Unsinn is the new Sinn

18. März 2010. Elf Onkel, das klingt erstmal nicht sehr nach Shakespeare, sondern sehr nach Klamotte. Charleys Tante und seine elf Onkel vielleicht. Oder die Geschichte der verschollenen Brüder von Tante Jutta aus Kalkutta. Und es ist natürlich auch eine Klamotte. Aber es ist auch Shakespeare, Hamlet sogar. Zumindest beinahe. Denn der Programmzettel nennt als Urheber jenen dänischen Mönch, der unter dem Namen Saxo Grammaticius im 12. Jahrhundert eine mehrbändige Geschichte der Dänen schrieb, wo auf der Schwelle zwischen Mythos und Historie auch die Urform jenes Plots zu finden ist, aus dem Shakespeare etwa 300 Jahre später sein berühmtes Drama machen würde: "Amleds Rache" nämlich.

Doch ehe man sich nun allzutief in Pseudowissenschaftliches versenkt, muss zu Protokoll gegeben werden, wovon hier überhaupt die Rede ist: von Herbert Fritschs erstem abendfüllendem Spielfilm Elf Onkel, der gestern abend in der Volksbühne Premiere hatte. Ein Werk, dass auch mal auf den Punkt bringt, wieso dieses Genre überhaupt SPIELfilm heißt.

Aus dem Fritsch-notorischen Hamlet_X-Universum

Doch war der gestrige Abend auch insofern ein historisches Ereignis, da Fritsch als einer der großen Stars des Castorf-Ensembles vor einigen Jahren rüde verabschiedet worden war und nun mit diesem Event so etwas wie eine symbolische Aussöhnung des Hauses mit einem seiner berühmtesten Protagonisten konstatiert werden konnte.

"Elf Onkel" also, ein Film aus dem Fritsch-notorischen Hamlet_X-Universum, dem die Welt schon 33 fantastisch schräge, hintersinnige wie aberwitzige Kurzfilme (die zur Feier des Tages im Foyer als Dauerloop zu sehen waren) und ein Buch verdankt. Nun also zum ersten Mal lang. Hamlet als surrealistische Shakespeareklamotte, nach allen Regeln der Kunst. Auch der bildenden. Dafür greifen Fritsch und seine Co-Autorin Sabrina Zwach nicht nur tief in die Mottenkiste der Kunstgeschichte, wo sie sich zu allerlei szenischen Tableaus inspirieren ließen, sondern gehen zu den kruden Anfängen der Hamlet-Geschichte zurück, zu jenem Saxo Grammaticus eben, der irgendwann im 12. Jahrhundert die Schauergeschichte vom dänischen Prinzen aufgeschrieben hat, der den Mord an seinem königlichen Vater grausig rächt.

Claudius, elfköpfiges Onkel-Ungeheuer

Es fängt mit einem schaurigen Ringkampf zweier höchst schrill-schratiger alter Männer an, die allein schon durch ihre Gesichtsausdrücke jeden Stummfilmmimen von Caligari bis Hitler locker an die Wand spielen. Augenrollend reiben sie mit verzerrten Mündern, in denen hin und wieder schwarze Zähne erkennbar werden, ihre Stirnen aneinander, bis sie blutig sind, schleudern sich immer wieder grunzend zu Boden oder gegen eine Wand.

Dimiter Gotscheff als Vater Hamlets erledigt hier grollend, wütend und würgend einen nicht näher definierten Feind (Adolfo Assor). Aus den Off von Regisseur Herbert Fritsch angefeuert, was zu lautem Kichern im Publikum, aber auch zum ersten und einzigen lauten Protest dieses Abends führt. "Abscheulich!" brüllt eine Dame und verlässt türschlagend das Theater, als der alte Assor schon röcheld auf dem staubigen Boden des Dachbodens liegt, wo der Kampf des Gotscheffs mit dem chilenisch-Kreuzberger Schauspieler und Theatermann sich seinem Ende nähert. Dabei hätte sie nur abwarten müssen, um den gemeuchelten Assor hinreißend zwischen Blüten auf einer surrealen Grabstätte aufgebahrt zu sehen. Schön.

Bald aber ist auch Gotscheff dahin, beim Abendbrot (Linsen!) mit vergiftetem Wein wiederum vom aasig grinsenden Bruder gemeuchelt, Hamlets Onkel Claudius eben, der sich im Laufe des Abends zu jenem elfköpfigen Onkelungeheuer vervielfachen wird, dem der Film den Titel verdankt und die natürlich allesamt von Herbert Fritsch verkörpert werden. Was schon allein den Abend lohnt: wenn er am Ende an einer Leonardo-da-Vinci-haften Abendmahltafel mit der madonnenhaften Gertrud (alias Gitta Schweighöfer) in elf verschiedenen Vorkommensweisen sitzt, mit immer anderen schrägen (aus der eigenen schütteren Haarpracht gezauberten) Frisuren und Minen aber stets dem selben strizzihaft aufgeknöpften burgundenen Oberhemd mit hervorblitzender Goldkette auf halbnackter Brust. Bis dann die elf Onkel-Herbert-Klone Hamlets furiose Rache ereilt.

Hamlet-Abgründigkeiten

Der wiederum wird von Alexander Khuon verkörpert: als spießiger Anti-Hamlet, der virtuos das geradezu aberwitzige Gegenteil aller Hamlet-Abgründigkeits-Klischees gibt. Da kann er noch so tief im Blute waten, oder mit dem Gesicht in Sahnetorten graben, was er nämlich ausgiebig tut. Oder als Elvis-Imitator am englischen Hof diverse Königstöchter aufreißen. Desweiteren treten auf: Thomas Lawinky als schmieriger Privatdetektiv Stern alias Güldenstern, der mit Sven Schlötke als Herr Kranz einen höchst kompatiblen Kompagnon hat; Mira Partecke als Moor-Mädchen, worunter man eine Art singende, springende Ophelia verstehen muss, die aber weit von jedem Selbstmord oder Wahnsinn entfernt ist und höchstens jedes Wesen in ihrer Umgebung über kurz oder lang dahin treibt. Auch Jule Böwe als laszive englische Königstochter ist mit von der Partie (und Party). Alexander Scheer tritt ebenfalls kurz als er selbst (also Popstar!) am englischen Hof in Erscheinung.

Gedreht wurde in einem Prignitzer Herrenhaus in Streckenthin, das die "Was ihr wollt"-Theaterakademie Brandenburg beherbergt, die Tom Stromberg 2005 mit Peter Zadek gegründet hat. Fritsch Film setzt das Anwesen mit üppiger Schaurigkeit in Szene, das im wirklichen Leben ja so eine Art postdramatisches Leopoldskron sein muss. Düstere Gärten und dumpfe Kammern mit Gelsenkirchner Barockehebetten. Kahle Flure und drohende Sonnenuntergänge überm Wald hinterm Haus. Durch den tümpeligen See nearby rudert schon bald eine Art Fortinbras: ein Afrikaner in bunter Stammestracht und wallender Reggaefrisur (gespielt vom Oberhausener Schaupieler und Musiker Komi Mizrajim Togbonou).

Ins Streckenthiner Gras gebissen

Doch von dem, da sei Herbert Fritsch davor, ist natürlich im Staate Dänemark keine Rettung zu erwarten. Denn er will selbst gerettet werden. Am Ende erreicht er das Ufer mit Müh und Not und beißt ins Streckenthiner Gras. Aber er ist natürlich nicht tot, sondern wahrscheinlich bloß Vegetarier. "Europa!" ächzt er mit letzter Kraft, als habe er soeben übers Mittelmeer die sizilianische Küste erreicht. Und kommt gerade noch pünktlich, um voodoohaft über den Scheiterhaufen zu springen, wo in elf Teppiche gerollt, im Garten gerade die gerichteten Elf Onkel verglühen. Es geht um das Böse, das sich Vervielfachende, raunt der Programmzettel sinnstiftend im Angesicht der multiplen Onkelei. Hilfe! Was soll uns nach all dem nun auch noch Sinn? Unsinn ist the new Sinn.

(sle)


Elf Onkel
D 2009, 101'
Regie: Herbert Fritsch, Buch: Herbert Fritsch, Sabrina Zwach, Kamera: Jan Zabei, Ines Thomsen, Schnitt: Tobias Frühmorgen, Sonja Baeger, Ruth Schönegge, Spezial Effekte: Falk Gärtner, Alfred Roy, Flo Köhne, Musik: Ingo Günther.
Mit: Alexander Khuon, Gitta Schweighöfer, Herbert Fritsch, Dimiter Gotscheff, Adolfo Assor, Werner Eng, Max Grill, Thomas Lawinky, Sven Schlötcke, Mira Partecke, Friedrich Lichtenstein, Maria Hofstätter, Jule Böwe, Yvon Jansen, Hennrike von Kuick, Sabrina Zwach, Komi Mizrajim Togbonou, Alexander Scheer, uva.

www.elfonkel.de


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