Man kann ja nicht alles wissen

von Dirk Pilz

Berlin, September 2007. Das vom Rowohlt Taschenbuch Verlag herausgegebene Theaterlexikon ist jetzt in der fünften, vollständig überarbeiteten Neuausgabe erschienen. Das ist schön. Noch schöner, dass sich zum 1986 erstmals publizierten Band nun ein zweiter gesellt hat.

"Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles" auf über 1.200 Seiten, "Schauspieler und Regisseure, Bühnenleiter, Dramaturgen und Bühnenbildner" auf knapp 800. So etwas haben Theaterliebhaber, Fachleute und Studenten gern im Regal. Man kann ja nicht alles wissen.

Und unbestreitbar, diese beiden, wesentlich von Manfred Brauneck verantworteten Schwarten sind durchaus nützlich: reich an Wissen, dienlich bei der raschen Orientierung und freundlicherweise mit Stichwortverzeichnis samt Länder- und Städteübersicht ausgestattet. Ein ordentliches Lexikon eben.

Jung heißt: unter 60

Aber ein vollständig überarbeitetes? Der Artikel zur Tragödie liest sich, als sei seit Jahrzehnten weder in der Forschung noch in der Theaterpraxis etwas geschehen. Die jüngste in der Bibliographie genannte Publikation ist über zehn Jahre alt; der Artikel selbst verhandelt den Begriff auf dem Stand vor vielleicht zwanzig Jahren. Seltsam. Glaubt man diesem Lexikon, dann hat sich in Sachen "realistisches Theater" in den letzten Jahrzehnten nichts Nennenswertes mehr getan; die Literaturhinweise enden 1981, der Eintrag kennt aber immerhin die "zeitgenössischen Volksstücke (Sperr, Kroetz, Turrini)". Das Nachdenken über "Regietheater" hat mit Günther Rühles Überlegungen von 1982 augenscheinlich aufgehört, heute sprächen die Kritiker – offenbar berechtigterweise – ohnehin von "Regiewillkür, die zum Selbstzweck und damit letztlich auch beliebig wird".

Arme Kritiker, die sich noch immer ernsthaft mit Regie und Theater auseinandersetzen. Und noch ärmere Wissenschaftler, die sich, zum Beispiel, mit dem Phänomen der Stimme beschäftigen – das kennt dieses Lexikon gar nicht. Luk Perceval ist ihm dagegen bekannt. Dass zu Perceval allerdings bereits ein Buch im Handel ist, wird dem Leser wiederum nicht verraten, der froh sein muss, Perceval überhaupt erwähnt zu finden. Denn die jüngere Theatergeneration – und jung heißt in diesem Fall: unter 60 – hat es nur selten zwischen die Buchdeckel geschafft.

Pollesch? Fehlt. Barbara Frey, Sebastian Nübling, Johan Simons? Alle noch zu jung, oder nicht bedeutend genug. Michael Thalheimer ist drin, pikanterweise mit dem Eintrag eines Dramaturgen vom Deutschen Theater Berlin, dessen Leitender Regisseur wiederum Thalheimer ist. Aber gut. Dafür beschränkt sich dieses Lexikon gottlob nicht allein aufs deutschsprachige Theater und vergisst nie, die Großen und Größten der Geschichte zu erwähnen.

Historie ja, Theorie nein

Darin, im Theatergeschichtlichen haben diese Bände ohnehin ihre Stärke. Schöne Abbildungen zum Barocktheater, ausführliche Erörterungen zur Antike. Wer aber systematische Begriffsanalysen sucht, zur Performance etwa nicht nur viele Namen und ein paar historische Stichworte lesen mag und sich nicht zufrieden gibt, Ironie als "Doppelbödigkeit eines Texts mit offensichtlicher und tieferer, gegensätzlicher Bedeutung" erklärt zu bekommen, der, ja der braucht dieses Lexikon nicht in seinem Regal.

 

Manfred Brauneck, Gérard Schneilin (Hg.):
Theaterlexikon 1. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. 1215 Seiten. 19,90 Euro.

Manfred Brauneck, Wolfgang Beck (Hg.):
Theaterlexikon 2. Schauspieler und Regisseure, Bühnenleiter, Dramaturgen und Bühnenbildner. 798 Seiten. 19,90 Euro.

Beide erschienen im Rowohlt Taschenbuch Verlag. Reinbek bei Hamburg 2007.

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