Abschied von einem Philosophen

von Verena Großkreutz

Tübingen, 18. Februar 2010. "Professor Lear" ist ein gemütlicher Titel: Klingt vertraut und setzt doch Assoziationen in Gang. Ein Zwitter aus Professor Unrat und König Lear? Nein, mit beiden hat Joachim Zelters so benanntes Stück, das jetzt im Zimmertheater Tübingen in der Regie von Theaterleiter Christian Schäfer zur Uraufführung kam, so gut wie nichts zu tun.

"Professor Lear" entpuppt sich schon bald als irreführender Titel. Denn Professor Lear ist Professor Eiger, und der hat seine eigenen Probleme. Sitzt zu Beginn des Abends stumm und schwachsinnig vor seiner Schreibmaschine und starrt Löcher ins Papier. Kann nicht mehr schreiben. Die Worte sind ihm abhanden gekommen. Und damit auch die Welt. Professor Eiger ist dement.

Zelters Stück erzählt in Rückblenden den Grund dafür: Eiger, der als Philosophieprofessor hochdekoriert in den Ruhestand ging, hat offensichtlich nicht verkraftet, dass er schon bald von Kollegen, Assistenten, der Fachwelt, vergessen wurde. Bei seiner festlichen Verabschiedung an der Universität noch als "Eiger-Nordwand des Denkens" hofiert, kann er mit seiner ersten Ruhestandsarbeit, einem neuen Platon-Buch, keinen Eindruck mehr schinden. Für seine Schrift über den "Schönen Tod" findet er dann nicht einmal mehr einen Verleger. Der Körper ist willig, der Geist wird schwach: Ohne gesellschaftliche Reputation erlahmen ihm die Gedanken.

Sprach-, Zeit- und Raumverlust

Die Schreibmaschine will nicht mehr so, wie er es will, die Bücher werden ihm zu abstrakten Gegenständen, die Buchstaben verhakeln sich auf ihrem Weg zur Zunge, er verliert jegliches Zeitgefühl. Eiger wird triebhaft und kindisch. Seiner liebend-lobenden Mustergattin geht er bald gehörig auf den Wecker, während seine Enkelin, benannt nach der guten Lear-Tochter Cordelia, im immer tumber werdenden Alten eine neue Lebensaufgabe entdeckt und ihn einfühlsam bemuttert.

Ei der Daus, denkt man, das ist aber eine fixe Verwandlung vom anarchisch-nervenden Teenager zur treusorgenden Enkelin. Hat da die Großmutter recht, die in der plötzlichen Fürsorglichkeit der konsequenten Bildungsverweigerin, die die Schule "mitten in einer Mathearbeit" schmiss, den Triumph eines "privaten Siegs über den Intellekt" vermutet? Eine solche Fiesheit wäre interessanter Stoff für die Rollenauslegung gewesen. Aber Hannah Kobitzsch als Cordelia wurde vom Regisseur zu solchen charakterlichen Finessen nicht animiert. Sie wird tatsächlich richtig lieb. Da hat sich das Potential des Stücks aber längst schon erschöpft.

Parodie auf den Universitätsbetrieb

Man merkt Zelter seine Aversion gegen den Universitätsbetrieb, den er selbst 1997 verließ, um sich ausschließlich dem Schreiben zu widmen, zu deutlich an. Seine Bühnenfiguren wirken so schablonenhaft wie auf dem Boulevard: der schleimige Professorenassistent und -aktentaschenträger (Moritz Peters) – der ein Abziehbild dessen ist, was jeder kennt, der einmal eine Universität besucht hat – genauso wie der aalglatte, wichtigtuerische Karriereprofessor Mönch (Robert Arnold). Und leider betrifft das auch die Titelfigur: Der eitle Eiger ist nicht wirklich ein Geistesmensch, sondern ein hohler Phrasendrescher: "Ich bin Philosoph. Ich beschäftige mich mit Ideen. Philosophie ist der Triumph des Gedankens über den Körper. Besser ein toter Philosoph als ein nicht mehr denkender Philosoph usw."

Und einer, der schnell lächerlich wirkt in seiner weltfremden Verschrobenheit, was auch sein spießiges Bühnen-Zuhause, ein Wohnzimmer, ausstaffiert mit Nachkriegsmöbiliar, Erstausgaben-Regal und Gummibaum, nicht besser macht (Bühne und Kostüme Hella Prokoph). Seine Herrschsucht will nicht verschwinden mit der Demenz: Er artikuliert sich vor allem durch hysterisches Gebrülle. So verwandelt die Krankheit mit Eiger keinen hochgeistigen Menschen in einen schwachsinnigen: Ein hohler, selbstherrlicher Phrasendrescher, der seine Sprache verliert, ist nicht wirklich tragisch.

Bis zuletzt im eigenen Haus

Eiger fehlt die Fallhöhe und die Entwicklungsfähigkeit eines Lears, ist eher einer, der vor allem an seiner eigenen Beschränktheit zugrunde geht. Der Stücktitel aber weckte andere Erwartungen. Und auch die Realität hat mehr tragisches Potential zu bieten mit ihrem Tübinger Rhetorikprofessor Walter Jens. Zudem bleibt Vilmar Bieri in der Rolle des Eiger oft an der komödiantischen Oberfläche. Eine glaubwürdige, berührende Darstellung des langsamen geistigen Verfalls gelingt ihm nur ansatzweise. Er bleibt meist viel zu sehr bei sich.

Aus ihrer Schablone ausbrechen kann nur Nicole Schneider als Philosophengattin. Als Herrin über Frühstückstisch, Gummibaum und Staubwedel hat sie eigentlich die langweiligste Rolle, aber es gelingt ihr, dem Charakter des vermeintlich bekloppten Hausmütterchens eine ordentliche Portion an berechender Kälte zu verpassen. Eigers Ruhm war und wird wieder ihrer. Da ist sie sich sicher. So verrät auch ihr Schlusssatz - "Wir haben in diesem Haus vierzig Jahre gelebt. Wir bleiben" - eine gewisse gewalttätige Unerbittlichkeit und keinesfalls naive Nostalgie.

 

 

Professor Lear (UA)
von Joachim Zelter
Regie: Christian Schäfer, Bühne und Kostüme: Hella Prokoph, Dramaturgie: Nina Schmulius.
Mit: Vilmar Bieri, Nicole Schneider, Hannah Kobitzsch, Robert Arnold und Moritz Peters.

www.zimmertheater-tuebingen.de

 

Mehr über Joachim Zelter im nachtkritik-Archiv: Sein Roman Schule der Arbeitslosen wurde im Dezember 2007 sowohl in Osnabrück als auch in Senftenberg uraufgeführt.


Kritikenrundschau

In einem "Gelehrten-Ambiente der 1960er-Jahre" prallten die Generationen aufeinander, schreibt Sonja Lenz im Reutlinger General-Anzeiger (20.2.2010). Während die Kostüme des Professors und seiner Frau von der "Erstarrtheit der Charaktere" zeugten, verorte das "Outfit" der Enkelin Cordelia das Stück in der "Jetztzeit". "Diese Kontrastierung dient der Zuspitzung der Ideale jugendlich-chaotischer Kreativität und Lebenslust versus Altherren-Wissenschaftsmacht. Sie lässt die Inszenierung Richtung Groteske rücken, was Text und Thema aber gut ansteht." Die Entwicklung des Professors "vom Haustyrannen" zum "Hunde liebenden, leicht obszönen und Süßigkeiten verschlingenden Greis" spiele Vilmar Bieri "geradlinig, ohne aufgesetzte Gesten, mit überzeugender Intensität." Lob fällt auch auf die anderen Partien. Und die Nebenrollen bereicherten "ihre Figuren ebenfalls mit der karikaturistischen Note, welche die Leichtigkeit und Wahrhaftigkeit des Stückes ausmachen."


"Was für ein tragikomischer Stoff!", ruft Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.2.2010), zu dessen Bedauern dieser Abend aber dann eher in die Loriot-Richtung geht und lange kaum mehr als eine triviale Komödie ist, die vor dem "bitteren Ernst" in die "fröhliche Campus-Klamotte und matte Bernhardsche Tiraden" ausweicht. Erst gegen Ende, wenn das Geklapper der Schreibmaschine des Professors und sein "Papperlapp!" verstummt seien, gebe es einige bewegende Momente. Auf der Haben-Seite des Abends verbucht der Kritiker auch, dass "Professor Lear" kein voyeuristischer Schlüssellochblick auf das Krankenbett des Walter Jens ist und es dem ihn darstellenden Schauspieler Vilmar Bieri an den Höhepunkten des Abends gelingt, wirklich "King Lear, König ohne Land und Verstand" oder Hölderlin zu sein, "der hier, nur einen Steinwurf entfernt, im Turm vor sich hin brabbelte": eine Thomas-Bernhard-Figur. Aber grundsätzlich sei Zelter eben kein Tübinger Thomas Bernhard und Vilmar Bieri auch kein Tübinger Minetti.

 

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