Himmelsstürmer mit Geo-Dreiecken

von Marcus Hladek

Frankfurt am Main, 8. März 2010. Ist Studienabgängern seines Alters eigentlich bewusst, wie sehr ihnen die Theater dramatische Versuche, die sie jetzt vorlegen, aus den Händen reißen? Nicht, dass der 1983 gebürtige Hallenser Stephan Seidel dies nicht verdiente. Seine Werkbiografie weist Theater- und Regiearbeiten in Berlin und Halle aus, da war er noch keine Zwanzig. Es folgten ein Stipendium an Robert Wilsons New Yorker Watermill Center und, seit 2006, sein Regiestudium an Frankfurts Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, dazwischen das Autorenlabor am Düsseldorfer Schauspielhaus.

Es zeugt von praktischer Weisheit, wenn ein junger Dramatiker wie Seidel vor allem produziert, was das Zeug hält – reifen kann man immer noch. Schon sein selbst inszeniertes Stück "Das Gähnen der Leere" am Wiesbadener Staatstheater im Januar war ein intertextuelles Plünderstück nach klaren Filmkomödien-Mustern, ohne dass es der Talentprobe Abbruch tat.

Soweit "Das letzte Hochhaus" Mustern folgt, sind sie weniger trivial gewählt und zeigen einen Schritt zum emanzipierten Werk. In einer Skyline-Stadt wie Frankfurt (den Programmzettel ziert ein Konturenvergleich der höchsten Häuser der Welt) stellen sich fünf Darsteller, vier davon in grauen Ingenieurs-Kitteln und Brillen, vor den an der Box im Foyer wartenden Zuschauern auf und beginnen mit Geo-Dreiecken und Filzstiften geometrische Bauzeichnungen auf große Strecken Papier an der Box-Wand aufzutragen.

Jeder, der mitbaut, darf drin wohnen

Einer, Martin Butzke, spielt in großem Monologstil den visionären Architekten und inauguriert die Idee eines neuen Turms zu Babel als Geschenk an die Menschheit: "Mein letztes Haus will ich bauen... Wir schenken dieser Stadt ein lebendiges Herz... Es soll das letzte Hochhaus sein! ... ein Turm aus Elfenbeinen... Jeder der mitbaut darf drin wohnen..." Moritz Pliquet sticht als Sohn des Architekten mit seinem blauen Anorak, dem Spiel mit Holzklötzen und Indianerfederschmuck heraus, wird im Verlauf des bald nach innen verlegten Stückes selbst Architekt und spiegelt das Generationenübergreifende am Bau. Vorläufig reagiert er kindlich: "Was issn Babel?" – "Ach Junge, kannste das nich mal googeln."

Natürlich steckt hinter dieser Hommage an Frankfurt als Sitz der Europäischen Zentralbank ("Im Herzen Europas versucht man das Unmögliche") und an alle Städte mit Wolkenkratzer-Kultur der Mythos vom biblischen Turmbau zu Babel, von der Selbstüberhebung der Menschheit und der Zerstreuung der Sprachen. Da Seidel all das burlesk mit der Gegenwart verknüpft, ist dabei am ehesten an Thornton Wilders "Wir sind noch einmal davongekommen" zu denken, während George Steiners Babel-Buch, Heiner Müllers "Der Bau" oder Kafka und Sartre keine Rolle spielen. Nur im lyrischen Überschwang der Sprache, im Brückenschlag zwischen Realität und Mythos, mit den typisierten Figuren und darin, wie Seidel auch innen die Papierwände mit abstrakten Formen bemalen lässt, werden Botho Strauß, literarischer Im- und Expressionismus sowie Dada zitiert.

Vielleicht gehen wir alle drauf

Dramaturgisch blieben die Bilder, strukturiert von Lichtwechseln, ollen Popkonserven, Video-"Postkarten" des Sohnes an den Vater und Filmeinspielern von Kindern über ihre Wunschwohnung, ein Sammelsurium, wären sie nicht an der Achse des "Bauberichts" aufgereiht. "Seht die Lastwagen", heißt es mit kollektivem Blick über die Zuschauer, und: "Die Stadt wird strahlen... Alles fließt – einem davon... Wir haben die 30. Etage geschafft! ... Vielleicht gehn wir alle drauf... Ist die Stadt schön geworden?" Szenografisch kommt zur Innen-Außen-Lösung der Box, zum bemalbaren Papier kaum mehr hinzu als ein zweistufiges Holztreppchen, das als Symbol der Zikkurat dient, dem babylonischen Stufentempel, und das den Darstellern Gelegenheit gibt, ihre Monologfetzen hervorzuheben.

Heidi Ecks als russische Astronomin malt unvermeidlich rote Sterne und trägt zum Schulterjäckchen mit Folkloreeffekt Pelzmütze und Silberstiefel. Victoria Schmidt als dolmetschende Linguistin betreibt eine Liebelei mit dem schroffen Südafrikaner mit cooler Sonnenbrille (erneut Martin Butzke). Marios Gavrilis als "stärkster Mann der Welt" weist griechische Sprachkenntnisse vor und gibt trockene Kommentare ("Galilei hatte recht und die Erde ist eine Kugel" – "Nur die Menschen sind flach"). All das ist flüssig inszeniert und geht als vieldeutiges Bild der heutigen Globalisierung durch, zeigt Seidel also auf gutem Weg. Ein Durchbruch, sei es als Autor oder Regisseur, ist es indessen noch lange nicht.


Das letzte Hochhaus
von Stephan Seidel
Regie: Stephan Seidel, Bühne: Wiebke Bachmann, Kostüme: Katharina Tasch, Video: Bert Zander, Dramaturgie: Johanna Canaris. Mit: Heidi Ecks, Victoria Schmidt, Martin Butzke, Marios Gavrilis, Moritz Pliquet.

Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main und der Hessischen Theaterakademie.
www.schauspielfrankfurt.de


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Kritikenrundschau

Judith von Sternburg findet Stück und Inszenierung "flau", wie sie in der Frankfurter Rundschau (10.3.2010) schreibt. Das "Bauen" bestünde ja bloß aus "dem systematischen Bekrakeln der Wand", das "Reden" aus "einem herkömmlich wirkenden Beziehungsblabla". "Insofern könnte man sagen, dass der Abend so unausgegoren ist wie das Bauprojekt."

 

 

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