Hans Christian, der Freak

von Rudolf Mast

Hamburg, 6. März 2010. Wer Luk Percevals Salzburg-Berliner Inszenierung Molière von 2007 gesehen hat, wird lebhaft in Erinnerung haben, wie die denkwürdige Aufführung aus Werk und Leben eines Autors eine Art kollektive Biographie formte, um damit etwas über das Leben heute zu erzählen.

Am Sonnabend saß Perceval in einer Loge des Hamburger Thalia-Theaters, wo er seit Beginn der Spielzeit Leitender Regisseur ist. Auf dem Spielplan stand eine Premiere, deren Ankündigung durchaus an "Molière" denken ließ: "Andersen. Trip zwischen Welten", so der Titel, doch mit dieser Ähnlichkeit hatten sich die Gemeinsamkeiten beider Arbeiten schon erschöpft.

Die dritte Dimension als Trompe-l'oeil

Der geringste Unterschied ist dabei noch die Dauer: Nahm sich Perceval für "Molière" gut viereinhalb Stunden Zeit, brauchte Pucher nur hundert Minuten für den Stoff, den er und der Dramaturg Benjamin von Blomberg zusammengestellt haben. Dabei handelt es sich in der Hauptsache um das Märchen
Der Schatten, das durch (Auto)Biographisches und Texte Dritter angereichert, verändert, aktualisiert und gegebenenfalls auch ersetzt wird. Ort des Geschehens ist eine Bühne, die mit einem optischen Trick arbeitet: Knapp hinter dem Portal steht ein weiteres Portal, das wie ein Rahmen das farblose Gemälde eines mondänen Salons umgibt. Doch bei genauerem Hinsehen, erst recht beim ersten Auftritt des ersten von insgesamt drei Darstellern des Andersen, erweist sich, dass es sich bei der grauweißen Wand um ein Relief handelt.

Der Effekt verfehlt nicht seine Wirkung, hat jedoch einen Preis: Weil die dritte Dimension verstellt ist, geht der Bühne insgesamt die Tiefe verloren – und dem Theater eine wesentliche Ausdrucksmöglichkeit. Bedauerlicher- und unverständlicherweise ist diese "Verflachung" des Theaters sehr oft zu erleben, und Pucher und seine Bühnenbildnerin Barbara Ehnes sind darin besonders geübt. Doch als Grund ist zumindest dieses Mal nur die exzessive Verwendung von Videos erkennbar. Etwa die Hälfte des Abend ist vorproduziertes Bildmaterial, für dessen Projektion eine plane Fläche benötigt wird. Die befindet sich hinter dem stilisierten Salon und gerät immer dann in den Blick, wenn sich in der Rückwand zwei Elemente öffnen – und die Bühne durch die Projektion optisch im selben Augenblick wieder verflacht.

Ironisieren, dramatisieren, bagatellisieren

Das gilt auch im übertragenen Sinne, auch wenn sich die drei männlichen Darsteller, wechselweise in Kostümen des frühen 19. Jahrhunderts, einem Nachthemd, einem opulenten Revuekleid oder nackt, größte Mühe geben, durch körperlich und stimmliche Exaltationen Hans Christian Andersen als "Realitätstransformer auf Dauerstrom" kenntlich zu machen. So charakterisiert ihn jedenfalls die Ankündigung, im Programmheft heißt es kurz "Freak". Aus der Entfernung von 200 Jahren ist die Diagnose ziemlich kühn. Zudem liegen ihr mindestens zwei Irrtümer zugrunde, an denen auch die Inszenierung krankt: zum einen der, dass Genie und Wahnsinn Hand in Hand gingen, und zum zweiten der, dass sich Werk und Leben in eins setzen ließen.

Ein dritter Irrtum kommt erschwerend hinzu: Die Musiker, die nahezu pausenlos Schlagzeug und Keyboard bearbeiten, sind sicherlich gute Instrumentalisten, die Musik jedoch legt sich wie ein Schleim auf das Geschehen und dreht ihm nach und nach die Luft ab, weil fast nichts auf der Bühne geschieht, ohne dass ein Ton, ein Tusch, ein Triller es kommentierte, ironisierte, dramatisierte oder bagatellisierte. Besonders ärgerlich ist das bei einem Monolog zum Thema Angst von Bruno Cathomas, den die zweiköpfige Kapelle zunächst musikalisch konterkariert, um ihn kurz darauf ironisch zu wiederholen.

Die Intensität des Schattens

Dass es überhaupt etwas Positives von diesem Abend zu vermelden gibt, ist Karin Neuhäuser zu verdanken. Sie spielt den "Schatten" aus dem gleichnamigen Märchen, den ein Mann auf einer Reise in den Süden verliert. Jahre später begegnet er als gemachter Mann seinem früheren Besitzer. Durch Präzision im Ausdruck gelingt Neuhäuser eine Intensität, um die sich ihre aufgekratzt und bedeutungsschwer agierende Umgebung vergebens müht. Und so ist sie auch die Einzige an diesem Abend, der es gelingt, aus Werk und Leben eines Autors eine Art kollektive Biographie zu formen, um damit etwas über das Leben heute zu erzählen.

 

Andersen. Trip zwischen Welten
In einer Fassung von Stefan Pucher und Benjamin von Blomberg aus Hans Christian Andersens "Der Schatten" und Texten von Rolf Dieter Brinkmann
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Marysol del Castillo, Musik: Carsten "Erobique" Meyer, Matthias "Tex" Strzoda, Video: Meika Dresenkamp.
Mit: Bruno Cathomas, Mirco Kreibich, Daniel Lommatzsch, Karin Neuhäuser, Catherine Seifert, Birte Schnöink.

www.thalia-theater.de


Mehr zu Stefan Pucher im nachtkritik-Archiv, dessen Inhalt durch ein Glossar systematisiert worden ist. Hier geht es zum entsprechenden Eintrag zu Pucher.

 

Kritikenrundschau

Einen "großen postdramatischen Entwurf" sieht Stefan Grund von der Welt (8.3.2010) in Stefan Puchers Andersen-Abend, in dem der Regisseur "klassische Themenkomplexe zu einer Parabel auf verlorene poetische Seelen" verknüpfe, "die in einer kalten Geschäftswelt elend zugrunde gehen". Dabei verzaubere Karin Neuhäuser als "unglaublicher, überwältigender, eiskalter, tiefgründiger Schatten-Mephisto". Gegen sie seien alle anderen "schwache Schatten, auch ihres jeweiligen Klischees". Bruno Cathomas allerdings spiele "mit der Verflachung, indem er sich nicht nur als nackter Dichter im Videofilm zeigt, sondern sich auch als großer Märchenonkel-Naivling darstellt". Das angereicherte Märchen biete "Stoff für einen Kurztrip", werde von Pucher jedoch "leider mit spielerischen Durchführungen auf knapp zwei Stunden" gestreckt. Und die "mäßig inspirierte Live-Musik im Elektropopmodus auf Balladenbasis" von Carsten Meyer und Matthias Strzoda mache die Sache auch nicht besser.

Auf Dirk Pilz von der Frankfurter Rundschau (8.3.2010) macht dieser Abend den Eindruck, als habe man sich "einen Spaß daraus gemacht, dramaturgisch wahl- und gedankenlos Szenen auf die Bühne zu würfeln", die Andersens Erzählung "weder etwas hinzufügen noch entnehmen". Pucher veranstalte hier nicht "das kluge Pop-Theater", das man sonst von ihm kennt. Da werde "grundlos zwischen Spielebene vorn und Videoebene hinten" hin und her gewechselt, veranstalteten "irgendwelche Figuren irgendwelche Nümmerchen (...), um der Wirklichkeit von der ironischen Seite zu kommen", müssten "Schrei-Jammer-Heul-Ausbrüche des ansonsten so wunderbar doppelbödig agierenden Bruno Cathomas als existenzialistische Ausbrüche herhalten" – ein "Ausverkauf des Pop-Theaters". Die "lustig blubbernde Musik" sei "bestens als Einschlummersound geeignet", allerdings biete der Abend "durchaus Anlass, wach zu bleiben, (...) wenn man sich an Schauspielern zu erfreuen weiß". Vor allem Neuhäuser sei "eine Schatten-Spielerin, die mit gefährlich vieldeutigen Untertönen ihrer Figur etwas Unergründliches verleiht" und sich "auf einen Trip in die Zwischenräume der Träume" begebe. "Um sie herum: leeres Zeichengeklimper, fade Bedeutungshuberei, viel Theatergetue. Schon die Bühne ist nur hohle Trickserei: ein Trompe-l'oeil-Relief, das bereits mit der ersten Szene an den bloßen Effekt verraten wird."

Laut Armgard Seegers vom Hamburger Abendblatt (8.3.2010) ist dieser Abend "nicht immer verständlich", doch überrasche er "mit wunderschön anzusehenden Bildern voller geheimer Ängste und Sehnsüchte". Pucher erfinde "traum- und albtraumartige Szenen", die bisweilen an den frühen Bob Wilson erinnerten. Die "Collage mit Zitaten aus dem Leben und Werk" Andersens überfordere aber wohl selbst Kenner von dessen Werk. Alles zusammen sei "ein hochartifizielles, verschrobenes Bilder-Märchen". Neben Cathomas schaue als zweite Andersen-Figur "der wunderbare Mirco Kreibich mit großen Augen rührend und fragend ins Publikum". "Vielleicht sollte man das alles einfach nur auf sich wirken lassen – so wie das kommentierende Schlagzeug und rhythmisch betörende Keyboard von Carsten 'Erobique' Meyer und Matthias Strzoda"?. Auch für Seegers ragt Neuhäuser "aus dem insgesamt tollen Ensemble" noch einmal heraus: "Jeder Figur gewinnt sie mit Blicken, Gesten, Haltungen einen aufregenden Menschen ab."

Pucher unternehme eine Reise in die "betörende Welt, in der die Grenzen zwischen Künstler und Kunst verschwinden", die zu einem "All-inclusive-Aufenthalt in Andersens wunderbarem Märchensalon" um eine "frühe Art des Identitätsdiebstahls" gerate. Für Heiko Kammerhoff von der Hamburger Morgenpost (8.3.2010) ist der Abend "in seiner Fülle an Motiven, Bildern, Tönen und Handlungselementen (...) ein mächtiger, schwer greifbarer Klopper". Am "eindrücklichsten" sind für den Kritiker Cathomas' "Liberace-Nummer", Kreibichs "erstaunliche Kletterkünste" und Neuhäusers "fantastische Darstellung". Fazit: "Ein wilder, aber anregender und durchaus auch humorvoller Cocktail."

 

 

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