Nachtigall auf dem Mars

von Guido Rademachers

Düsseldorf, 20. März 2010. Die Capulets tragen Silberblousons und knallenge weiße Hosen im Stricher-Look, die Montagues urban-lässige Skatewear. Wo solch fundamentale modische Weltanschauungen aufeinanderprallen, muss eine Entscheidung her. Ausgefochten wird sie mit den abgebrochenen Antennen von drei auf der Bühne abgestellten Alfa Romeos. Veroneser Kennzeichen. Shakespeare, unser Zeitgenosse, kommt uns am Düsseldorfer Schauspielhaus mit seinen Automobilen so richtig nah.

Hugo Gretler hat auf die Drehbühne des Großen Hauses eine Art Globe-Theatre-Rudiment gebaut und zum Autokino umfunktioniert. Drei Meter hohe Stellwände begrenzen eine runde, zum Zuschauerraum hin offene Holzarena. In der Mitte ragt ein hohes Stahlgerüst empor, auf das eine riesige Leinwand gespannt ist. Vor der Leinwand hängt ein kleiner Balkon. "She walks in beauty like the night", prangt darüber in grauen Großbuchstaben. Es ist die erste Zeile eines schwarzromantischen Gedichts von Lord Byron. Wer damit gemeint ist, wird allerdings nicht klar. Die von Viola Pobitschka gespielte Julia wäre so jedenfalls eher unzutreffend beschrieben.

Faltenrock, Pferdeschwanz, Klettergerüst

Nicht nur, dass man sich nächtliche Schönheiten anders vorstellt als dieses sympathische Girlie mit Pferdeschwanz, das im grauen Schuluniform-Faltenrock zu den Undertones Pogo tanzt. Auch alles (Schwarz-)Romantische, das Schlegels "Romeo und Julia"-Übersetzung hergeben könnte, merzt Pobitschkas unbekümmerter Teen-Talk-Tonfall aus. Bei ihrem schnellen Dauerschnattern kann sich schon glücklich schätzen, wer von Schlegels vielgerühmtem Sprachkosmos noch die für die Handlung maßgeblichen Essentials mitbekommt.

In der Balkonszene steht Pobitschka auf dem Gerüst hinter der Filmleinwand. Sie lächelt, als hätte sie gerade eine Großpackung Glückskekse verzehrt. Aufgeregt hüpft sie auf der Stelle, während Milian Zerzawys hyperaktiver Romeo zu ihr hinaufzuklettern versucht. Keine Spur von erotischer Spannung, von Begehren, von Verwirrung. Zwei Kinder sind es, die auf einem Klettergerüst miteinander spielen wollen.

Gefilmtes Unglück und leinwandhaftes Glück

Doch dann, am Ende der Szene, aller Text ist abgespult, gibt es ihn doch noch: den leidenschaftlichen Kuss. Die Bühne dreht sich, Schmetterlinge flattern in Großaufnahme über die Leinwand, eine Tür öffnet sich, und Romeo und Julia treten vom Gerüst auf den vorne auf die Leinwand montierten Balkon. Lautstark setzt Musik ein. David Bowie singt "Life On Mars": "It's a god-awful small affair (…) And she's hooked to the silver screen.'

Große Gefühle gibt es in Michael Talkes Düsseldorfer Inszenierung nur auf Großleinwand. Die romantisch Liebenden, Shakespeares unter einem Unglücksstern dem Tod geweihten star-crossed lovers: In Talkes moderner Wiedergänger-Travestie erscheinen sie wie Selbstdarsteller, die – in Reichweite einer Videokamera – sich und ihre feelings zum Cinemascopeformat aufblasen. Bevor die Liebe, die ihren Weg kreuzt, überhaupt erfahren werden kann, ist sie hinter all den bunten Kitsch-Bildern schon wieder verschwunden.

Eng umschlungen sitzen Romeo und Julia auf einem Autodach und sehen sich ihr mit sentimentaler Musik unterlegtes "Es war die Nachtigall, nicht die Lerche"-Bettgeflüster auf der Leinwand an. Romeo benetzt die Augen mit Wasser aus einer Plastikflasche und nimmt seine Liebesbekenntnisse per Videokamera auf. Und selbst Mercutio (Moritz Führmann) hat, als er stirbt, noch einen Abschiedsclip parat.

Film, Musik und hartes Theaterlos

Zwischen Film- und Musikeinlagen klappert schwer das Theatergetriebe. Die Highlights sind vergeben, die Schauspieler arbeiten sich tapfer durch die verbleibenden Textmassen und dürfen ein paar Gags zünden. Andreas Bichler muss als spindeldürrer Bote hinter jeder Tür stehen, um sie vor den Kopf geknallt zu bekommen. Michael Schütz' Bruder Lorenzo grunzt als rasierter Zwerg von Mittelerde Flüche beim Blumenerde-Schleppen, während Karin Pfammatter als Kobold-Amme über die Bühne irrlichtert.

Auf ein Minimum zusammengestrichen ist der letzte Akt kaum mehr als bloßer Handlungsvollzug. In grob gedrechselten Arrangements sterben Romeo und Julia vor sich hin. Abschließend meldet sich Pierre Siegenthaler als Prinz von Verona per Videoeinspielung zu Wort: "Denn niemals gab es ein so hartes Los / Als Juliens und ihres Romeos." Da scheint der Prinz im Fond seiner Limousine, aus der er sich meldet, nicht alles mitbekommen zu haben. Was von "Romeo und Julia" in Düsseldorf zu halten ist, charakterisiert David Bowies Song schon besser: "Es ist eine fürchterlich kleine Affäre."

 

Romeo und Julia
von William Shakespeare, Deutsch von August Wilhelm Schlegel
Regie: Michael Talke, Bühne: Hugo Gretler, Kostüme: Tina Kloempken, Musik: Frank Böhle, Video: Matthias Lippert, Kampfchoreografie: Horst Gurski, Axel Hambach, Dramaturgie: Carolin Losch.
Mit: Andreas Bichler, Gunther Eckes, Moritz Führmann, Matthias Fuhrmeister, Angelika Fornell, Steffen Gräbner, Marian Kindermann, Viola Pobitschka, Michael Schütz, Thiemo Schwarz, Pierre Siegenthaler, Karin Pfammatter, Milian Zerzawy.
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de  


Mehr zu Romeo und Julia-Inszenierungen der jüngsten Zeit und jüngeren Generation: Simon Solberg arbeitete sich in seiner Inszenierung im September 2009 in Dresden an Bauzäunen ab. Thorleifur Örn Arnarsson nahm Shakespeares Liebestragödie im Juni 2009 in St. Gallen als Wikinger-Saga. Nuran David Calis inszenierte im Mai 2009 am Berliner Maxim Gorki Theater ein Hip-Hop-Spektakel.

 

Kritikenrundschau

Drei Gründe sprechen für Annette Bosetti von der Rheinischen Post (22.3.2010) für Michael Talkes Düsseldorfer Neuinszenierung von "Romeo und Julia": 1. habe Talke die Liebe von Romeo und Julia mit seinem "kurzweiligen Abend" "ins Jahr 2010 gerettet" (siehe Kostüme). 2. Lasse Talke "spielen und sprechen", habe "eine betörende Choreografie der Körper entwickelt" und verliere dabei niemals "den alten Shakespeare aus dem Blick". Ungereimtheiten blende er aus, glätte "behutsam mit modernen Worten" und erzähle die Story stringend, "so dass jeder sie versteht". In den blendenden Kampfszenen werde der Spieltrieb ausgelebt. 3. Bespiele Talke die Bühne "mit Multimedia", "was unserer Zeit entspricht, als wohltuende Modernisierung empfunden wird und den Anreiz erhöht, ins Theater zu gehen". Das Video-"Banner für die Botschaften" sei die "zweite Ebene", die Shakespeares Verona "in eine Megacity von heute zu transferieren vermag". Romeos Liebesgeständnis sei im Video glaubwürdiger als live.


"Jung, kampfsportlich, frech – so kommen Talkes Neu-Inszenierung und eine Reihe junger, begabter Schauspieler über die Drehscheibe des Düsseldorfer Schauspielhauses", schließt sich Michael-Georg Müller in der Neuen Rhein Zeitung (22.03.2010) dem, nach eigener Beobachtung, begeisterten Publikum an. "Jede Generation bekommt den Klassiker so serviert wie sie ihn versteht", und das heißt hier: Schlegel-Tieck werde besonders in den Nebenfiguren "geschickt mit einigen Fetzen heutiger Jugendsprache" sowie mit Groteske und Comedy-Elementen garniert. Romeo und Julia sprächen demgegenüber eher in Shakespeare-Versen, was "zur Utopie von der ersten Liebe" passe. Pobitschka entwickle "authentisch" ihre eingangs "keusche, rotbackige Julia" zur "starken Frau". Zerzawys Romeo sei ein "modern romantischer Melancholiker". "Fazit: Ein spannender Theaterabend, der zwischen ernster Tragödie und Comic-Humor balanciert und sein Publikum nicht nur in der Jugend finden wird."

 

 

Kommentare  
Romeo & Julia in D'dorf: Preis für die schlechteste Musik
der preis für die schlechteste musikauswahl und das schlechteste video geht eindeutig an diese inszenierung. wenn man nicht mal mehr mit einem shakespeare stoff etwas anfangen kann, dann steht es wirklich schlecht um die deutsche theaterlandschaft. theater hatte doch mal irgendwas mit phantasie zu tun???
Romeo & Julia in D'dorf: von American Apparel gesponsort
Ich schließe mich dem Vorredner an. Ja, Theater hat eine Menge mit Phantasie zu tun und normalerweise auch mit einem Gedanken, der am Anfang einer Inszenierungskonzeption steht. Dass die Kostüme von american apparel gesponsort wurden, reicht da nicht aus. Und - Hilfe! - ich kann keine sich drehende Drehbühne mehr sehen, da wird mir schlecht.
Romeo & Julia in D'dorf: Grottenschlecht
Ich schließe mich dem Vorredner auch an. Es ist wirklich peinlich gewesen dieser Abend. Grottenschlecht. Unwürdig für das große Düsseldorfer Schauspielhaus.
Romeo & Julia in D'dorf: Tiefpunkt in Düsseldorf
Wenn sich Theater selber nicht mehr ernst nimmt, wie sollen es dann Zuschauer tun? Ein neuer Tiefpunkt in Düsseldorf.
Romeo & Julia in D'dorf: einschläfernd
In der Pause ist der Mann neben mir entsetzt stehen geblieben und fragte: Wie? Das ist noch nicht das Ende? Es geht weiter? ... Danach kam er nicht mehr wieder lol. Es war wirklich einschläfernd langweilig...
Ich wäre auch am liesten gegangen, leider ging dies aus gewissen Gründen schlecht ;(
Romeo & Julia in D'dorf: Bitte um anständiges Theater
Wie gut, daß es Nachtkritik gibt und wir in Düsseldorf nicht mit Talke alleine sind. Helft uns, wir wollen auch anständiges Theater in unserer Stadt!
Romeo & Julia in D'dorf: Schauspieler im Bodenlosen
Herr Talke hat es geschafft, den Abend konsequent zu vergeigen. Nicht eine Szene überzeugt. Die Abgänge und Regieeinfälle haben Schultheaterniveau. Die Gags sind unterirdisch schlecht. Der Humor eines Drittklässlers ist sicher besser, aber die Tanzszene setzt dem ganzen die Krone auf.
Bei den Videos hat mal wieder jemand entdeckt, wie man mit speziellen Filtern Effekte erzeugt und so bekamen wir sie beim Glockenläuten gleich alle zu sehen.
Die Bühne selbst erinnerte eher an Sperrmüll in Flingern, als sonst etwas. Und damit etwas Schwung in die Bude kam, wurde der Müllhaufen auch noch gedreht. Da hüpfte das Zuschauerherz.
Darüber, wie man eine große Bühne bespielt, scheint man sich in Düsseldorf ohnehin nicht sonderlich den Kopf zu zerbrechen.
Am meisten hat mich beeindruckt, dass die Schauspieler diesen Kram auch noch mitmachen. Bodenlos dieser Abend.
Romeo & Julia in D'dorf: keine Hoffnung
Auch wer glaubte, der absolute Tiefpunkt des Theaters in Düsseldorf sei bereits überwunden, wird aufs Neue unangenehm überrascht. Es ist unfassbar, auf was für ein niedriges Niveau dieses Haus in den letzten drei, vier Jahren bereits gesunken ist! Uninspiriert, ideenlos, anbiedernd und grottenschlecht gespielt. Es ist unfassbar. Macht den Laden dicht! Hier gibt es keine Hoffnung mehr!
Romeo & Julia in D'dorf: ranschmeißerisch
Romeo & Julia in D'dorf: zu simpel
Es war erkennbar, daß man sich hier offensichtlich bemühte, ein jüngeres Publikum für den Stoff zu begeistern. Aber auf Kosten des Textes, der Sprache und der Geschichte. Und leider mit so billigen Stilmitteln und so modisch ranschmeisserisch. Wer auf solch simple Weise versucht sein Publikum zu erreichen muss dieses ja für ganz schön einfältig halten! Die Schauspieler können nichts dafür, auch wenn sie nicht gerade überzeugten. Alles in allem: ein ziemlich enttäuschender Abend.
Romeo & Julia in D'dorf: Nachtkritik bringt es an den Tag
Gut, das Sie auch das Grottige nicht scheuen. Die Nachtkritik bringt es an den Tag. Düsseldorf braucht ein anderes Theater!
Romeo & Julia in D'dorf: ein anderes Publikum ist nötig
na da schießt aber mal jemand komplett über das ziel hinaus! Düsseldorf braucht vielleicht auch mal ein anderes publikum. wenn danton's tod abgefeiert wird und sehr gute arbeiten wie black box, shoot oder black rider dann wiederum klein gemacht werden, dann kann man der großmannssucht dieser stadt nur staunend gegenüberstehen. wo wurde unter anna badora macbeth gefeiert - in fachzeitschriften, auf festivals, auf gastspielen aber sicher nicht in gernegroßdorf, wo differenzierungen nicht so angesehen sind.
Romeo & Julia in D'dorf: aber der Abend war schlecht
mag ja stimmen, liebe(r) "hampelpampel", aber der Abend war wirklich schlecht.
Romeo & Julia in D'dorf: mit Klamauk und seichten Gags
Ich erwartete von diesem Abend offenbar genau das Richtige: Klamauk, seichte Gags, Überzogene Szenen bei minimalistischer Ausstattung und vor allem eine seichte Persiflage auf eine damals wie heute bewegende Tragödie. Der ach so modern inszenierte Tod des Mercutio, begleitet von schlechten Videoeffekten und Coldplay brachte mich nur zum weinen, weil ich Mitleid mit mir, dem Publikum und den Schauspielern hatte, die sich so tapfer durch das Stück schlagen. Das große Finale, die Katastrophe habe ich versäumt. Nie wurde eine Pause so sehr herbeigesehnt, um zu fliehen und sich mit einem guten Buch ins Sofa zu kuscheln.
Romeo & Julia in D'dorf: Schauspieler spielen mit
ja ist recht. romeo und julia war doof und ideenlos. ich wollte auch zur pause gehen... aber im gegensatz zu einigen anderen konnte ich den schauspielern nicht so viel tapferkeit attestieren, dafür waren die gags der gummibärchenbande in all ihrer harmlosigkeit mit zu viel überzeugung vorgetragen. das kömmt nicht von ohngefähr so'n stuß! das werden die schon selber entwickelt haben und keiner hat sie abgehalten...
Romeo & Julia in D'dorf: das Stück ist tragfähig genug
Man darf an Kehlmann erinnern: Wenn ein Regisseur heutzutage ebenfalls glaubt, auch einen Shakespeare nicht mehr "historisch" inszenieren zu dürfen (und leider sind das so viele), dann sollte die Neufassung das Stück in seiner Aussage allerdings voranbringen und das in einer klaren Linie deutlich werden lassen. Hier war es wohl so, das das Stück tragfähig genug ist, die ziellosen und teils billigen Elemete der Bearbeitung zu verkraften. Die stärksten Eindrücke machten demgemäß die Monologe und Dialoge im Fokus des kleinen Scheinwerfers - ohne den Schnickschnack der Bühne und der Ausstattungen. Und es bleibt die Leistung der Schauspieler - insgesamt gut besetzt - , die den Kern des Dramas dennoch zu spiegeln wussten. Ach ja: Und man sollte im Programm schreiben: "Romeo und Julia" nach W. Shakespeare, in einer Bearbeitung von N.N.
Romeo & Julia in D'dorf: Talke war mal besser
Don Karlos von Talke habe ich mir 4mal angesehen, weil ich die Inzenierung und das Schauspilerensemble ausgezeichnet fand. Dagegen dieses primitive Bühnenbild, siehe andere Äuserungen: Speermüll, die Autos völlig unmotiviert, grässlich die Amme, die Mutter und letzlich auch die Julia als Girli. Unfassbar dann doch Schlegetextauswahl zu hören. Gags sind zum Lachen da: jetzt also Einzug der Comedy ins klassische Schauspiel? Hier wurde sich der Jungen Generstion mit billigen Mitteln angebiedert. Schade ums Geld!
Romeo & Julia in D'dorf: Aufregung als Unterhaltung
Ach, so schlecht war's dann auch wieder nicht. Ich wurde eingermaßen gut unterhalten. Glaube in Dusseldorf gehen die Leute nur noch ins Theater um sich danach aufzuregen, wie schlecht es doch war und dass alles vor die Hunde geht. Provinztheater vs. Provinzkleingeister... :D

Grüße aus Hamburg
Romeo & Julia in D'dorf: klasse Inszenierung
Mit das Beste was ich je gesehen habe. Super Schauspieler und klasse Inszenierung. So macht auch "modernes" Theater mal Spaß!!!
Gruß
Romeo und Julia, Düsseldorf: endlich mal was für junge Leute
Ich muss ehrlich sagen, mir hat es sehr gut gefallen! Natürlich ist es nicht das gewesen, was man erwartet, aber genau das ist gut daran. Es macht Spaß, mal etwas anderes zu sehen und Theater durch Musik und Videoinstallationen frisch und interessant zu gestalten. Endlich mal was für junge Leute, die nicht nur poröse Texte und alt bekannte Schauspielkunst sehen wollen. Jeder kennt Romeo und Julia, es musste aufgebrochen werden und sich von anderen Inszenierungen weit entfernen.
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