Kampf der Liebe gegen die Ritter der Kokosnuss

von Wolfgang Behrens

Berlin, 19. März 2010. Was für ein Plunder! Unter den klassischen Repertoirestücken des deutschen Theaters ist Kleists "Käthchen von Heilbronn" sicherlich eines der allerkrudesten. Von Femerichtern bis zum Rittermummenschanz, von brennenden Burgen bis zu halbkünstlichen Menschen reichen die schauerromantischen Zutaten; und ein als Deus ex Machina auftretender Kaiser macht das Ganze endgültig zum Kaiserschmarren.

Wäre da nicht diese allerwunderlichste Liebesgeschichte zwischen einem 15-jährigen Bürgermädchen und einem Grafen, die unterm Holunderbusch in so traumseliger Schönheit ihre Erfüllung findet, man könnte das Stück getrost vergessen. So aber umschließt der Plunder als gigantisches Ablenkungsmanöver einen poetischen Kern, der seinesgleichen kaum hat.

Anzugträger in den Kulissen

Blickt man auf die formstrenge Bühne, die Alain Rappaport für Simone Blattners Inszenierung des "Käthchen" am Berliner Ensemble entworfen hat, so muss es scheinen, als habe der Plunder an diesem Abend schlechte Karten – eine nach hinten zu sich verjüngende, unregelmäßige Treppenabsätze bildende Stufenflucht, seitlich schwarze Kulissen: das ist alles.

Der Anfang dann lässt das Schlimmste befürchten: Ist mit dem Plunder auch das Leben aus dem Stück gewichen? Wann hat man je das Femegericht so blutleer gesehen? Als gesichtslose Anzugträgermasse lugen die Richter aus den Kulissengängen hervor und üben sich in kunstlosem Chorskandieren, sie sind weder Bedrohung noch Instanz. Und die Streithähne – Axel Werner als Waffenschmied, der den Grafen Wetter (Sabin Tambrea) beschuldigt, seine Tochter behext zu haben – gerieren sich, als hätten sie gar keinen Konflikt, sondern spielten ihn nur schablonenhaft nach. Die große Langeweile droht, ehe die Aufführung richtig begonnen hat.

Burggrafen und ihre Strickmuster

Doch dann kehrt der Plunder zurück. Weniger aus der Requisite kommt er, sondern vielmehr aus dem Spiel: Simone Blattner lässt das Gros ihrer Darsteller als Fleisch gewordene Abziehbilder auftreten. In karikierenden Arrangements und Choreographien tollen die diversen Burggrafen, Knappen und Edelfräuleins über die Bühne, sie tragen Häkelpullover, die wie Kettenhemden aussehen, und hoppeln herum wie Monty Pythons Ritter der Kokosnuss. Kunigunde, des Grafen Wetter (in mehrfachem Sinne) falsche Braut, präsentiert sich in einer Art Nina-Hagen-Outfit, und Ursula Höpfner-Tabori tut ein Übriges, um diesem Zwitterwesen mit den Wangen "aus den Bergwerken in Ungarn" und den Formen "aus schwedischem Eisen" comichafte Züge zu verleihen.

Mitunter bewegen sich die Spieleinfälle hart an der Kante zum Dämlichen, mit ihnen aber gewinnt der Abend den eingangs so dringend vermissten Drive. Und sie geben die parodistische Rahmung für das eigentliche Zentrum der Aufführung ab, für ebenjene allerwunderlichste Liebesgeschichte, die sich schon bei Kleist hinter allerlei unsinnigem Trubel verschanzt – Laura Tratnik als Käthchen und Sabin Tambrea als Graf Wetter stellen so etwas wie den natürlichen Gegenpol zu den Verzerrungen ihrer Umgebung dar: zwei junge Leute, die zwei sehr junge Leute spielen.

Und der schöne Wundersinn der Gefühle

Und sie tun das auf das Selbstverständlichste. Mit linkischen Gebärden – ein Kratzen am Kopf, ein Abwischen der Hände, ein verlegenes Lächeln – erspielen sie eine Teenager-Liebe, die sich erst ausprobieren und entdecken muss. Mit klugen Strichen (die das Stück auf schlanke zwei Stunden eindampfen) hat Simone Blattner das Thema Standesunterschied weitgehend aus ihrer Spielfassung herausgehalten: die Wankelmütigkeit des Grafen wird bei Sabin Tambrea vor allem zu der eines nicht ganz der Pubertät entwachsenen Jünglings, der sich seiner Gefühle noch nicht sicher ist. Laura Tratniks Käthchen hingegen bewegt sich im blauen Kleidchen mühelos auf der Grenze not a girl, not yet a woman. Das notorische und heute so provozierende "mein hoher Herr" kommt ihr über die Lippen, als sei es ein Kosename; mit kindlicher Unbeirrtheit stürzt sie sich in ihre Schwärmerei.

Es wäre noch von einigen schönen Momenten zu berichten: beim Einsturz der brennenden Burg beginnt sich die eingenebelte Bühne zu drehen und fährt in Zeitlupe den im Kulissengewirr verborgenen, ein paar sphärische Klavierakkorde anschlagenden Schutzengel Käthchens mit großen weißen Flügeln durchs Bild – der selten gewordene Mut zum Kitsch lässt einem hier kurz den Atem stocken. Schließlich führen Ruth Glöss als gräfliche Haushälterin und Jürgen Holtz als Kaiser in kurzen Einlagen große Sprachkunst alter Schule vor und holen sich Szenenapplaus ab.

Solide gebaute Poesie

Ein großer Wurf ist Simone Blattner gleichwohl nicht gelungen. Dazu schiebt sie vielleicht doch zuviel beiseite: eine wichtige Figur wie die Kunigunde etwa bleibt bei ihr im Grunde ohne tiefere (Be-)Deutung; Käthchens und des Grafen Liebe wiederum geht in ihrer Sicht fast zu plan- und geheimnislos auf. In den besten Augenblicken jedoch hat Simone Blattners Inszenierung so etwas wie eine solide gebaute Poesie. Inmitten all des Plunders, den man in jüngerer Zeit am Berliner Ensemble erleben musste, ist das jedenfalls nicht das Schlechteste.


Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe
von Heinrich von Kleist
Regie: Simone Blattner, Bühne: Alain Rappaport, Kostüme: Sabin Fleck, Licht: Ulrich Eh, Dramaturgie: Viktoria Göke.
Mit: Jürgen Holtz, Sabin Tambrea, Anke Engelsmann, Dejan Bućin, Christopher Nell, Ruth Glöss, Ursula Höpfner-Tabori, Judith Strößenreuter, Axel Werner, Laura Tratnik, Veit Schubert, Boris Jacoby, Marko Schmidt.

www.berliner-ensemble.de


Mehr zu Simone Blattner im nachtkritik-Archiv: Martin Heckmanns' Zukunft für immer, ein Theaterprolog für drei Schauspielerinnen, inszenierte sie im September 2009 zum Start von Wilfried Schulz' Intendanz am Staatsschauspiel Dresden. Heinrich von Kleists Amphitryon nahm sie sich im Sommer 2009 bei den Heidelberger Schlossfestspielen an. Unter der Intendanz von Elisabeth Schweeger war sie Hausregisseurin am Schauspiel Frankfurt, wo sie u.a. im März 2009 Shakespeares Othello, im Dezember 2008 Ödön von Horváths Kasimir und Karoline inszeniert hat.

 

Kritikenrundschau

Simone Blattners erste Berliner Inszenierung betone die parodistischen Seiten von Kleists Ritterschauspiel, schreibt Anne-Dore Krohn in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (21.3.2010) und lasse die Figuren im Laufe der zwei Stunden immer komödiantischer über die Bühne rennen. "Knecht Gottschalk zupft Käthchen das Kleid zurecht, Graf vom Strahl greift sich vor Aufregung in den Schritt, und die Ritter in gehäkelten Kettenhemden reiten wie bei Monty Pythons "Ritter der Kokosnuss" zu Galoppgeräuschen ein. Besonders stark findet die Kritikerin die kurzen Auftritte von Ruth Glöss als Haushälterin und Jürgen Holtz als Kaiser. Wie Holtz sich windend zur Vaterschaft des Käthchens bekennt zeigt ihr klassische Schauspielkunst. Großartig verrucht findet Krohn auch Ursula Höpfner-Tabori als Kunigunde. Die Frauen gehören für sie überhaupt zu den wenigen Farbklecksen auf der Bühne von Alain Rappaport: schwarze Stufen, die sich nach oben verjüngen, seitliche Trennwände, zwischen denen die Figuren auf- und abtreten. "So viel Schlichtheit tut so viel Komödie gut."

Ganz sicher war sich Andreas Schäfer im Berliner Tagesspiegel (21.3.2010) nicht, ob dies nicht am Ende eine Kleist-Parodie oder gar eine Parodie des BE-Theaterstils gewesen ist. Denn wie bei vielen Arbeiten, die an diesem Haus entstehen (egal von welchen Regiseur) erkennt der Kritiker ein dreiteiteiliges Grundprinzip, nach dem der Abend funktioniert. Auch Simone Blattners Berlin-Debut: Ablachnummern (80 Prozent), aus Beeindruckungsnummern (5 Prozent) und aus Nummern, die berühren wollen (rund 15 Prozent). Das Bühnenbild fand Schäfer zwar "gelungen reduziert". Doch grundsätzlich will der Funke besonders bei den zentralen Szenen des Dramas nicht auf den Kritiker überspringen. Mehr als Karikaturen verstehe die Regiseurin speziell aus den Nebenfiguren auch nicht herausholen. "Wie Comic-Figurinen tauchen die Ritter und Edeldamen in klirrenden Gewändern auf und drücken auf die Klamauktube. Die Männer trippeln als tuntige Ritter zur Rampe herunter, während aus Lautsprechern das Klappern von Hufen tönt." Damit das Publikum aber nicht glaube, sich in ein Boulevardtheater verirrt zu haben, gebe es hin und wieder ernst zu nehmende Schauspielkunstauftritte, von denen einer Schäfer in Erinnerung bleiben wird: "Jürgen Holtz als rührend verwunderter Kaiser."

Das Käthchen sei in dieser Inszenierung "auf erst einmal gar nicht unangenehme Weise durchgetrocknet", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (22.3.2010). Bei Laura Tratnik gebe "es kein Brennen, keinen Furor, kein Flehen, kein Zerfließen in heißen Tränen, auch keine hochwürdige Märtyrermädchenhuld. Käthchen ist - im Gegensatz zu den Hysterikern um sie herum - mit sich im Reinen, normal, ein bisschen langweilig vielleicht. Gott sei Dank." Ansonsten aber werde "die durchlässige Mehrschichtigkeit der Erscheinungen und die Unfassbarkeit der Wahrheit, woran Kleist sich abarbeitet", durch das Spiel nicht erschlossen: "Das ist vor allem polterig und szeneweise zusammengesetzt aus Regieeinfällen, die eher aus hirnschmalzverbrauchenden Problemlösungsvorschlägen hervor gegangen sein mögen als aus Geistesblitzen". Man möchte, so Seidler, "den ganzen Pappladen mal ordentlich durchschütteln und vor allem die jüngeren Schauspieler von ihrem Richtigmacherzwang befreien, mit dem sie ihre Auftritte und Abgänge absolvieren, ihre Blicke werfen und ihre seelischen Zustände anfertigen, von diesem Erfüllungseifer, der ihnen absolut keine Gelegenheit lässt, ihr Dasein auf der Bühne einfach mal zu genießen und der Wirkung zu vertrauen wie Käthchen ihrem Herzen."

 

 

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