Mörderische Macht, menschlicher Abgrund

von Michael Laages

Dresden, 27. März 2010. Wer konnte das schon ahnen? Hätten Hollywoods Filmgötter nur ein bisschen anders entschieden, hätten gestern gleich zwei "Oscar"-Preisträger in Dresden Theater-Premiere gefeiert. Aber auch so, mit den Schauspielern Christian Friedel und Burghart Klaußner als "nur" nominierten "Oscar"-Kandidaten aus Michael Hanekes vielgerühmtem Film Das weiße Band, ist am Dresdner Staatsschauspiel mit Friedrich Schillers "Don Carlos" ein außerordentlicher Theaterabend gelungen.

Warum? Weil der junge Regisseur Roger Vontobel mit dem Klassiker nicht aufgesetzt und überangestrengt herum spektakelt hat, sondern weil er bei aller Modernität und Zeitgenossenschaft den gedanklichen Kern, den Schiller-Sound ganz unbehelligt ließ, ja, ihn in halbwegs ungewohnter Frische neu vermessen hat.

Raunendes Geflüster, gefährliches Getuschel

Klaußner und Friedel, die Kino-Stars und Protagonisten, sind in diesem Bemühen nur sorgsam platzierte Bausteine in einem generell sehr starken Ensemble. Was konkret vermag Vontobel mit dem alten Stoff neu zu erzählen? Vor allem findet er Bilder (und behält mit ihnen eine Sprache) für die zwanghaften Abhängigkeiten und unausweichlichen Brüche in jedermanns Persönlichkeiten, die ein politisches System mit sich bringen muss, dass auf Unfreiheit basiert.

© David Baltzer
Burghart Klaußner als Philipp im "Don Calos"
© David Baltzer

Schillers Spanien, ausgestattet mit allen Insignien der europäischen Groß, ja Welt-Macht, inklusive der kirchlichen Inquisition, ist hier ein Überwachungsstaat, in dem nichts und niemand unentdeckt bleiben kann. Und auf Magdas Willis zu Beginn, in der königlichen Sommerfrische, noch hell ausgeschlagener Bühne kommt aus der Tiefe der Versenkung ein Palast ganz in Schwarz herauf gefahren, mit haushohen Flügeltüren überall, schmal wie Schießscharten, hinter denen jederzeit die geballte Staatsmacht in Gestalt eines quasi ständig präsenten Bedienten-Korps erscheinen kann.

Draußen vor der Tür herrscht im übrigen die Überwachungskamera und zeigt all das, was nicht in den königlichen Gemächern stattfindet, und oft genug ist auch der Zuschauerraum angefüllt mit raunendem Geflüster und wissendem, gefährlichem Getuschel – da fehlt nur noch der Computer, der dieses Herrschaftswissen vernetzt in perfekter Staatssicherheit.

Ober-Guru einer finsteren Allgewalt

Aber eben auf den (und auch auf die in Dresden und zwanzig Jahre danach immer noch recht nahe liegenden Assoziationen zur Welt der Stasi-Informanten) kann Vontobel schon verzichten. Bereits die demonstrativ ordensbehängte Brust der Chef-Charge Herzog Alba wirkt um ein paar Spuren zu deutlich. Es reicht eigentlich schon, wenn Burghart Klaußners König Philipp das Sakko ablegt und die Krawatte öffnet, um die Enge und Ausweglosigkeit zu markieren, in der sich diese Macht hier eingesponnen hat.

Zum finstren Ende hin, nach dem Pistolen-Geballer bei der etwas überreizt mafiosen Hinrichtung des dezent nach Alt-68er aussehenden Freiheitshelden Marquis Posa sowie des Königs Mord am eigenen Sohn, taucht als Kardinal-Inquisitor (und Ober-Guru einer über-finstren All-Gewalt, wie sie einst eben "die Kirche" war) Lore Stefanek wieder auf, die zuvor den ganzen Abend über die Chefin der Bediensteten war im schwarzen Schloß der Macht und ganz zu Beginn, in den schönen Ferien-Tagen von Aranjuez, mit dem königlichen Kindchen spielte, von dem niemand (nur die Königin) weiß, ob es vom König ist oder vom Prinzen.

Noch dieser letzte, monströse Auftritt der Inquisition ist mit Lore Stefanek eine klug gesetzte Pointe. Denn die letzte, diese mörderische Macht, der dieses ganze System sich komplett unterworfen hat, kann und jederzeit und überall und ganz alltäglich menschlich-abgründige Gestalt annehmen: wie die Monster, die wir immer wieder rufen.

Tragisches, politisches Märchen

Alle siedeln ganz privat am eigenen Abgrund in diesem durch alle Zeiten hoch politischen Stück, und alle können fallen – Schauspielerinenn und Schauspieler zeigen in Dresden, wie das geht: Klaußner als furios in und an sich selber zerbrechender Machthaber, Friedel als zögernder, immer wieder im Selbstgespräch sich verstörender Sohn, dessen Impuls die unerfüllte Liebe zu jener Frau ist, die einst ihm versprochen war und nun sein Mutter sein muss; Matthias Reichwald schließlich als selbstsicher intrigierender, aber auch an der eigenen Sehnsucht nach Heldentum scheiternder Revoluzzer Posa.

Zwischen ihnen die Frauen: hier Sonja Beißwenger als dunkel-schmale, mutig-entschlossene Königin Elisabeth, da die grandiose Christine Hoppe als tragisch in die Irre liebende Hofdame Eboli. Noch Thomas Eisen und Christian Erdmann als stark verknappter Hofstaat halten ihre schmalen Rollen eng und kompakt. Spätestens mit ihnen beginnt das Publikum zu vergessen, dass hier ein dramatisch politisches Märchen aus uralten Zeiten erzählt worden ist.

Kein Wunder, dass es uns nicht aus dem Sinn gehen will.


Don Carlos
von Friedrich Schiller
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Dagmar Fabisch, Video und Musik: Immanuel Heidrich, Dramaturgie: Robert Koall.
Mit: Sonja Beißwenger, Thomas Eisen, Christian Erdmann, Christian Friedel, Christine Hoppe, Burghart Klaußner, Matthias Reichwald, Lore Stefanek und Statisterie.

www.staatsschauspiel-dresden.de


Der Regisseur Roger Vontobel kam 1977 in Zürich zur Welt und ist im südafrikanischen Johannesburg aufgewachsen. Seine Inszenierung von Ibsens Peer Gynt, im Januar 2010 am Theater Essen herausgekommen, wurde zum NRW Theatertreffen 2010 eingeladen.

 

{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=xKCNzBfGy5E}

 

Kritikenrundschau

Auf Tomas Petzold von den Dresdner Neuesten Nachrichten (29.3.2010) wirkt Roger Vontobels "Don Carlos"-Inszenierung, die sich ganz auf den Text und die Schauspieler konzentriere, "sehr jung und frisch". Er verschiebe das Zentrum des Dramas von Carlos auf den König, der hier "mehr noch als die jungen Weltverbesserer zum tragischen Helden wird". Er sei mit Burghart Klaußner, der "mit seinem Gespür für die allgegenwärtigen Abgründe der menschlichen Existenz über die Dauer zu fesseln mag", ideal besetzt. Philipp sei hier "der Boss, einsamer Souverän", dem Klaußner "gewiefte Erfahrung und wachen Instinkt" verleihe. Christian Friedel stelle ihm als Don Carlos "alles entgegen, was auflodernder Intellekt, gewinnender Charme und scheinbar verzeihlich-jugendlicher Überschwang vermögen". Statt im spanischen Königreich des 16. Jahrhunderts wähne man sich hier "eher in einer postdemokratischen Gesellschaft, einem Wirtschaftsimperium vielleicht, dessen Macht gleichwohl auf der Dreieinigkeit mit Militär und Kirche ruht". In diesem "spätbürgerlichen Milieu" würden Schillers Verse fast zur Prosa." Vontobel konzentriere sich "stärker auf Missverständnisse als auf Intrigen" und suche "weniger nach Gut und Böse als nach genutzten und vertanen Chancen" – "von den Idealen der Aufklärung zur Politik als Kunst des Möglichen?" Am Ende erschieße Philipp den Sohn beim "privaten Showdown"; das darauffolgende Schweigen werde "von einem selten so einhellig begeisterten Publikum gebrochen".

Das bestätigt Valeria Heintges von der Sächsischen Zeitung (29.3.2010), die ebenfalls positiv verblüfft ist, dass das "uralte Werk als packender Thriller aus den Vorder- und Hinterzimmer der Mächtigen auf die Bühne kommt". So wie dieser Don Carlos "trickst und schachert", habe wahrscheinlich Merkel mit Sarkozy über die EU-Hilfen für Griechenland verhandelt. Auf der "äußerst spartanischen" Bühne würden die inoffiziellen Gespräche in den Hinterzimmern überzeugenderweise nur über Videobilder sichtbar. "In dieser Welt der Anzugträger, Konferenzräume und Sicherheitsleute" zeige sich Schillers Handlung "wie ein endlich entwirrtes Wollknäuel" – dank der "sehr genauen Regie, die sich keine Schludrigkeiten erlaubt, und Schauspielern, die den Text erden und so erst mit Leben füllen". Beides sei Vontobels Team "hinreißend gelungen". Der "größte Gewinn dieser Inszenierung" sei wohl, dass sie verdeutliche, "wie genial Schiller berufliche und private Motivationen untrennbar vermischt". Klaußner spiele "ungeheuer differenziert, schleudert geschliffene Worte wie spitze Messer". Friedels Carlos sei "wie ein junger Vogel, der sich voller Wut die Flügel am goldenen Käfig wundschauert", während Reichwalds Posa "ein hochfliegender Visionär und Kämpfer, aber auch unsicher uns stolz" sei.

Roger Vontobel hat einen "Psychothriller über drei Männer in ihrem Wahn inszeniert", schreibt Christine Diller (Frankfurter Rundschau, 30.3.2010): "Ziemlich konventionell in den Mitteln, sieht man von den Live-Videos vom herumirrenden, -schwirrenden Hofstaat und der Geräuschkulisse mit dessen perfidem Geflüster und Geschwätz ab, aber sehr, sehr aufregend in seiner Präzision." Schillers "verzwickte Blankverse" würden hier "in jeder Silbe wieder Geste, Gedanke, Gefühl, und deshalb hängt man dreieinhalb Stunden lang gebannt an den Lippen der Schauspieler". Ein "Getriebener, Rasender" werde dabei "der großartige Christian Friedel als Don Carlos". Hervorragend im "wunderbar spielenden Ensemble sind auch Sonja Beißwenger als coole Elisabeth und Christine Hoppe als zutiefst zerstörte Eboli". "Je größer und komplizierter der Stoff, desto größer und fruchtbarer Vontobels Lust, sich darauf einzulassen, und umso geringer die Gefahr, sich in Regie-Ideen zu verrennen?", fragt Diller. "Ist das vielleicht die Vontobel-Formel? In der bejubelten Dresdner Premiere hatte es den Anschein."

Für Anne Peter von der taz (8.4.2010) ist das Bestechende, "in welcher Klarheit" und "mit welcher Spannung" Vontobel den verwickelten Politthriller erzählt. Alle von Schiller ineinander verschränkten Dramen liefen nebeneinander her, "ohne dass eines die Oberhand gewinnt". "Unaufdringlich heutig" wirke der Abend, ohne dass er den Stoff "verkleinernd in einer Real-Sphäre verankert". Das Ereignis dieser "weder formal noch interpretatorisch auftrumpfenden Inszenierung" seien vor allem die Schauspieler, deren nuanciertes Spiel die Figuren "in aller Ambivalenz schillern" lasse. Sie gelängen "so glaubwürdig, dass man nicht mit einer von ihr mitgeht, sondern sie alle in ihren Ängsten, Nöten und dunklen Gefühlen zu verstehen glaubt" und "binnen einer Szene zwischen ihnen hin- und hergerissen" werde. "Die Inszenierung macht plastisch, was es heißt, dass Politik (...) immer von Menschen gemacht wird." Und wo sich "die Öffentlichkeit jeden Tag aufs Neue erschrickt, wie furchtbar Ämter und Verantwortung missbraucht werden können", tue es gut, "wenn das Theater auf solch luzide Weise daran erinnert, dass nichts ungeheuerer ist als der Mensch".

Es sei nicht "der deutende Zugriff, der diesen Abend zum Ereignis macht", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (8.4.2010). Denn dass im "Don Carlos" eine Überwachungsstaats-Kritik stecke, hätten schon andere entdeckt. Dass Misstrauen der Kitt dieser Hofgesellschaft ist und "die Sehnsucht nach Erlösung durch erfülltes Lieben in ungetrübtem Vertrauen geradezu pathologische Züge annimmt" auch. "Groß und bestaunenswert, ja packend und von einer seltenen szenischen, psychologischen Dichtheit" werde Vontobels Abend "durch die schneidende Präsenz, die Selbstaufgeklärtheit der Spielweise: Keiner wickelt hier seine Sätze einfach als Figurenbeiwerk ab, keiner flüchtet sich in routinierte, abgehangene Gesten". "Am deutlichsten unbestimmbar" blieben der König und sein Sohn, "die mit ihrem Beziehungskrieg" im Zentrum stünden. Doch das "Spiel der kleinen, hoch verdichteten Gesten" beherrschten nicht nur Klaußner und Friedel, "das gesamte, erstaunlich homogene Ensemble" erschaffe "ein Denk- und Schaustück von flirrender Intensität", in der alle "an Heimweh nach einem besseren, tieferen, ruhigeren Leben erkrankt" scheinen.

Kommentare  
Vontobels Carlos: Grüsse
herzliche Grüße aus dem Funkhaus!!!
Con Carlos in DD: für die Ewigkeit
Ein Abend für die Theaterewigkeit. Danke!
Don Carlos in DD: das hatten wir schon!
Ich finde es seltsam, wie ein derart konservativer Abend soviel Zustimmung finden kann. Für mich war der Abend eine Frechheit. Das Don Karlos Konzept abgekupfert von Andrea Breth (Burgtheater 2004), die ja schon von Stemann (DT 2007) und zuletzt Anselm Weber (Essen, 08/09) nachgemacht wurde. Der dritte Aufguß eines Überwachungstaats-Konzepts also, gleiche Figurenzeichnung, teilweise fast identische Ästhetik plus Videolösung (Weber, Stemann). Ansonsten bieder abgespulter Text im psychologisch-realistischen Spielmodus. Dass man dieses nachgemachte Kunstgewerbe-Handwerksstück (ohne jegliche eigene Vision) den provinziellen Dresdnern andrehen kann, ist noch verständlich, aber professionellen Kritikern ? Kopfschüttel.
Don Carlos in DD: absehbar
Das war ja klar, dass nach so einhelliger Begeisterung erste (gekränkt) kritische Bemerkungen auftauchen! Konstruktive Kritik ist nach wie vor angebracht, aber doch bitte nicht auf so billigen Niveau - ich sage nur "provinziellen Dresdnern" oder "psychologisch-realistischen Spielmodus" im negativen Zusammenhang! Lieber Herr/Frau "Das Stadttheater" - vielen Dank das Sie sich erniedrigt haben, zu uns in die Provinz zu kommen!
Don Carlos in DD: immr scheen uffpassen
@stadttheater:wo kommst`n her kleener das de dengst du gannst uns was vormachen. blos wil de dengst du bist dr nabel dr weld bistes noch lange ne.
mir wissen schon alleene was uns gefällt. da brauchmer ne unbedingt son grosskotz wie dich zu ,der uns erklärt was mr gutfinden dürfen.
liebe grüsse in die höhenluft& pass off das de ni nunterfällst
Don Carlos in Dresden: harsche Kritik
Der laute Aufschrei auf eine - zugegeben - etwas harsche Kritik zeigt, es ist was dran an der Provinzialität. Ich habe die Dresdner Inszenierung noch nicht gesehen, würde aber auch trotz, oder wegen, des Abkupferns beim Burgtheater oder DT Berlin mal gehen.
Don Carlos, Dresden: es kommt auf die Schauspieler an
zu 3.das mag ja sein, dass der Abend konservativ ist.
Natürlich hat es das Konzept Don Carlos=Bespitzelungsstaat zuvor schon gegeben, auch vor Andrea Breth, etwa bei Alexander Lang in den achtziger Jahren an den Münchner Kammerspielen als Hans Kremer den Carlos spielte, Axel Milberg den Alba und der wundervolle Peter Lühr den Großinquisitor. Das Ding war damals auch beim Theatertreffen in Berlin. Nichtsdestotrotz steht und fällt doch jeder Abend mit der Schauspielerleistung. Und die ist in Dresden doch bemerkenswert. Burghart Klaußner spielt zwar einen schmalen Philipp, einen sehr nüchternen Geschäftsmann eher als einen König - alles das sind ja natürlich auch nur Vorurteile, denn was stellen wir uns, oder stelle ich mir unter einem "König" vor oder einem "Geschäftsmann", das muss hier unerörtert bleiben -, trotzdem ist diese sehr nüchterne Rollenauffassung dann doch wiederum sehr nuancenreich gespielt.
Christian Friedels Carlos ist der rechte Selbstverwirklichungs- und meine Ideen-gehen-mir-über-alles-Jüngling, das aber dann weit entfaltet und deshalb überzeugend und Christine Hoppe als Eboli ist einfach anrührend wie sie die enttäuschte Liebende spielt, der alles, alles peinlich und schrecklich wird. Diese Schauspielerleistungen sind stark, sind - was immer das bedeuten mag - "glaubwürdig" und machen den Abend auch interesaant und lohnend, selbst wenn er keine originellen Mittel generiert. Oder?
Don Carlos, Dresden: erstaunlicher Balanceakt
Vontobel zeigt Menschen mit all ihren Schwächen, denn natürlich ust auch der dem Selbsterhaltungstrieb entspringende Egoismus zutiefst menschlich. Auch positive Gefühle sind ihnen nicht fremd, Liebe ist mehr als nur Fassade. Doch es sind eben Deformierte, gezeichnet von der Macht, dem Streben nach ihr, der Angst vor ihrem Verlust, auch dem gesellschaftlichen Druck, bedeutend zu sein, etwas darstellen zu müssen. Das Private und das Gesellschaftliche sind im Krieg – gerade hier liegt die Modernität von Stück und Inszenierung.

Roger Vontobel gelingt hier ein erstaunlicher Balanceakt. Sein Theater ist ein geradlinig erzählendes, in gewisser Weise konservatives. Er ist vielleicht der letzte große Psychologe unter den deutschen Theaterregisseuren. Und doch ist gerade dieser Carlos so heutig, denn er verhandelt gegenwärtige Konflikte und Grenzen, mit denen ein jeder heute zu kämpfen hat. Traditionelle Form und zutiefst gegenwärtiger, für das Jetzt und Hier relevanter Inhalt – bei Vontobel gehen sie eine natürlich erscheinende Symbiose ein, die im deutschen Theatergeschehen derzeit ihresgleichen sucht.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/
Don Carlos, Dresden: Enttäuschung für das Theatertreffen
Don Carlos von Vontobel: Ein unsäglich langweiliger, biederer, in den besten Momenten noch unfreiwillig komischer Abend: (…) Setzungen, schlechtes Zusammenspiel eigentlich hervorragender Schauspieler und üble Längen wegen fehlenden Kürzungsmutes. Warum ist diese Inszenierung beim Theatertreffen? Und warum wird solche Einfallslosigkeit und solch schlechter Geschmack von der Kritik auch noch schön geredet? Ein Riesen-Flop und eine krasse Enttäuschung für das Theatertreffen.
Don Carlos, Dresden: mit dem hohen Ton der 1970er
@Zeitgenosse
Danke, lieber Zeitgenosse. Mir ging es exakt auch so: Der Kaiser ist nackt! So etwas Biederes hatte ich nicht erwartet. Der Schluss (Inquisition) war doch lächerlich!? Und was für ein hoher Ton den ganzen Abend. Ich dachte, die Inszenierung sei von 1970. Aber nein, 2010. In diesem Sinne schon wieder "bemerkenswert", dass es dieses Theater heute noch (wieder?) gibt!
Don Carlos, Dresden: Steckels Hamburger Version ist mutiger
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Jury nicht den falschen Don Carlos zum TT eingeladen hat, aber das ist auch eher ein ganz persönlicher Eindruck von gestern aus Dresden. Das Dresdner Publikum liebt diese Inszenierung und da gibt es auch nichts dagegen einzuwenden. Ich fand nur Jette Steckels Hamburger Don Carlos mutiger. Vontobel riskiert nichts, es ist gut gemachtes Einfühlungstheater und daher tatsächlich irgendwie konservativ.
Don Carlos, Dresden: Unverständnis
was bitte ist an diesem don carlos so bemerkenswert?
Don Carlos, Dresden: konservativ kann heilsam sein
man hört hier immer wieder das selbe: Einfühlungstheater ist konservativ -
konservativ soll aber theater nicht sein -
also dann nur verrücktes gut gemachtes modernes theater anschaun!-
zur abwechslung ist konservativ, wenn gut gemacht -
heilsam geradezu für den gequälten heutigen menschen!
Don Carlos, Dresden: äußerst heutig
Konservative Form und gegenwartsrelevante Aussage widersprechen sich nicht. Ich habe einen äußerst heutigen Carlos gesehen, der seine Relevanz gerade daraus zog, dass er sie nicht ständig betonte oder, wie so oft, hinter allzu grellen Effenkten verschwinden lässt.
Don Carlos, Dresden: Schmutzige Finger
Lieber Prospero, auch Jette Steckel geht nicht mit "grellen Effekten" beim Publikum hausieren. Mal von den theatralen Mitteln der Bebilderung abgesehen, das Problem ist eher, wie unterschiedlich Schiller in beiden Inszenierungen ausgelegt wird. Vontobel geht von einem Überwachungsstaat aus, wie er eigentlich in Diktaturen vorherrscht. Der Bezug zur Gegenwart ist nicht ganz klar. Ein international agierender Konzern vielleicht oder was hat heute noch diese weltumspannende Macht? Das macht es irgendwie zu einer erschreckenden Zukunftsvision totalitären Herrschens. Das ist natürlich möglich, wenn man die politische Macht unkontrolliert delegiert. Dann entpolitisiert Vontobel aber das Geschehen und bricht es auf persönliche, familiäre Eifersüchteleien herunter. Der Marquie Posa wirkt hier wie ein unbedarfter politischer Quereinsteiger, der nur die richtigen Mittel der Intrige noch nicht beherrscht. Sein Idealismus scheitert am Unvermögen nicht an den herrschenden Zuständen. Er hat etwas von einem Egmont, die Gefahr negierend, stürzt er sich in sein Unglück. Was in beiden Inszenierungen gut dargestellt wird, ist die Unmöglichkeit der Änderung der Machtstrukturen von oben. Carlos ist nicht der Veränderer, der seinen Vater an der Macht ablösen könnte. Er ist eitel und denkt nur an die Verwirklichung seiner eigenen Ziele. Er handelt impulsiv und aus verletztem Stolz heraus. Erst mit dem Tod Posas bricht er mit der Macht, zu spät, da läuft die Maschinerie bereits. Die eigentlichen Intriganten Alba und Domingo sind zu schwach zu eindimensional gezeichnet. Dafür nimmt sich Vontobel viel Zeit, die Zerrissenheit von Philipp zu zeigen. Das macht übrigens Jette Steckel auch. Ein an sich zweifelnder Politiker oder Konzernchef, der an äußerer Beeinflussung zerbricht und sich der über ihm schwebenden eigentlichen Macht ergibt. Das ist heute schwer nachzuvollziehen. Alle Figuren, gerade auch die gefühlsmäßig völlig dahin fließende Eboli, sind nur ambivalent und haben sich irgendwie die Finger an der bösen Politik schmutzig gemacht. Jette Steckel stellt aber besser die eigentliche Funktionsweise von Politik dar. Hier ist Posa nicht der Verführte, sondern der klar denkende Idealist, der sich mit der Macht einlässt, um sie gezielt zu beeinflussen und zu kontrollieren. Das verweist in Richtung Wikileaks und Assange, soll aber auch zeigen, dass die Kontrolle der Mächtigen nur von unabhängigen, nicht unmittelbar in die Politik verwickelten Personen, auszuführen ist. Auch hier scheitern die Revoluzzer letztendlich an der Macht, die sie nicht durchdringen können, von der sie nicht einmal wissen. Nicht der König selbst macht sich die Finger schmutzig, sondern die geheime Instanz in Person des Inquisitors schreitet zur Vollstreckung. Das macht diese Inszenierung wirklich heutig und bleibt doch auch sehr nah an den Schillerschen Idealen von Freiheit. Gedankenfreiheit ist hier nicht nur ein hingehauchtes Wort, sondern eine klare Forderung, die aber nicht ins Publikum geschleudert werden muss, sondern die von uns täglich neu zu erringen ist. Vontobel zaubert schöne einfühlsame Bilder und Gesten mit denen er aufs private Unglück des Einzelnen in die Politik Verstrickten zielt, Jette Steckel hat den Mut im Politischen zu bleiben, auch wenn man sich dabei die Finger, im übertragenen Sinne schmutzig machen muss.
Don Carlos, Dresden: bereitwillig in Mechanismen eingebunden
Lieber Stefan, ich kenne Jette Steckels Inszenierung nicht, kann daher nur auf Basis Ihrer Einlassungen mutmaßen. Aus Ihren Worten klingt für mich eine optimistischere Sichtweise Steckels heraus, wobei der Figur des Posa eine Schlüsselrolle zukommt. Sie sehen es völlig richtig, dass er bei Vontobel eben kein Idealist ist, zumindest kein reiner, ideologisch sauberer Weltverbesserer, sondern jemand, der sich nur zu bereitwillig in die Mechanismen der Macht einbinden, sich von ihr verführen lässt und letztlich das spiel der anderen mitspielt. Bei Vontobel ist er nur insofern der Gegenentwurf Albas, als er seine Rolle viel überzeugender und konsequenter (bis zum gewollten Märtyrertod spielt). Alba ist blassm, weil Posa so strahlt. Das ist pessimistischer gedacht als bei Schiller und wohl auch bei Steckel, enthält einen guten Schuss Zynismus, erscheint mir aber nicht so weit von der Realität weg. Die Deformationen der M;acht, die Vontobel zeigt, sind doch täglich zu beobachten, nicht nur in der Politik. SAicher ist das zugespitzt, aber Zuspitzung ist ein durchaus erlaubtes Mittel, um Zusammenhänge zu beleuchten. Ich empfinde auch das Überwachungssstaat-Thema nicht als zentral für Vontobels Lesart, eher als Illustration und Sichtbarmachung, ja Metapher für die Unmöglichkeit, das Private vor dem Zugriff des Gesellschaftlichen zu bewahren.
Don Carlos, Dresden: sagen, warum Don Carlos scheitert
@ Prospero
Nein, da haben wir uns wohl missverstanden. Steckels Don Carlos ist auch nicht optimistisch. Ihre Protagonisten scheitern genauso, aber sie sagt warum und was eine Möglichkeit wäre, die Kontrolle über die Mächtigen nicht zu verlieren. Votobels Posa ist auch Idealist aber sein Idealismus grenzt an Pose, ein naiver Poser, der sich zum Schluss auch noch wie in einem Goya-Gemälde dem Erschießungskommando entgegen stellt. Bei Jette Steckel zweifelt Jens Harzer in der Rolle des Posa bis zum Schluss an dem, was er tut. Er tut es, weil es einer tun muss. Er wird erst zum Idealist, je mehr er in die eigentlichen Intrigen am Hofe einsteigt, sie durchschaut und versucht dagegen anzugehen. Das ist das eigentlich Tragische an dieser Figur, alles zu wissen und doch das Falsche zu tun.
Don Carlos, Dresden: kein echter Ausweg vorhanden
@Stefan
Vontobels Posa ist eben kein Idealist, er spielt lediglich die Rolle, auch vor sich selbst, ein Poser ja, aber sicher kein naiver, eher ein selbstverliebter und sich selbst verleugnender. Sie haben Recht, Vontobel deutet keinen Ausweg an, oder besser, er deutet vermeintliche Auswege an, die sich jedoch als Sackgassen erweisen. Eigentlich will hier auch keiner raus und insofern ist Vontobel sicher pessimistisch, da er die Möglichkeit eines echten Auswegs verneint.

Aber zumindest habe ich jetzt Lust bekommen, mal nach Hamburg zu fahren. Ist doch auch etwas ...
Don Caros, Dresden: formal sehr geschlossen
Don Carlos in DD: vorwiegend beeindruckende Schauspieler!

Ich habe die Aufführung in DD gesehen, nicht in B. Sie ist hochspannend und formal sehr geschlossen.
Die Hamburger Inszenierung hat mich dagegen kalt gelassen. Wenn nicht ein Zitat von Assange zu Beginn auf den Vorhang projiziert würde, bekäme keiner den Bezug zu den Wikileaksvorgängen hin- außerdem hat die Aufführung im weiteren Fortgang nichts mit dem Beginn zu tun- sie ist insgesamt formal sehr uneinheitlich und das auf wenig produktive Weise.Was soll da "mutig" ( stefan )sein? Die sonst sehr von mir geschätzte Regisseurin wird, denke ich, diese Arbeit selbst nicht zu ihren stärksten zählen.
In Dresden ist zwar der Philipp des Burghard Klaußner ziemlich "schwachbrüstig" ( m.lallike ) und hat den Hang zum "Tönen"( manni). Das Schauspielerquartett Beißwenger,Friedel, Hoppe und Reichwald allerdings pflegt ein Zusammenspiel auf derart hohem Niveau daß mir der Atem stockte.Besonders letzterer!
Ich zitiere Anne Peter aus der TAZ: "Matthias Reichwald gelingt das Kunststück, die tausendfach geprochenen Posa- Worte doch noch einmal anders klingen zu lassen." wobei ich hinzufügen möchte, nicht nur anders, sondern so direkt, wie wenn sie im hier und jetzt eben entstünden: Jedoch auch nicht banalisiert, sondern ganz auf der Höhe von Schillers Sprache und seinen Gedanken und sich ihrer Sprengkraft stets bewußt!
In diesem Zusammenhang: @ prospero:Ich teile ihre Einschätzung, aber was heißt hier "Vontobels Posa". Das klingt so, als ob Regisseure in Ihren Augen die konzepitonellen Halbgötter wären und die Schauspieler die dummen Gefäße,in die man die großen Ideen reinschüttet und die dann die Interpretationen brav oder minder brav ausführen.
Es sind für mich ganz klar Friedels Carlos und Reichwalds Posa, die da so spannend und berührend zusammenspielen und Figuren erschaffen und diese auch performen, die so oder so agieren und wirken: naiv oder berechnend etc.
Was da nun wirklich die Originalidee oder der Originalimpuls vom Regisseur war, das wissen wir beide nicht!
hans-friedrich
Don Carlos, Dresden: was kann ich lernen?
@ hans-friedrich
Es geht im Hamburger "Don Carlos" nicht um Wikileaks und Posa ist auch nicht Assange. Es geht um eine Idee, einen Gedanken, den man weiterspinnen muss. Wenn sich diese Assoziation bei Ihnen nicht einstellt, kann Jette Steckel da auch nichts für. Dass der Dresdner "Don Carlos" nicht gut ist, behaupte ich gar nicht. Aber hohes Niveau hin oder her, es geht nicht nur um ästhetische Fragen, sondern auch darum, was hat das alles mit mir zu tun, was kann ich über herrschende Sktrukturen in der Politik lernen. Wie kann es anders gehen? Das hat spielerisch Jette Steckel für mich besser gezeigt.
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