Das Ich steht nur auf Chöre

von André Mumot

Hamburg, 25. Februar 2010. Vielleicht irrt er sich gewaltig, aber immerhin bezieht er Stellung. Dieser Chor setzt sich aus jungen Damen in rosa Kleidchen zusammen, die im Haar niedliche Schleifen und über den Schultern nicht ganz so niedliche Holzgewehre tragen. "Die Lust am Ich ist eine lausige Leidenschaft", verkünden sie. "Ich - das kann doch jeder!"

Ach, eigentlich klang sie ja immer ganz hübsch, diese zentrale Idee der Aufklärung: Die Vorstellung, dass das komische Projekt Zivilisation nur dann funktionieren wird, wenn jeder Einzelne aus der Unmündigkeit der dumpfen Massen aussteigt und sich zum selbständigen Individuum ausbildet. Die Zeiten aber haben sich geändert, und zumindest René Pollesch ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Aufklärung ihre Marschrichtung wechseln muss.

"Wege aus der Selbstverwirklichung" heißt der Untertitel seines neuen Abends im Schauspielhaus Hamburg. Vage orientiert er sich dabei an "Mädchen in Uniform" - an jener Geschichte, die schon zwei Mal sehr populär verfilmt wurde und in der eine junge Schülerin unter den Repressionen eines preußischen Mädchenstifts beinahe zugrunde geht. Wenigstens Theater spielen darf sie - was dem Regisseur Gelegenheit für ein poetisches Spiel im Spiel gibt. Der Vorhang geht auf, das Publikum sieht sich selbst im Spiegel und begreift, dass es sich hinter, statt vor der Bühne befindet. Dann erlebt es nicht nur den Chor beim liebevoll choreografierten Ausdrucksballett, sondern (als Strumpfhosen-Romeo) eine enthusiastische Sophie Rois.

Alle wollen Bücher schreiben

Bald schon muss diese allerdings feststellen, dass ihr die eigentlichen Zuschauer im Nacken sitzen. Die daraus resultierende Stresssituation durchleidet sie erwartungsgemäß mit einer fabulös schnarrenden Mischung aus Hysterie und Fatalismus, heiserem Zetern und hingebungsvoll ironischer Selbstreflexion. Doch es ist wieder der Chor, der erklärt, dass eigentlich das Publikum die Orientierung verloren hat: Angeblich besteht es jedenfalls bloß aus einer Meute von egoistischen Möchtegern-Kreativen: "Das Publikum sitzt im Zuschauerraum in Reih und Glied, um sich ganz individuell inspirieren zu lassen und dann schnell ein eigenes Stück in den Laptop zu tippen. Glotzt nicht so inspiriert!"

Es werden überhaupt deutliche Worte gefunden, die sich insgesamt an der Frage abarbeiten, wie man heute noch "realistische politische Erfahrungen" machen und sich als gesellschaftliches Wesen erleben kann, wenn sich die meisten damit begnügen, "exaltierte Künstlerinnen" im harten System der "Individualkonkurrenz" zu werden. Alle wollen Bücher schreiben, klagt Polleschs Chor, niemand die Verhältnisse ändern.

Ich-Kult und gesellschaftlicher Gleichschritt

Sein dramatisches Rad erfindet der Autor-/Regisseur dabei keineswegs neu, aber er lässt es sehr beschwingt über jede Menge Textzitate von Diedrich Diederichsen und Wolfgang Pohrt rollen. Außerdem schließt er nahtlos an seine Berliner Prater-Produktion "Ein Chor irrt sich gewaltig" an. Die Hauptdarstellerinnen sind nach Hamburg importiert worden, und Sophie Rois pflegt erneut die erotische Vielweiberei: "Ich mache mir nichts aus Einzelnen", sagt sie. "Ich stehe nur auf Chöre."

Diesmal jedoch kommt ihre Romanze mit dem Kollektivkörper deutlich unklamaukiger daher, spiegelt den Grundkonflikt zwischen Einzel- und Gesellschaftsglück auf diffizile Weise. Kurz übernimmt sie hierfür auch die Michael-Caine-Rolle aus Woody Allens "Hannah und ihre Schwestern". Das schafft einen sehr lustigen und auffallend zarten Moment, in dem ernsthaft gezweifelt wird, ob sie ihre Angetraute wirklich für einen entindividualisierten Chor verlassen sollte: "Meine Ehe mit Einzelwesen hat etwas Herzerfrischendes. Ich schätze Einzelwesen viel zu sehr, um ihr das anzutun." Putzig ist das - und dient zum ideologischen Aufatmen. Also ist es vielleicht doch nicht so leicht, zwischen asozialem Ich-Kult und gesellschaftlichem Gleichschritt zu wählen?

Provozierend unbekümmert

Polleschs garstiges Kabarett wird auch in diesem Fall zur heiklen Herausforderung, weil es konsequent verschleiert, ob es seine Thesen engagiert verkünden oder doch lieber effektvoll parodieren möchte. Giorgio Agamben, für den der Regisseur nach wie vor schwärmt, behauptet dementsprechend im Programmheft, dass wir in einer Welt leben, "in welcher die Möglichkeit abhanden gekommen ist, zwischen absolutem Ernst und ebenso absoluter Ironie zu unterscheiden."

Wenn Pollesch in guter Inszenierungsform ist, so wie hier, zeigt er das Dilemma einer derart unverbindlichen Welt auf ausweglose und zugleich provozierend unbekümmerte Weise. Das Publikum jedenfalls lässt sich die Stimmung nicht verderben und wird immer wieder beim freudvollen Angeregtsein ertappt. "Glotzt nicht so inspiriert!", zischt dann der Chor. Und fordert: "Studiert gefälligst Jura!" Aber das geht nun wirklich zu weit.

 

Mädchen in Uniform - Wege aus der Selbstverwirklichung
von René Pollesch, frei nach Christa Winsloe
Text und Regie: René Pollesch, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Tabea Braun, Chorleitung: Christine Groß, Choreografie: Brigitte Cuvelier, Dramaturgie: Anna Heesen Mit: Brigitte Cuvelier, Christine Groß, Sophie Rois. Chor: Laura Louise Brunner, Lea Connert, Paula Hans, Lisa Karrenbauer, Marion Levy, Hannah Müller, Franziska Pohlmann, Laura Schuller, Lydia Stäubli, Lisa Schwindling.

www.schauspielhaus.de

 

Mehr zu René Pollesch im nachtkritik-Archiv: Mit Ein Chor irrt sich gewaltig eröffnete er im April 2009 den renoviertern Berliner Prater. Seine jüngster Abend Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang! hat es bisher auf 250 Kommentareinträge gebracht.

 

Kritikenrundschau

"Ja, noch ein Chor!" schreibt Werner Theurich auf Spiegel Online (26.2.2019). Denn dieser "vielstimmig formatierten Sprechattacke" könne man in diesen Theater-Tagen kaum entgehen. Doch René Pollesch unterlaufe "diese wohlfeilen Formen ironisch", lasse die Rollen munter durcheinander purzeln. "Mal spielt Sophie Rois Lehrerin, mal Schülerin, der Chor der Mädchen schnurrt zu einer Person zusammen, alles in rasendem Wechsel, immer präzise durchkomponiert. Der Zuschauer wird virtuos verwirrt, aber nie genarrt oder gar erschüttert." Auch das Bühnenspiel selbst wird Theurich zufolge Thema. Ständig variiere Pollesch das Sujet Ausbildung und Drill auf der Theorie-Ebene, "eine Technik, die der Autor für sein Theater der Debatte perfektioniert hat." Allerdings erreicht er mit den "Mädchen in Uniform" aus Sicht des Kritikers "nie die Brillanz und burleske Perfektion wie etwa in seinem Stück 'Fantasma', das sich über erheblich mehr Ebenen hangelte und schwindelig machende Bilder produzierte." Leise Kritik auch an der dominanten wie "routiniert und rasend agierenden Sophie Rois".

"Es wurde viel gelacht im Schauspielhaus, vielleicht so viel wie schon lange nicht mehr", berichtet Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (27.2.2010). Keine Geschichte, keine Handlung, keine Figurenzeichnung, stattdessen eingespeiste kapitalismuskritische Motive, die sich um Kunst und Politik drehen, so die Kritikerin. Vom Originalstoff fand sie an diesem Abend nur noch Spurenelemente. Bei allem Zuschauerglück formuliert sich auch Einschränkungen: mit dieser Hamburger Inszenierung habe Pollesch eigentlich nur seine vor einem Jahr am Berliner Prater inszenierte Arbeit 'Ein Chor irrt sich gewaltig' fortgesetzt. "Vielleicht hätte man sie einfach übernehmen sollen, denn aus dem Schauspielhaus-Ensemble stand sowieso niemand auf der Bühne, weder im 10-Mädchen-Chor, noch als eine von den anderen beiden Schauspielerinnen, Chorleiterin Christine Groß und Ballettmeisterin Christine Cuvelier. Die beiden Ensemble-Mitglieder Marion Breckwoldt und Marlen Diekhoff waren vorzeitig aus der Produktion ausgestiegen."

René Polleschs neues Stück treibt aus Sicht von Stefan Grund auf Welt Online (27.2.12010) "nicht nur in der Verfremdung Brechts ('Glotzt nicht so romantisch') die Satire auf eine neue Spitze." Er spiele auch "mit der Reflexion über individuelle und gesellschaftliche Selbstwahrnehmung im Theater auf mehreren Ebenen." Er entwerfe zu dazu "eine verkehrte Bühnenwelt, die den Blick auf die Wirklichkeit schärft." Dabei fand Grund auch höchst erhellend mehrere Diskurslinien verquickt: "von der deutschnationalen Pädagogik der Vorkriegszeit, über die NS-Zeit ('Hitler hat sein dickstes Buch in der Haft geschrieben') bis zum freien Markt von heute. Dort kämpft jeder gegen jeden, was zur schönsten Parole des Stückes führt: "Das Vaterland braucht exaltierte Künstlerinnen." So wird die Ausbildung zur "Selbstverwirklichung und zum Standortfaktor" als Norm entlarvt. Auch an verfremdeten Bildungszitaten, an Unterhaltungselementen und komischen Momenten herrsche kein Mangel.

Für Frauke Hartmann in der Frankfurter Rundschau (2.3.2010) ist diese Produktion mit nur zwei Schauspielerinnen aus Hamburg ein "Kuckucksei": "eine Volksbühnen-Premiere, die in Hamburg gefeiert wird". Wobei sie das nicht wirklich stört. Dass auf der großen Bühne gespielt wird, findet sie allerdings "fast ein wenig schade". Denn "Pollesch, der seine Auseinandersetzung mit dem Drill in einem preußischen Mädchenstift mit den Mitteln des Boulevardtheaters, des asiatischen Heimatfilms und der Screwball Comedy betreibt und höchst amüsant unsere diesbezüglichen Sehgewohnheiten bedient und zugleich unterläuft, verträgt die Intimität eines kleineren Raumes". In der Weite nämlich drohen "seine kulturtheoretischen Wortkaskaden im Lehrerton", die nur "erträglich seien" weil sie "als Slapstick, Filmhandlung, Clownerie, Choreografie und Chorauftritt daherkommen", unterzugehen. Auch führe Pollesch anhand seiner "Plündereien in der Unterhaltungsindustrie" den "Verdummungseffekt" mit der "einzigartigen" Sophie Rois so effektvoll vor, dass man über all den guten Zitaten "den Rest" vergesse: "Systemkritik war gestern."

Pollesch habe "sein Lied vom doppelten Als-ob diesmal wieder nach der üblichen Methode" garniert, schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (8.3.2010). Nach seinem Beriner "Versuch mit der Einzelkonkurrenz in Gestalt von Fabian Hinrichs" gehe die Pollesch-Serie in Hamburg "in ihrer ursprünglichsten Form weiter". Die Figuren-Konstellation in "Mädchen in Uniform" erlaube ihm dabei "Assoziationen zu den aktuellen Studentenprotesten wie zum Kulturschaffen in Theresienstadt, zu den Aufregungen sexueller Orientierung und der Ungewissheit des kapitalistischen Subjekts über die Grenzen zwischen dem Ich und dem Markt". Eine halbe Stunde lang schlage Pollesch daraus "lustige Pointen", seine Methode habe natürlich "längst etwas von Format-Radio". "Die Radikalkritik kommt freundlich und etwas zahnlos daher, der aggressive Reiz früherer Arbeiten weicht dem effektsicheren Inszenieren. Man lacht und freut sich und stockt nur ganz kurz, wenn die Verbindung von Theresienstadt und Komödie sich einseitig zur Pointe wendet."

 

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