Boulevard der Abziehbilder

von Michael Laages

Hamburg, 18. März 2010. So also sieht eine Spekulation aus im Theater. Da dräuen die Vorabmeldungen aus der Presseabteilung mit Reizworten wie "Winnenden" und "Emsdetten", "Erfurt" und auch "Columbine", den Namen von Orten also, an denen Schüler auf extreme Art und Weise die Unfähigkeit zum Überleben in dieser Gesellschaft dokumentierten und eine große Zahl von unschuldigen Opfern mit in den Tod rissen. Ganz besonders schwer zu fassen an diesen mörderischen Katastrophen war oft die Beredsamkeit, mit der die jugendlichen Amokläufer die Ausweglosigkeit des eigenen Lebens beschreiben konnten.

Der schwedische Dramatiker Lars Norén fertigte aus den Selbstbezichtigungen von Sebastian B. in Emsdetten einen Monolog, den die Berliner Schauspielerin Anne Tismer zum ernstlich beunruhigenden Dokument des Hasses auf Gesellschaft an sich werden ließ. Hinter dieser schmerzhaften Erkundung bleibt der Text, den jetzt der englische Dramatiker Simon Stephens vorgelegt hat, um Lichtjahre zurück. Stephens gibt mit "Punk Rock" all jenen Grund zu weiterer Skepsis, die den Briten ohnehin für stark überschätzt halten; und eigentlich nur Pornographie gelten lassen als wirklich wichtigen Text. Immerhin: Wie "Pornographie" von der gerade nicht handelte, hat auch "Punk Rock" nichts mit Musik zu tun.

Typenparade, Abteilung Schule

Eine Galerie von Abziehbildern hat Stephens versammelt; in einer Schule, wie sie durchschnittlicher kaum sein könnte. Dass sie in England liegt und darum Schulgeld sowie speziell englische Prüfungsrituale für einige der Schüler-Motive eine gewisse Rolle spielen: Nebensache. Alles ist wie überall: Da treibt der prollig-protzige Kraftmeier sein erniedrigendes Unwesen, daneben steht der hyperintelligente Schlaumeier, der schon weiß, dass alles zu Grunde gehen wird und deshalb klaglos den Kleinkram des Alltags erleidet. Da ist der flotte Stecher, der "die Neue" flach legt; da ist die Streberin, und da ist die Mollige - Mädchen, die brav die verschiedenen Varianten aufkeimender Weiblichkeit dokumentieren.

Und da ist zwischen all denen der freundliche Spinner - der ein bisschen lügt und sich aufplustert, der sonderbare Märchen erzählt, manchmal Stimmen hört und auch gern "die Neue" zur Freundin gehabt hätte. Nun ist er irgendwie beleidigt, dass der andere sie hat.

Eines Tages muss nun dieser mäßig wunderliche Mitläufer-Kauz außerdem Stellung beziehen im Streit zwischen Proll und Klugscheißer - und weil gerade auch die Liebesgeschichte ganz schief läuft, greift er zur Knarre und knallt einfach alle ab. Ratzfatz. Sich selber richtet er nicht - und sitzt darum am Schluss vor uns, dem Publikum, der geschockten Welt, und soll Antworten geben auf die tausenderlei Fragen nach dem großen, dem tödlichen "Warum".

So weit, so wenig überraschend. Alles ist extrem vorhersehbar - und dass Stephens völlig auf Erwachsene verzichtet, ja sie generell nur extrem schemenhaft und unpräzise ins Spiel bringt, soll laut Dramaturgie zeigen, dass die Eltern, Lehrer und Erzieher "komplett versagen" - Quatsch, komplett und mit Soße! Stephens hat halt nur bewusst auf die Ebene des Gegenübers verzichtet - sie hätte dem ganzen Text allemal mehr Substanz und Tiefe geben können. Und der Autor hätte zudem viel mehr reflektieren müssen...

Bewährungsprobe bestanden

Daniel Wahl hat dieses dünne, dürftige Stückchen inszeniert, ohne ihm wirklich auf die Sprünge helfen zu können. Wie auch?

In winzigen Momenten nur, wenn den netten Amokläufer die unerklärlich fremden Kräfte überkommen, flackert so etwas wie Spiel-Phantasie auf. Die ganz jungen Kräfte im Schauspielhaus-Ensemble bewähren sich hier, in dieser "Koproduktion" mit dem Jungen Schauspielhaus, der Junge-Leute-Abteilung des Hauses. Ob aber aus ihnen etwas Besonderes werden könnte, ist nicht zu ahnen.

Im gegenwärtigen Boom des Jugendtheaters, der "Jungen Bühnen" allüberall, ist dies ein besonders schwaches Beispiel für den starken Trend. Die Inszenierung muss aber unbedingt auf der großen Bühne stattfinden – für die aber haben Stephens und Wahl wenig zu bieten. Womit wir wieder bei der Spekulation sind – das spektakuläre Thema soll das große Haus füllen. Und keiner weiß, wie.

 

Punk Rock (DEA)
von Simon Stephens
Regie: Daniel Wahl, Bühne und Kostüme: Viva Schudt, Musik: Knut Jensen, Dramaturgie: Steffen Sünkel.
Mit: Gisa Flake, Thorsten Hierse, Julia Nachtmann, Aleksandar Radenkovic, Nadine Schwitter, Martin Wißner, Sören Wunderlich.

www.schauspielhaus.de

 

Mehr über den Regisseur Daniel Wahl: Am Hamburger Schauspielhaus adaptierte er im April 2009 Hans Falladas Knastroman Wer einmal aus dem Blechnapf frisst für die Bühne, im Februar 2009 war er als Spieler mit von der Partie bei Sebastian Nüblings Uraufführung von Oliver Bukowskis Stück Kritische Masse und genauso als Spieler war er beteiligt an Nüblings Erstaufführung von Stephens' Pornographie im Sommer 2007 in Hannover.

 

Kritikenrundschau

Daniel Wahl wirkt auf Stefan Grund in der Welt (20.03.2010) "mit seinem spielstarken Ensemble ganz durch psychologische Genauigkeit und jugendliche Körperpräsenz", womit er das Drama mitunter auf "Punkrock-Tempo" beschleunige und rhythmisiere. Gleich nach Beginn des Stückes mit "einer munteren Tischtennisrunde in der Großen Pause" zeigt sich dem Kritiker bereits "die dramatische Kunstfertigkeit des Simon Stephens, die in Deutschland ihresgleichen sucht". Denn welcher der gestressten, pubertierenden Schüler den Finger an den Abzug legen werde, bleibe lange Zeit offen. Auch habe man selten so viele Fernsehkameras im Schauspielhaus gesehen. Jeder Zuschauer habe eine Woche nach dem Jahrestag des Amoklaufs von Winnenden die Trauer der Angehörigen der Opfer vor Augen.

"Ein großes Thema kommt oft besser mit weniger Theater aus", schreibt Klaus Witzeling im Hamburger Abendblatt (20.3.2010). Daniel Wahl blase das dünne Stück auf bühnenbreiter Schulhof-Treppe im Großen Haus auf: "Um in den Szenen um den späteren Amokläufer William alle Erwartungen nur zu bestätigen." Die Schauspieler geben aus seiner Sicht ihr Bestes und holten "aus Klischeetypen und Stück heraus, was möglich ist. Etwa in der Auseinandersetzung zwischen William und Lilly." Peinlichen Realismen im Stück begegne der Regisseur mit formalen Kunstgriffen, lobt Witzeling, der allerdings grundsätzlich an diesem Abend eine künstlerische Konzeption vermisst.

"Nein, es ist nicht wahr, dass die Kritiker nur noch ins Hamburger Schauspielhaus gehen, um dann zu verreißen, was sie gesehen haben. Man würde gerne mal wieder so richtig begeistert aus Deutschlands größtem Theater kommen und eine euphorische Kritik schreiben", leitet Anke Dürr in der Frankfurter Rundschau (20.3.2010) ihre Kritik zu diesem Abend ein. Aber es werde einem schwer gemacht. Bereits den Text von Simon Stephens findet sie absehbar und beliebig. Der Regisseur Daniel Wahl habe zwar ein paar gute Ideen. Doch immer wieder wirkt er überfordert auf die Kritikerin. Auch die Schauspielerleistungen sind aus ihrer Sicht nur passabel. Und: "zu wenig für dieses Haus." Der Regiesseur und seine Bühnen- und Kostümbildnerin packten auf die große Bühne eine mächtige, breite, graue Schultreppe, "wie sie jeder kennt. Man kann sie schön rauf und runterrennen. So weit, so gut." Der Rest lasse viele Fragen offen.

 

 

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