Pastor Ephraim Magnus - Silvia Rieger testet Hans Henny Jahnn auf seine Unbedingtheit
Zerrbild eines Jakobiners
von Wolfgang Behrens
Berlin, 18. Februar 2010. Eines muss man dieser Frau lassen: Konsequent ist sie. Seitdem sich die Castorf-Mimin Silvia Rieger an der Volksbühne auch als Regisseurin versucht, arbeitet sie unbeirrt an einem neuen Maßstab der Sperrigkeit. Wer eine der von ihr verantworteten Aufführungen gesehen hat, der wird möglicherweise noch Monate später wohlig erschauernd davon berichten, wie unfassbar zäh das war. Die Erlebnisqualität bemisst sich gewissermaßen nach dem Grad der Zumutung.
Um sich keinesfalls dem Verdacht auszusetzen, auch nur einen Millimeter von ihrem Weg abzuweichen, hat sich Silvia Rieger für ihren neuesten Streich einen besonders widerborstigen Stoff hergenommen: Hans Henny Jahnns "Pastor Ephraim Magnus". Das ist ein Text, den man in seiner Zerquältheit hassen kann, ja, hassen muss – während der Lektüre ertappt man sich manches Mal bei dem Gedanken, das Buch weit von sich und mindestens aus dem Fenster zu werfen. Unerträglich, provozierend, faszinierend.
Selbstkasteiung, Dämmer und Streckbank
Jahnn lässt in diesem 1916/17 entstandenen Drama, das zugleich sein erstes veröffentlichtes Stück ist, drei Geschwister, Kinder eines protestantischen Pfarrers, gegen die bürgerliche Gesellschaft antreten, die unter dem Deckmantel ihrer Moral Soldaten in den Krieg schickt und es sich ansonsten im Kleinlichen einrichtet. Ephraim, Johanna und Jakob begegnen dem mit einem aberwitzigen Unbedingtheitsanspruch, der sich in Exzessen verschiedener Art Bahn bricht. Und wenn sich selbst bedingungslose Liebe als Ausweg nicht mehr anbietet, so sind eben extremistische Gewalt und radikale Selbstkasteiung die Mittel der Wahl. Jahnn greift dabei tief in die Schockschublade: Nicht Blut, Schweiß und Tränen heißt die Losung, sondern Kot und Kreuzigung, Gedärm und Streckbank.
Silvia Rieger unternimmt nichts, was diese schwüle, im Dumpfen nach Klarheit ringende Vorlage zugänglicher machte. Sie interpretiert auch kaum, sie bietet vor allem: Sprache und Schrei. Und Licht und Schatten, denn die Zuschauer sitzen in der Unterbühne des Hauses zu zwei Seiten eines leeren Gevierts, das nur von seitlich hereinstrahlenden, scharfe Lichtkanten werfenden Lampen in ein bedrückendes Dämmer getaucht ist.
Beherrschung einer glühenden Figur
Rieger selbst gibt in diesem Arrangement mit Jakob den wohl zwielichtigsten Charakter. Jakob ist der Terrorist, gleichsam der Jakobiner unter den dreien: In grausamen Versuchsanordnungen testet er seine Mitmenschen auf ihre Eignung zu einer unbedingten, von allen bürgerlichen Vorstellungen befreiten Lebensführung. Wer sich als ungeeignet erweist, und sei es die eigene Braut, dem wird Jakob das Innere nach außen stülpen.
Die Rieger spricht ihren Jakob mit einer enervierenden Monotonie: Hatte sie in ihrer letzten Inszenierung Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar den Text noch Silbe für Silbe zelebriert, so geht sie diesmal immerhin zu Wortgruppen und syntaktischen Einheiten über, die sie jedoch fast durchgängig gleich moduliert, um schließlich am Satzende auf die immer gleiche Tonhöhe abzusinken. Dem Zuhörer ist damit wahrlich ein asketisches Exerzitium auferlegt, und ohne vorherige Textkenntnis vermag man hier (wie auch im weiteren Verlauf) wohl kaum zu folgen. Die Kälte und Beherrschtheit jedoch, mit der die Rieger diese in ihrer Selbstwahrnehmung so glühende Figur ausstattet, macht durchaus Eindruck.
Expressionistischer Ernst
Nach einer guten Stunde wird Jakob – zum Glück, möchte man sagen – hingerichtet, und in der Folge wird der bislang völlig statische Charakter der Veranstaltung etwas aufgebrochen: Es beginnt das Drama der Selbstzerfleischung, in das sich die beiden verbliebenen Geschwister mit Verve stürzen. Der Lautstärkepegel der (im Übrigen auf Musik komplett verzichtenden) Aufführung zieht schlagartig an, Mandy Rudski und Mex Schlüpfer brüllen sich ihre Qual an Gott und der Welt gegenseitig, nein, nicht in die Ohren, sondern in den Bauchnabel. Einige Kastrationen und Selbstverstümmelungen später gerieren sich die beiden – röchelnd, schreiend, rennend, humpelnd – wie Zombies aus den Horrorfilmen George A. Romeros, und sie betreiben das mit einem heiligen, expressionistischen Ernst. Die Lacher im Publikum – man spürt es förmlich –, sie sind nicht erwünscht.
Hans Henny Jahnn hatte eine gelinde gesagt sehr hohe Meinung von seiner Kunst: "Niemals sind mir die Werke anderer Dichter so klein erschienen als in dem Augenblick, da ich das Ungeheure meiner Werke übersehe", schrieb er unmittelbar im Umkreis seines "Pastor Ephraim Magnus". Doch er wusste auch, dass dieses Textmonstrum nicht wirklich bühnentauglich war: "Richard III. [der von Jahnn, nicht der von Shakespeare] kann rasenden Bühnenerfolg haben, Magnus kaum. Den muß man lesen: einmal, zweimal, dreimal. Er ist entsetzlich qualvoll." Da will man nicht widersprechen. Silvia Riegers Inszenierung des "Magnus" jedenfalls ist eine Folter. Doch was könnte sie anderes sein?
Pastor Ephraim Magnus
von Hans Henny Jahnn
Regie: Silvia Rieger, Licht: Torsten König, Dramaturgie: Ralf Fiedler, Dank für Raum- und Kostümideen: Bert Neumann.
Mit: Mex Schlüpfer, Mandy Rudski, Silvia Rieger, Anna Charim, Frank Büttner, Davide Scarano, Boris Scarano, Stefano Scarano, Michael Klobe.
www.volksbuehne-berlin.de
Mehr zu Silvia Rieger im entsprechenden Glossareintrag.
Kritikenrundschau
Angemessener Weise in der Unterbühne der Volksbühne spiele man Hans Henny Jahnns Erstlingswerk, das "in die Untergründe der menschlichen Existenz hinunter" führe, schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.2.2010). "So sprachmächtig wie schwärmerisch, so subversiv wie verquast" gehe es in dem Drama um "nicht weniger als die Suche nach dem richtigen Leben, der wahren Liebe, der ultimativen Freiheit." Von "expressionistisch- wollüstigem Überschwang" sei auf der Bühne "allerdings rein gar nichts zu sehen", weil Silvia Rieger "das Stück streng formalisiert und ohne psychologische Interpretationen als eisige Evidenz des Unerhörten aufbereitet." Sämtliche Figuren seien "mit schöner Intensität aus der Sprache entwickelt und vor jedem Aktionismus bewahrt worden." Fazit: "Konzentriert wie eine spiritistische Sitzung und ebenso verstiegen, entwickelt die gekonnt puristische Aufführung eine eindringliche Suggestivkraft: Als blühte auf der Unterbühne der Theaterkunststrand."
Als Erlebnisbericht, der sich schillernd auf der Schwelle zwischen Ironie und wahrhaftigem Lob ansiedelt, legt Dirk Pilz seine Kritik in der Berliner Zeitung (20.2.2010) an. Es sei ihm und seinen Freunden beim anschließenden Tischgespräch schnell unmöglich geworden, die "hohe Rätselhaftigkeit der künstlerischen Darbietung" an diesem Abend erörternd zu erfassen. Ein Gütesigel, denn "große Kunst lässt sich nicht mal eben beim Bier entschlüsseln." Ganz dem sperrigen Autoren Hans Henny Jahnn entsprechend, suche Silvia Rieger nicht, dem Publikum zu gefallen, "weder als Schauspielerin noch als Regisseurin. Sie will uns quälen und martern, wie sich die Figuren bei Jahnn quälen und martern. Es gelingt ihr grandios." Mit ihrer schon in früheren Arbeiten praktizierten Verweigerungshaltung imponiert Rieger dem Kritiker nachhaltig: "Wie großartig unzeitgeistig es ist! Wer wagt denn heutzutage noch diese vollkommene Verweigerung von Ironie, wer traut sich, gänzlich losgelöst von allen Gegenwartsbezügen zu inszenieren und dabei auf alle tumben Ablenkungs- und Unterhaltungsmechanismen zu verzichten! Und wo erlebt man sonst diesen edlen Geistesdünkel, die marmorne Divenhaftigkeit einer entrückten Bühnenkunst, die nichts will, außer dem Zuschauer seine Leidensgrenzen aufzuzeigen."
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Anschließend wäre "Pastor Ephraim Magnus" gekommen, aber ich ließ es schließlich sein, wegen möglicher optischer Überreizung und der Kritik von Herrn Behrens. Sicherlich, eine Kritik ist immer subjektiv, und das ist auch gut so, aber heute schlug Kollege Dr. Pilz in der Berliner Zeitung in die gleiche Kerbe. Ich habe kein Interesse daran, mich im Theater geistig foltern zu lassen. Nun, vielleicht hätte Pilz vor der Aufführung ein Pils trinken sollen und nicht nach der Aufführung, dann hätte er das geistige Erlebnis womöglich besser durchgestanden. Es soll auch Menschen geben, die aus sanften Qualen einen Genuss ziehen, aber das möchte ich niemanden unterstellen.
In summa: eigentlich wirkt die Kritik der Nachtkritiker abschreckend, aber jetzt bin ich erst richtig neugierig geworden. Vielleicht ist das auch ein guter Selbsttest, was mein Aushaltevermögen anbelangt.
Und irgendwann sind wir dann alle hoffentlich beim Theatertreffen. Denn nur da wollen wir ja alle hin.
Außer Frau Rieger.
Die hat was andres vor. Sie will nicht diesen Erfolg.
D i e s e n nicht. Das muß man ihr lassen.
Sehr konsequent. Konsequente Menschen sind extrem anstrengend. Und gemeinschaftsuntauglich.
Das könnte man ihr vorwerfen.
Ansonsten ist mir Riegers Sperrigkeit wesentlich lieber als der verbissene Ehrgeiz von Anne Ratte Polle.
Nur zum Beispiel.
Leider blieb Mandy Rudski die Stimme weg, sie war zwar auf der Bühne präsent, aber quasi tonlos, also übernahm die Rieger ihren Part und das Geschrei nahm bis zum Ende seinen Lauf. Ich wundere mich, dass ich nicht nach der Hälfte der Darbietung gegangen bin. Vielleicht fühlte ich mich mal wie Dostojewski: es gibt Tage, das muss man die Bitterstoffe bis zur Neige austrinken. Eine Selbstbestrafung für ein (geistiges) Verbrechen, das man gar nicht begangen hat.
Frau Rieger hat ihre manierierte Divensprache einmal abgelegt und in einem pathosarmen, kühl-sachlichen Tonfall gesprochen, der mich an eine präzis kalkulierende Geschäftsfrau erinnerte. Schockierend sind die angesprochenen Themen nicht, z.B. Wühlen in den Eingeweiden, Kopfabschlagen, Hervorstülpen der Geschlechtsorgane, Nageln ans Kreuz und Selbstkasteiung. Das kennt man bereits alles aus dem Theater. Unangenehm fand ich eher, wie diese Themen in das Stück eingebunden wurden sowie die Art und Weise der Darbietung. Die Lust am Schockieren war anscheinend ein wesentlicher Antriebsfaktor und zeitigte sogar die gewollten Ergebnisse, bei Herrn Pilz beispielsweise, der fasziniert war von der Kunst des Marterns. Abgesehen von seiner Freude am Gemartertwerden konstatierte er auch einen „edlen Geistesdünkel“, den ich vergeblich suchte. Wahrscheinlich auch die relativ wenigen Zuschauer, von denen etwa ein Drittel vorzeitig ging.
Angesichts der Bühnendominanz der Regisseurin war ich sogar froh, dass der sich mittlerweile bärtig präsentierende Klobe als optischer Neuorientierungspunkt auf der Bühne auftauchte. Und auch der für die Rolle eines raubeinigen Werktätigen wie geschaffene Büttner, der diesmal in einem Frack steckte.
Das Stück ist bestens geeignet für Leute, die genug von überheiteren Komödien haben und voller Sachlichkeit und Betroffenheit auf das Leben blicken wollen – zum Lachen gab es während der quälend langen 140 Minuten wirklich nichts. Im Gegensatz zu anderen Verlautbarungen gab es für mich in diesem Stück auch nicht viel zum Denken. Diese Art von gewollter Sperrigkeit liegt mir nicht.
Richtig, da sehe ich mir lieber Anne Ratte-Polle an, bei der alles leichtfüßig und gewandt daherkommt, manchmal auch clownesk oder bewusst ambitioniert. Im Vergleich zur Rieger ist Anne Ratte-Polle wie ein Erfrischungsbad. Aber ich möchte die beiden Schauspielerinnen nicht gegeneinander ausspielen, schließlich arbeiten sie beim selben Ensemble. Mögen die Rieger-Freunde eben zur Rieger gehen – liebt sie von mir aus!-, ich mache um ihre Inszenierungen in Zukunft einen großen Bogen.