Eine Männergeschichte

von Jürgen Reuß

Freiburg, 19. März 2010. Die Bühnenrückwand ist eine gezeichnete Draufsicht auf eine Hochhäuserschlucht. Darüber ist zweimal der Satz "Hier wohnt der Mensch" gepinselt, leicht gegeneinander versetzt, einmal schwarz, einmal rot. Beide Schriftzüge enden in Pfeilen auf eine Hochhausfassade. Das betont das Exemplarische, das das Stück "Lüg mir in mein Gesicht" wie ein Leitfaden durchzieht. Für den exemplarischen Menschen in der Uraufführung von Paul Brodowskys Auftragsarbeit für das Theater Freiburg beginnt der Abend wie auch für das Publikum um 20 Uhr mit der Tagesschau.

Es läuft ein Bericht über den Israel-Palästina-Konflikt, dazu flackern tagesschauähnliche Bilder durch einen mit Plastikbahnen verhangenen Wohnkubus. Rechts davon ein Tisch mit Stühlen. Dort wird Tilman seine Hochzeit mit Svetlana feiern. Zu Gast sind seine Mutter Erika, seine Ex Luisa und später der Bruder der Braut Grischa, der als weißrussischer Ex-Söldner noch seinen Krieg auf den imaginären Straßen vor der Häuserschlucht weiterführt, bevor er zu den anderen stößt.

Sag es, das erlösende Wort!

Tilman ist in diesem Stück ein Art Kippfigur. Zum einen der typische freigesetzte akademische Projektarbeiter Mitte dreißig, der zum anderen aber auch immer wieder zum eigenen Vater mutiert: Eine Art reflektierter Norman Bates, der seine Verwandlung gern, aber vergeblich als bloß lustige Spielerei verstanden wissen will. Die damit verbundene schauspielerische Herausforderung meistert Mathias Lodd sehr überzeugend. Luisa (Lena Drieschner) könnte als patente, selbstbewusste Frau durchgehen, wenn sie nicht wie ein Satellit um den Familiensumpf ihres Ex kreisen würde. Die Mutter Erika (Anna Böger) trägt zwar einen wuchtigen Haarhelm, bleibt aber blass, irgendwie auch überflüssig in ihrem Heimchenklischee, in dem sie selbst unter Alkohol höchstens zu den Kriegsgeschichten ihres Versorgers aufblühen darf.

Soweit der Familiensumpf, wie man ihn sich gern für die heutigen 30 bis 50-Jährigen Mittelschichtmänner vorstellt. Diesen Sumpf mit elliptischen Sätzen heraufzubeschwören, die bekannten Floskeln nur zu stammeln und anzutippen, da die Köpfe der Zuschauer sie eh automatisch ergänzen, macht die stärkeren Momente der Inszenierung aus. Die Einführung der weißrussischen Braut Svetlana (Rebecca Klingenberg), die aus ihrem Kulturkreis so etwas wie das Festhalten am romantischen Liebesbegriff reimportiert und von Tilmann immer das erlösende Wort hören will, dass er sie aus Liebe und nicht wegen der Aufenthaltsgenehmigung heiraten will, führt dagegen nicht sonderlich weit, weil man in diesem Männerstück nichts über Svetlana erfährt.

Verquaste Hoffnungen auf reinigende Kräfte

Wenn der Bruder der Braut, Grischa, endlich die Hochzeitsfeier erreicht, bekommt das Stück sogar zwei unangenehme Komponenten. Zum einen muss man in unserer kriegführenden Nation Kriegstraumatisierte nicht als Auslandsimport behandeln. Zum anderen zeugt der Moment, in dem Grischa Tilman mit Waffengewalt an den Punkt zwingt, an dem er sein familiäres Kreiseln verlässt und zu einer wahrhaftig anmutenden Liebeserklärung an Svetlana durchdringt, von einer latenten, unangenehm verquasten Hoffnung auf die reinigende Kraft des Kriegs.

Vielleicht hat das Regisseur Christoph Frick dazu veranlasst, das eigentlich auf diesen Punkt zulaufende Stück eher verläppern zu lassen. Die auf dem Motiv des Double Bind beruhende Grundkonzeption des Stücks wird einem am Ende zwar mit dem Rasiermesser eingeritzt, muss ansonsten aber eher erraten werden. Und auch die Gedankenarbeit, was das Stück mit der anfänglichen Tagesschaumeldung zum Israel-Palästina-Konflikt zu tun haben könnte, muss das Publikum selbst leisten. Was an sich nicht schlimm wäre, nur sollte man es zuvor für diese Frage interessieren.


Lüg mir in mein Gesicht. Ein Hochzeitsstück (UA)
von Paul Brodowsky
Regie: Christoph Frick, Ausstattung: Alexander Wolf, Beleuchtung: Bernhard Oesterle, Dramaturgie: Carolin Hochleichter.
Mit: Anna Böger, Lena Drieschner, Andreas Helgi Schmid, Mathias Lodd, Rebecca Klingenberg.

www.theater.freiburg.de

 

Mehr zu Christoph Frick im nachtkritik-Archiv: in Freiburg inszenierte er im Oktober 2009 Hochstapler und Falschspieler, eine Arbeit mit Schauspielern, Tänzern und Musikern. Im Oktober 2008 untersuchte er Die Europäische Verfassung und brachte im Januar 2009 mit Bernadette La Hengst eine Badische Bettleroper heraus.

 

Kritikenrundschau

"Kakophonisch und wirr" gehe es in dem Auftragsstück für das Theater Freiburg "Lüg mir in mein Gesicht" von Paul Brodowsky zu, meint Martin Halter in der Badischen Zeitung (22.3.). Als Kulisse diene "eine Pop-Art-Hochhauslandschaft, in der ein Pfeil auf das Wesentliche hinweist: 'Hier wohnt der Mensch'. Eine glatte Lüge. Hier wohnen nur die aus der neueren deutschen Dramatik hinlänglich bekannten fragmentarischen Typen: Entwurzelte, Gestrandete, Versager, Glückssucher, verstrickt in Standardsituationen, Klischees, Phrasen und Sprachmasken." Brodowsky rechne mit drei Jahrzehnten bundesdeutscher Geschichte ab, und daran sei "nichts auszusetzen. Das Problem dabei ist nur: Brodowskys Gesellschaftskritik ist beliebig, seine Figuren sind flach, ihre Stummelsätze eher künstlich erregt als eine Kunstsprache mit poetischem Mehrwert." Sein Stück verharre "exemplarisch hilflos und unentschlossen im Niemandsland zwischen Familiendrama, politischem Zeitstück und postdramatischer Collage. Christoph Fricks Inszenierung versucht es als schrille, überdrehte Groteske zu retten, macht aber mit Tiermasken und Konfetti alles noch schlimmer."

 

 

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