Komm her, du Tod

von Simone Kaempf

Berlin, 26. März 2010. Bei Mord Blut. Eimervoll klatscht es dem Kaplan über den Kopf. Rot glänzt sein Gesicht, das gut sichtbar an der hohen Bühnenrampe leuchtet, die hier wie eine stairway to heaven funktioniert. Eine Zugbrücke in den Tod. Fährt sie wieder hinunter, ist die Leiche weggeschleift, und eine lange Blutspur zieht sich über die Sperrholzfläche nach hinten. Es wird am Ende viel Blut fließen. Bricht der Krieg aus, ergießt sich ein roter Schauer vom Himmel, und der Kampf Burgunds gerät zu einem Sudelbad im irren Hohngelächter, das auf der rostfarbenen Bühne deutliche Farbspuren hinterlässt.

Diese Täterabdrücke lassen unweigerlich an Michael Thalheimers Orestie denken. Wie Constanze Becker sich damals Blut übers Haupt schüttete, mit dem blutverschmierten Körper Spuren an der Wand hinterließ und allein ihre Haltung erzählte, dass hier eine nichts mehr zu verlieren hat. Kurz und bündig war die "Orestie". Lang und blutig ist jetzt, dreieinhalb Jahre später, die Inszenierung von Hebbels "Nibelungen", die inhaltlich allerdings nahtlos anschließt. Auch am Hof Burgunds wird der Schritt von der Gewalt in die Zivilisation nicht vollzogen, und es bleibt offen, was auf die Auslöschung folgen wird.

Blut, mir schaudert's vor dir!

Michael Thalheimer will davon mit einer Wucht erzählen, die nicht nur sich selbst, sondern auch andere "Nibelungen"-Arbeiten zu übertrumpfen sucht. Schon nach wenigen Szenen ist soviel Zerstörungswut verbreitet, und in der unterscheiden sich die Welten und Geschlechter nicht. "Man trinkt ja Blut, indem man Atem holt", dieser Satz, der eigentlich die Heimat Brünhilds beschreibt, gilt hier genauso für den Königshof.

Düster ist die Stimmung über dreieinhalb Stunden. Höhlenfahl das Licht. Musikalisch großes Filmkino, das den Schauder gezielt anheizt. Wenn Siegfried zähnefletschend "Komm nur Tod" herausruft, das Licht gedimmt wird und die mit Trommeln unterlegten, verzerrten Gitarrenriffs erklingen, verfehlt das seine Wirkung nicht. Kinostimmung blitzt in solchen Moment auf, mit der die Figuren nicht mithalten können.

Wie Thalheimer sie in den Blick nimmt, sind sie weder listige Machtmenschen noch historisch einordbare Blut-und-Boden-Schergen. Ihre Grobheiten lassen sich in weiter zurückliegende Zeiten und archaischere Muster einordnen. Im Zottelpelz wirkt der Gunther von Ingo Hülsmann streckenweise wie ein reckenhafter Höhlenbewohner, ein Caveman, anfällig für jede Anstachelei.

Und Mensch, wie schlecht bist du!

Gewöhnungsbedürftig die blonde Langhaarperücke Siegfrieds (Peter Moltzen), der über den Zauderling nie hinauskommt und trotz des aufgefahrenen inszenatorischen Ernstes fast in die Karikatur kippt. Schlicht in schwarz dagegen der regelrecht in sich ruhende Hagen (Sven Lehmann), der anfangs abwartend schweigt, wenn die Männer vor dem Eisernen Vorhang zusammenhocken und Blut lecken, ob des Raubs Brunhilds und des Feilschens um die Hand von Kriemhild.

Und nicht minder barsch die Frauen. Brunhild steigert sich mit aufschwingender Megärenstimme in den Disput mit Kriemhild. Beide streiten wie die Männer in einer Lautstärke, die statt Wucht dann doch Distanz aufbaut, von ihren individuellen Verletzungen kommt wenig rüber.

Die Wucht, die Thalheimer will, macht aus dem Tragödienton ein großes Geschrei der Unversöhnlichkeit. Über seinen Mitteleinsatz, die Musik, den Ton rüttelt der Abend an den Nerven. Wie Thalheimer das bis zum Ende arrangiert und mit dem Blutbad nochmal das I-Tüpfelchen aufsetzt, zeugt von hoher Kunst, die man bewundern muss. Er erzwingt den Blick auf die Bühne. Von der Nibelungen-Geschichte mit ihren Wendungen, Irrungen und ihrer Zerstörungswut springt allerdings nicht mehr als der Blutrausch über. Die fatalistische Weltsicht, die in der "Orestie" beeindruckte, bleibt diesmal diffus und konsequenzlos: Der Mensch ist schlecht, Geschichte endet im Massaker, und herrje, das seit Steinzeiten schon.

 

Die Nibelungen
von Friedrich Hebbel
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Katrin Lea Tag, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Sonja Anders. Mit: Gabriele Heinz, Ingo Hülsmann, Sven Lehmann, Peter Moltzen, Felix Goeser, Moritz Grove, Maren Eggert, Natali Seelig, Jürgen Huth, Michael Gerber, Markwart Müller-Elmau, Michael Schweighöfer, Markus Graf.

www.deutschestheater.de

Mehr Nibelungen? In Wilhelmshaven hat im September 2009 Olaf Strieb die Neuerzählung der Nibelungensaga von Katharina Gericke uraufgeführt, an der Berliner Schaubühne hat Marius von Mayenburg, ebenfalls im September 2009, seine Hebbel-Fassung inszeniert. Und im Februar 2008 hat Christoph Frick in Freiburg die Hebbel-Trilogie herausgebracht. Mehr zu Michael Thalheimer im nachtkritik-Glossar.

 

Kritikenrundschau

Die schon bei Hebbel grandios humorlose Story um Siegfried wird laut Wolfgang Höbel auf Spiegel-Online (27.3.2010) auf eine derart brachial krakeelende Art erzählt, "dass sie einen bald null interessiert." Olaf Altmann habe eine schräg aufsteigende, manchmal wie eine Zugbrücke himmelwärts rumpelnde Bodenplatte gebaut, auf der Höbel eine "urzeitliche Rockerbande" sich versammlen sieht: "Die meisten sehen mit ihren langen Mähnen aus wie Heavy-Metal-Neandertaler, vor allem der blonde Fremdling Siegfried, der von Peter Moltzen gespielt wird und mit Blutkruste auf der Stirn am Hof der Burgunder einläuft. Er will sofort allen auf die Fresse hauen" Für den Kritiker ist Maren Eggerts Kriemhild die einzige Figur, die ein paar leise Momente hat, "aber auch sie kreischt bald wie von Sinnen, wenn sie sich mit Brunhild darum streitet, wer wem an der Wormser Dompforte den Vortritt lassen muss."

"Eine Horde kindischer Recken langweilt sich zu Tode", fasst Eberhard Spreng es im Deutschlandfunk (27.3.2010) zusammen. Anders als sonst habe Thalheimer den Text nicht "entkernt und auf eine thematische Grundtönung reduziert", er lasse sie vielmehr "deutlich und klug gekürzt, gradlinig und vergleichsweise vielschichtig" spielen. "Führte er zuvor Handlungen immer wieder auf ein oft melancholisches Leitmotiv zurück", ließen sich hier "immerhin einige Handlungsmotive erkennen". Zugleich jedoch seien die Figuren "unter dem Diktat von falschem Brustton und schriller Hysterie immer in der Gefahr, in die Karikatur abzurutschen". Der "emotionale Kriegszustand" verhindere, dass man sich bei ihnen "auf die Suche nach interessanten Bruchstellen machen könnte".

Wie Marius von Mayenburg an der Schaubühne verlege auch Thalheimer Worms und Etzels Hof "in abstrakte Spielräume", konstatiert Peter Hans Göpfert im rbb-Kulturradio (27.3.2010). Altmann habe allerdings die "ungleich expressivere Bühne entworfen". Was die "im Ungefähren stochernde Version von Mayenburg neben dieser hier völlig blass dastehen lässt", sei vor allem ihr "darstellerisches, viel mehr noch das große sprecherische Potential". Andere Regisseure, wie Kriegenburg oder Wolfgang Engel, hätten den Stoff "ungleich stärker und tiefer ausgedeutet, als es Thalheimer auch nur versucht". Er führe die Burgunder "als eine Truppe von feixenden Schreihälsen vor" und drücke sich vor Hebbels "seltsamem Dreh am Schluss ins Christliche". Der Abend zerfalle in zwei Teile: Im ersten absolvierten die Darsteller ihre Texte "geradezu rauschhaft". Im zweiten klappe dann "das ganze Regiegebäude in sich zusammen."

"Alle sind gefangen in der Eindimensionalität", schreibt Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel (28.3.2010), der es kaum ertragen kann, mit diesen hässlichen Typen. Denn die hocken eigentlich "nur stumpfsinnig an der Rampe, stehen versteinert herum, starren ins Nichts." Thalheimer gehe in dieser Inszenierung mit Maschinen, nicht mit Individuen um. "Killerautomaten, die so schnell wie möglich abgewrackt werden wollen." Dementsprechend hätten die Figuren auch kein Schicksal, sondern "einen Chip im Leib, der auf Selbstzerstörung programmiert ist." Für Schaper sind diese "Nibelungen" nicht einfach bloß eine misslungene Hebbel-Radikalisierung. Er eine Theatersprache und -ästhetik von Untergang und Todestrieb dröhnen, "die an sich selbst verzweifelt. Die laut und schwer auf ihr eigenes Verlöschen und Verstummen hinarbeitet."

Thalheimer nehme Hebbels Version der Saga beim archaischen Gefühlskern, schreibt Volker Corsten in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (28.3.2010), "bei Neid, Gier, Hass. Er unterbindet streng jede Hoffnung und schafft es bis zur Pause, mit seinem hervorragenden Ensemble die Spannung hoch zu halten." Im dritten Teil wird für Corsten dann allerdings "aus Strenge Statik, aus dem emotionalen Sturm ein ermattender Wind". Es wirkt wie ein Akt der Notwehr auf ihn, dass "Maren Eggert, die als Kriemhild zur dauerbrüllenden Herumsteherin degradiert ist, am Ende in den Mafiamodus schaltet und Gunther, Hagen und sich selbst einfach über den Haufen schießt. Andererseits: auf diesen Stilbruch waren die Primaten erst recht nicht vorbereitet." Entsprechend läßt ihn Olaf Altmanns Bühne an einen Affenfelsen denken.

Mit diesem "Katastrophenabend" setze Thalheimer auf "ganz großes Kino", so Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (29.3.2010). Wieder fühle er "der Tragödie auf ihren brutalen Kern" und erzähle sie "als ewige Katastrophen- und Blutsbandorgie". Entsprechend herrsche hier "ein zutiefst aggressiver, gleichbleibend schnarrender Brüllton vor", unterlegt von Wredes Bassgitarrenriffs, deren "pathosgetränkte Emotionalität" alles "manipulativ durchzieht und durchaus Momente von großer Wucht und Expressivität erzeugt, aber zunehmend doch vor allem schwer an den Nerven zerrt". Auf Altmanns grandioser Bühne gelinge es Thalheimer nicht, "zu einer sinnstiftenden Überhöhung zu gelangen und somit ein Menschheitsexempel zu statuieren". Bei diesen "tickenden Zeitbomben" sei die Explosion "nur eine Frage der Zeit, keine der Entwicklung". Die Ausnahmen: Lehmanns Hagen ("ein eiskalter, gefährlich scharfer, hart bellender Analytiker") und Groves Giselher (auch leise und skrupulös). Wenn der "Brüllmechanismus" nach der Pause jedoch "zum Schematismus" wird, hebele das "jegliche Anteilnahme" aus.

Bei Siegfried deute alles "auf eine posttraumatische Belastungsstörung hin", beschreibt es Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (29.3.2010). Sein "irres Gekicher" könne einem schon "ziemlich auf die Nerven gehen". Thalheimer, "selbst ein begnadeter Angeber des Theaters, hat das Stück als Tragödie von Angebern inszeniert, als schwelgerischen Schwanzvergleich", mit der "zivilgesellschaftlich eher trivialen Einsicht", "dass Schwanzvergleiche letztlich nichts bringen". Altmanns Bühnenbild habe den Vorteil, "dass es gleich zwei Rampen gibt", womit sich "die Varianten der Angebertheater-Königsdisziplin, des Rampentextsprechens, verdoppelt". Dazu Theaterblut, Kunstpausen "und fertig ist das Schmerzoper-Besteck, mit dem Thalheimer virtuos an der Pathosdynamik herumpegelt: Es schwillt und schwillt und schwillt, ohne dass bei den Figuren irgendeine Entwicklung erkennbar wäre".

Thalheimer tue dem Text zwar "keinerlei Gewalt durch Eingriffe oder pseudoaktuelle Einschübe an", halte sich an die Chronologie und habe bloß Anfang und Ende mit Zitaten akzentuiert, nimmt Ulrich Weinzierl von der Welt (29.3.2010) zunächst wohlwollend zur Kenntnis. Doch Wredes wummernde Musik mache alles diesmal "nur noch schlimmer", da "ohnehin fast durchgehend ohrenbetäubend geschrien" werde. Auch Weinzierl schreibt von der "an Neandertaler erinnernde Rockerbande". Nur: "Was will uns Thalheimer damit erklären?" Sind das "bewusst lauter Schießbudenfiguren, krakeelende Maulhelden - typische Männer eben?" Doch derart "feministische Deutung" ziele ins Leere, seien doch auch "die röhrenden Protagonistinnen zum Davonlaufen".

Michael Thalheimer ist eine "völlig unpathetische, dabei heißkalt berührende Inszenierung" gelungen, schreibt Irene Bazinger (FAZ, 30.3.2010): "Das Politische ist in dieser ästhetisch brillant formulierten Aufführung privat und das Private eine gnadenlos offene Wunde." Die Nibelungen erinnerten sie an "Jugendliche, die angetrunken nachts in eine Schwimmhalle geschlichen sind". Der "finale Blutrausch ist ihnen ein großer Spaß, das Sterben eine unglaublich lustige Ekstase". Doch wie auch bei Hebbels seien die Nibelungen dabei zugleich "undomestizierbare, grausame Wiedergänger aus entlegenen Tiefenschichten der unzivilisierten, das heißt noch nicht christianisierten Menschheit". Drei Stunden dauere "dieses nachthelle Untergangsballett, denn Michael Thalheimer, der virtuose Verdichter und Pointierer, holt diesmal nahezu episch aus, um die Figuren plastisch und überzeugend zeichnen zu können".

Wohl noch nie habe eine Olaf-Altmann-Bühne "so passgenau Thalheimers Inszenierungsidee" getroffen wie hier, schreibt Dirk Pilz (NZZ, 30.3.2010). In ihrer Maschinenhaftigkeit versinnbildliche sie das, was auch die Figuren kennzeichnet: "Die Nibelungen sind entseelte, dumpfe Mord- und Blutmonster." Bereits in der ersten Szene hockten sie wie "bloße Opfer ihrer Affekte und Triebe beisammen". Und schon häufig seien Thalheimers Inszenierungen von einer "seltsam starren Dogmatik" geprägt gewesen: "Weil er keine Fragen an seine Figuren hat, sehen sie oft wie bare Thesen-Ritter aus." Die "Grobthese": "Der Mensch ist schlecht, der Mann ganz besonders." Und auch jetzt beuge seine "Regie-Knie vor diesem grimmigen Nihilismus mit einer stupenden Gehorsamkeit, wie man sie sonst nur von strenggläubigen Katholiken erwarten darf". Er zeige so allerdings "weder archaische noch tragische Figuren". Denn bei Thalheimer sei "alles schon entschieden, bevor jeder Konflikt und jede Szene anfängt".

 

 

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