Auf dem Sofa der Nonsensproduktion

von Ralph Gambihler

Leipzig, 9. April 2010. Humor, sagt Herbert Fritsch, sei die höchste Form der Diplomatie. Er sprenge das Protokoll und schaffe neue Perspektiven. Es ist gewiss nicht zwingend, diese schönen Sätze, mit denen der Regisseur vor der Premiere die Lokalpresse beglückte, auf das Centraltheater Leipzig zu beziehen. Möglich aber ist es.

Demnach hätte dann der aktuell angesagte Boulevardspezialist Fritsch das postdramatisch und performativ geprägte Stadttheater-der-Zukunft-Protokoll von Intendant Sebastian Hartmann mit einer eher altmodischen Ladung Ulk gesprengt und die historische Perspektive der Typenkomödie zwar nicht geschaffen, aber eben wieder mal so richtig eingenommen und ausprobiert.

Ehrenwerte Blödheiten

Soweit, so gut. Blöd ist nur, dass die neueste seiner heiteren Kreationen, "Oscar. Ein Missverständnis in drei Akten" nach Claude Magnier aus dem Jahr 1959, bei allem standesgemäßen Prasseln und hoher Slapstick-Dichte doch auch recht fad vor sich hin bollert. Man hat sie nämlich bald über, diese quietschbunte Lustspiel-Sahnetorte, diese schrill aufgetakelte Commedia über einen Seifenfabrikanten, der in die schlimmste Seifenoper seines Lebens gerät.

Der Abend spreizt sich mit Macht ins Brachialkomische und begnügt sich dann doch mit viel Albernheit und Blödelei. Wobei man sagen muss: Er scheitert ehrenwert, mit gediegenem Lustspielhandwerk und viel Liebe zum szenischen Detail, mit Talent zur Karambolage von Typen und Temperamenten, mit Darstellern, die sich die Seele aus dem Leib spielen.

Was gibt es? Natürlich den roten Samtvorhang und die Umbaupause zwischen den Akten. Auch die offene Seitenkulisse zum wirkungsvollen Hin-und-Her-Rennen der Darsteller darf in diesem menschlichen Tollhaus, das 1967 mit Louis de Funès legendär wurde, nicht fehlen. Das Zentrum der von Fritsch selbst entworfenen Bühne bildet ein sehr gelbes, bedarfsweise auch anders illuminiertes Sofa. Dieses Möbel ist nicht ganz so überdimensioniert wie Pipilotti Rists berühmtes Sitzmonstrum, aber doch einige Nummern zu groß für die von ständigen Misshelligkeiten geplagten Groß- und Kleinbürger. Vor allem aber ist das Sofa eine Zone ständiger Nonsensproduktion. Immer wieder fungiert es als tückisches Sitzkissengebirge und als gieriger Schlund, in dem die Leiber zwischen den Polstern verschwinden, um bald wieder aus der Kulisse zu springen, mit Effekt natürlich.

Sigmund Freuds Wohnzimmer-Bestiarium

Außer Tempo, Turbulenz, bonbonfarbenen Stilisierungen, olympischen Überdrehtheiten und vielleicht einem Schuss von Entertainment-Parodie legen Fritsch und seine Darsteller nichts Gravierendes hinein in ihr – am Schluss mehrheitlich bejubeltes – Wohnzimmer-Bestiarium. Abgründe und doppelte Böden muss man nicht suchen, es gibt keine. Die schwarzhumorige Hintersinnigkeit zur Wirtschafts- und Finanzkrise, die leicht zu haben gewesen wäre, weil ständig Koffer voller Millionen und Juwelen abhanden kommen, verkneift sich die Regie ebenso wie das zeitgeistige Sittenbild, das bei Louis de Funès in den Szenen funkelt. Im Grunde kostet Fritsch einfach die Motorik einer eskalierenden Konfusion aus und gibt viel Gas. Reflektieren sollen andere.

Obwohl! In der Konzeptionsphase hat man sich offenbar mit Sigmund Freund befasst, der nun im Besetzungsflyer bruchstückhaft mit seiner Studie "Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten" herumgeistert. Zitat: "Die günstigste Bedingung für die Entstehung der komischen Lust ergibt die allgemein heitere Stimmung, in welcher man 'zum Lachen aufgelegt' ist." Ah ja ...

Motorische Schwerstauffälligkeiten

Tiefenpsychologisch verankert sind womöglich auch die in der Tendenz von Hysterie befallenen Figuren. Es sind stereotype Witzfiguren von Anfang an, mehrheitlich verhaltensgestört, zum Teil geschlagen mit motorischen Schwerstauffälligkeiten. Holger Stockhaus ist als erpresserischer Angestellter und Heiratskandidat Albert ein klebrig-ruchloser Springteufel mit haarsträubend harmloser Frisur. Sara Sandeh zeigt als die falsche Tochter Nicole ein Frauenwesen von somnambuler Dämlichkeit, wobei ihr Kopf von zwei Armen umgeben ist, die wellenartig wie Unterwasserpflanzen in sachten Strömungen zu schlingern scheinen.

Sehr lustig wirkt Henrike von Kuick als die richtige Tochter Colette. Dieser Ausbund einer infantilen Blondine von terroristischer Bockigkeit, dieses große Tochterdrama hat Aplomb und erreicht einen hohen Grad an schmierenhafter Vollendung. Emma Rönnebeck muss man sich als notorisch überflüssige Fabrikantengattin mit übermäßig onduliertem Haar und schreiend orangem Kostüm vorstellen. Ihre Körperteile wackeln mechanisch um eine längst verlorene Mitte aus Contenance.

Für die Hauptrolle des Pierre Barnier hat man als Gast den komödienerprobten Hans Schenker engagiert. Der gibt einen Mann von körperlicher Unterlegenheit und Indifferenz, in dem die motorischen Auffälligkeiten der restlichen Bagage weiterzuarbeiten und wie Echos nachzuschwingen scheinen. Schenkers liebenswert angegrauter Papa erinnert eher an Frank Elstner als an Louis de Funès, vom Schatten des berühmten Mimen hält er sich sichtlich fern. Nur an einer Stelle gönnt er sich die Referenz, die konvulsivischen Wahnssinnsschreie und das große Armtheater des berühmten Franzosen.

 

Oscar. Ein Missverständnis in drei Akten
von Claude Magnier
Deutsch von Hans Weigel
Regie: Herbert Fritsch, Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Victoria Behr, Dramaturgie: Anja Nioduschewski.
Mit: Janine Kreß, Thomas Lawinky, Paul Matzke, Emma Rönnebeck, Sarah Sandeh, Hans Schenker, Holger Stockhaus, Barbara Trommer, Henrike von Kuick.

www.centraltheater-leipzig.de

 

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Kritikenrundschau

Der Wahnwitz von Claude Magniers "verwirrender, aber doch so genau justierter Komödie" "Oscar" beruhe "in der Funès-Version unter anderem darauf, dass ein Genial-Verrückter vor ansonsten weitgehend verhaltens-unauffälligem Personal durchdreht", schreibt Jürgen Kleindienst in der Leipziger Volkszeitung (12.4.2010). "Der Versuch, diese Konstellation auf der Bühne zu wiederholen, wäre wohl zum Scheitern verurteilt. Die Architektur von Herbert Fritsch ist es leider auch. Bei ihm dürfen alle de Funès sein. Nicht ein bisschen, sondern in voller Dröhnung." Natürlich blitze "das Maskenspiel der Commedia dell'arte auf" und sei "das alles für sich genommen zuweilen durchaus witzig." Zusammengesetzt aber sei es "zu viel und zu laut. Der Affe stirbt an Überzuckerung. Wenn schon Klamotte, dann auch richtig, scheint das Motto zu lauten. Doch wer das Stück nicht gerade gelesen hat, bleibt irgendwann draußen, angesichts der rasanten Irrungen und Wirrungen, die es bereithält." So grüße am Centraltheater Leipzig "wieder mal das Murmeltier. Statt Tiefgang ist es diesmal die Leichtigkeit, die nur behauptet wird."

Natürlich plünderten Herbert Fritsch und seine Leipziger Schauspieler "die Klamauk-Klassiker von Otto bis Klimbim. Und auch de Funès. Sie lassen keine noch so kalauernde Klein-Pointe aus. Da geht jede Tasse zu Bruch. Da wird jeder Koffer mehrfach verwechselt. Und die Bräute sowieso." Wer also Lust hat auf ein Theater habe, "das in den Rissen der Zeit mal nicht nach der tieferen Bedeutung oder irgendeiner (kleinen) seelischen oder (großen) Weltkatastrophe sucht, sondern kurzerhand das Chaos der Situation als Grundprinzip des Lebens erkennt und daraus Funken schlägt, sich selbst also mal leichter und nicht schwerer nimmt als auf den ambitionierten Bühnen (wie auch der in Leipzig) üblich, und wer auch daheim nicht gleich zur Fernbedienung greift, wenn vor allem der alte Klimbimquatsch ausgegraben wird, der wird sein Vergnügen haben", empfiehlt Joachim Lange in der Freien Presse (12.4.2010). Könner seien hier am Werke, und es sei "schlichtweg imponierend, wie sie allesamt diesen Turboslapstick durchhalten". Am Ende des Abends habe man "mehr gelacht, als man eigentlich wollte."

Es gebe "eigentlich so viel zu lachen an diesem Abend, dass gewisse Ermüdungserscheinungen einzusetzen beginnen", sagt Michael Laages auf Deutschlandradio (9.4.2010). Fritsch betreibe seit einigen Jahren "die Rehabilitierung der Farce, und zwar der absolut irrsinnigen, der absolut dämlichen, absolut jenseits aller realen und realistischen Möglichkeiten." Man habe "immer das Gefühl, der Regisseur Fritsch spielt den Schauspielern lange etwas vor, und dann machen sie es nicht so wie er, sondern sie machen es so, als entdeckten sie (…) seinen Wahnsinn an sich selbst." Man denke in Leipzig "keine Sekunde an Louis de Funès. Hans Schenker, der dessen Figur spielt, kopiert ihn nicht. Er tritt auf und spielt eher einen Groucho Marx, dieses schleichende Gehen, bei dem man das Bein immer etwas nachzieht und mit dem Kopf immer etwas weiter vorn ist als mit dem Hinterteil; eine hochinteressante, trickreiche Art und Weise, sich zu bewegen." Ob man Fritsch folgen müsse "in seinen Theorien darüber, warum wir alle so verkopft sind und nicht mehr lachen können", dürfe man bezweifeln, in der Praxis aber funktioniere es "an diesem Abend natürlich großartig."

 

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