahren, Leinwände natürlich, Videokameras und jede Menge Theaterblut. Denn die Geschichte ist eine düstere: Ein junges Paar fährt aufs Land, um sich dort vom Vater der Frau – den es zuvor langsam vergiftet hat – das Erbe zu holen. Wobei sich beide insgeheim betrügen und letztlich gegenseitig an den Kragen wollen. Statt einer gemütlichen Fahrt ins Grüne erleben sie nun einen apokalyptischen Trip voller Gewalt und Bedrohung, bis zum grausigen Ende eines kannibalischen Mahls mit der (unterschiedlichen) Beteiligung von beiden.

Doch nicht nur diese zwei leiden. Auch der Filmzuschauer wird ob der ständigen Aggressivität, der Absurdität und Länge gewisser Filmszenen allmählich mürbe. Im Theater Neumarkt dagegen amüsiert man sich erstmal ganz gut. Denn hier herrschen Tempo, Witz und Spiellaune. Lehniger erzählt die Geschichte schwarzhumorig deftig, und das Ensemble fühlt sich sichtlich wohl. Katharina Schmalenberg und Sigi Terpoorten geben ein hinreißendes egoistisches Paar, hart im Geben wie im Nehmen. Jörg Koslowsky, Rahel Hubacher und Matthias Breitenbach schlüpfen mit Verve von einer Rolle in die nächste: ob Emily Brontë, Revolutionär Saint Just, Hans im Glück oder Rebellenführer. Dazwischen wieselt Sebastian Weber mit Godard-Brille herum, kommentiert und bedient Kameras.

Fatale Offensichtlichkeit

Das Spiel mit den verschiedenen Medien ist gekonnt und leichthändig. Um ästhetische Befreiung (oder wie es einmal heißt: "Freiheit und Brüderlichkeit für Realität und Fiktion") muss man sich heute nicht mehr so krampfig bemühen wie vor 40 Jahren. Die inhaltlichen Thesen des Films dagegen haben ihre Gültigkeit behalten. Die Kritik an der konsumgeilen Gesellschaft und an der durchökonomisierten Freizeit ist heute virulenter denn je. Entsprechend ist es für Lehniger ein Leichtes, die Filmszenen aktuell zu interpretieren: vom Bauern den Bogen zu den Lohas zu schlagen oder die Hippies als Yogalehrer zu zeigen.

Die Aktualität des Stoffes ist schnell offensichtlich, doch gerade das wird dem Abend fast zum Verhängnis. Der These gibt es nicht viel hinzuzufügen. Vielleicht liegt es dann eben doch an der Form: Hatte Godard als Reaktion auf eine brutale, zunehmend entgleitende Realität eine verstörende Ästhetik entwickelt, so wird heute ein spielerischer, leicht konsumierbarer Theaterabend daraus. Zum Preis, die Existentialität der Anliegen behaupten und erklären zu müssen – etwa in den redundanten Monologen über Freizeit und selbstbestimmtes Leben gegen Ende des Stücks.

Der Film endet mit den berühmten eingeblendeten Sätzen: "Ende der Geschichte. Ende des Kinos." Das Theaterstück endet mit Corinnes Bestellung von mehr Ragout mit Fleisch ihres Mannes: "Ich nehm dann noch einen Teller!"


Week_End
nach Jean-Luc Godard
Regie: Robert Lehniger, Bühne/Kostüme: Irene Ip, Video: Tobias Yves Zintel, Dramaturgie: Britta Kampert. Mit: Matthias Breitenbach, Rahel Hubacher, Jörg Koslowsky, Katharina Schmalenberg, Sigi Terpoorten, Sebastian Weber.

www.theaterneumarkt.ch

 

Mehr zum Programm des Theaters am Neumarkt lesen Sie in den Nachtkritiken in der entsprechenden Archivliste. Robert Lehniger inszenierte unter anderem im Oktober 2008 das Remake der Nibelungen in Frankfurt.

 

Kritikenrundschau

Auf der Internet-Seite des Tages-Anzeigers aus Zürich schreibt Alexandra Kedves (11.2.2010), dass sie angesichts zweier "Livekameras", zweier "Riesenleinwände (und ein paar kleinere)" sowie einer "Menge Videopassagen" schon "das Schlimmste" befürchtet hatte. Belohnt wurde sie aber mit dem "vielleicht Besten", was "sich heute für die Bühne aus dem Film herausdramatisieren lässt". Nämlich: "100 Minuten Politik und Pulp, 100 Minuten Gier und die Armut unserer Begierden – 100 Minuten, die den Puls nach oben treiben." Es passe, wenn Godards "bekannte Dialoge (und weniger bekannte Texte)" vor der "unverbrämten Kulisse" eines Haus-Gerippes und des Kartonkadavers eines Auto gesprochen werde, denn "Illusionskunst" brauche es gar nicht "in dieser harten Abbildung gesellschaftlicher Realität", bei der Lehniger die "godardsche Apokalypse der Gesellschaft" immer gleich mitdenke. Zwar habe das "Pingpong-Match zwischen den Medien" Längen, aber "wirklich grandios" werde "Week End", wo das Stück Schwung hole beim Film und dann "in die Vollen geht und vom Hometrainer über Fastfood bis hin zu Arbeitsterror und Freizeitstress alles aufs Korn nimmt – theoretisch aufgerüstet, ironisch aufbereitet und optisch ausgespielt".

In der Neuen Zürcher Zeitung (11.2.2010) betrachtet Tobias Hoffmann bereits die Idee, "Week End" auf dem Theater umzusetzen als "Blasphemie". Die Inszenierung Lehnigers, der "spezialisiert" sei auf "die Schnittstelle Video und Theater", nehme sich "in erster Linie spielerisch" aus. Ein "Krippen- oder Schäferspiel mit lauter bösen Figuren". Schauspielerisch böte die Inszenierung "wenig Potenzial": Jörg Koslowsky, Rahel Hubacher und Matthias Breitenbach hätten "vor allem Kürzestauftritte", das mörderische Ehepaar sei auf "Gefühlskälte gestimmt" und bleibe wie bei Godard auch wenn das Gesetz des Dschungels regiere "irritierend gleichmütig". Diese Menschen seien nur "Material, einer ausser Rand und Band geratenen gewalttätigen Gesellschaft ebenso wie einer ins Extrem getriebenen ästhetischen Dekonstruktion". Es sei schwer, sich in diesen "Crash-Dummys wiederzuerkennen".

 

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