Neue Jeans fürs Königreich

von Sarah Heppekausen

Bochum, 10. April 2010. Dieser König Peter lässt sich in der Kunst des japanischen Bogenschießens unterrichten. Lässt sich wie der Philosoph Eugen Herrigel von seinem Lehrmeister erklären, dass ein zu williger Wille genauso wenig förderlich sei wie falsches Warten. "Absichtsloses Gespanntsein" heißt das Zen-Ziel und meint eine Art Loslösung von sich selbst. Büchners König ist vom Regieren ganz wirr geworden, der moderne Herrscher hilft sich mit Entspannungstechnik. Und vergisst trotzdem, woran ihn der Knoten in seinem Taschentuch erinnern sollte: an seine Aktionäre.

Regisseurin Anna Bergmann, deren Thalia-Inszenierung von "Ernst ist das Leben (Bunbury)" in diesen Tagen beim Festival radikal jung in München gezeigt wird, hat vor Büchners Text keine schüchterne Ehrfurcht. Hemmungslos und erfrischend stellt sie Szenen um, streicht reichlich und fügt andere Texte hinzu. Und bleibt damit eigentlich in Büchners Nachfolge, denn der Autor selbst zitiert für sein Lustspiel gleich mehrere Literaten und ihre Werke, von Brentano bis Shakespeare. Anna Bergmann will aber noch mehr: Sie formuliert die Aktualität von Büchners Text, indem sie die Figuren und ihre Anliegen konsequent und klug ins Heute übersetzt.

17 Prozent Marktanteil für L&L
Die Königskinder, krank an Idealen, vermarkten sich selbst. Lena präsentiert ihr Eau de Parfum, Leonce eine Jeans – Made of Love. Was bleibt den Kindern der Reichen, die sich alles leisten können und an nichts mehr Gefallen finden? Nur noch ihr eigenes Produkt, das Ruhm und noch mehr Geld verspricht. Das erhoffen sich zumindest ihre Agenten. Bei einer Heirat der beiden könne die Luxusmarke "L&L" ein Marktanteil von mindestens 17 Prozent erreichen, rechnet der Präsident vor. Gut, es müssten Stellen abgebaut werden, aber so ist das eben bei Betriebszusammenführungen.

Ihre Langeweile bekämpfen die Partygänger Leonce und Lena derweil mit Musik, Sex und Koks im Glitzerglanz der Diskokugel. Als Putzmann, der die weißen Überreste einer durchschnieften Nacht aufwischt, weist der Leonce-Vertraute Valerio (Sebastian Kuschmann) noch verdeckte sozialkritische Züge auf, wenn er sagt "Müßiggang ist aller Laster Anfang". Später tritt er als "Valerio von den Gelben Seiten" auf und will effiziente Anzeigen an den Mann bringen. Bis er endlich die enge Krawatte löst und sich als parteipolitischer Agitator der "V.A.L.erio – Vereinigung der Arbeitslosen" outet und volle Arbeitslosigkeit statt Fabrikfaschismus und Büro-Oligarchie fordert. Der Müßiggänger ist im Arbeitsamt angekommen. Aber er bleibt der weise Narr, der sich über seine Reflexionen amüsiert.

Selbstfindung am Südpol

Die Textzusammenschnitte von Alt und Neu funktionieren auf der Bühne erstaunlich bruchlos. Anna Bergmann spielt mit der Vorlage, aber nimmt sie dabei ernst. Sie pickt sich das an Text heraus, was aktuelle Bilder in ihrem Kopf erzeugt hat. Leonce – melancholisch, zynisch, lebenssatt – wird bei Ronny Miersch zum Kurt Corbain der Oberschicht, fettige lange Haare, schwarz umrandete Augen. Langweilt er sich, greift er zur Gitarre oder zerschlägt sie. Freut er sich, ist es die exaltierte Freude eines Junkies, die nie lange anhält.

Lena ist bei Sina Kießling nicht das märchenhaft-zarte Blumenwesen. Das Parfum versprühende Partygirl kann richtig zickig sein, vor allem im Gespräch mit nervtötenden Journalisten, die sie nach ihrer Drogenvergangenheit fragen. Ihre Gouvernante "Konstante" ist ein Mann in Frauenkleidern (Michael Lippold), ein Transvestit zwischen den Geschlechtern und den Gesellschaftsschichten. Wie Leonce und Lena auf der Suche nach sich selbst. Sie finden den jeweils andern im Bochumer Schauspielhaus nicht in Italien, sondern am Südpol. Ein verheißenes Land mit Selbstfindungsgarantie. Und reichlich Platz für wunderschöne Traumszenerien vor Videobildern von Pinguinen und Polarlichtern.

Sinnreiche Bezüge, parodistische Einlagen, durchgeknallte Kostüme

Matthias Werner hat für den zweiten Akt eine verschneite Eisfläche imitiert, auf der sich die Paare nicht wie in einem großen Garten verlaufen, sondern permanent ver- und ausrutschen. Sie gleiten auf so unsicherem Fuß, so willenlos in ihr Liebesglück als hätte sie doch jemand anderes in die vorgesehene Bahn gelenkt. Das ist in diesem Fall die Hochzeit als Fusion von Lena Parfum und Leonce Jeans zu "L&L – when love meets life", der passende Werbeclip ist bereits produziert.

Anna Bergmanns Inszenierung glänzt durch sinnreiche aktuelle Bezüge, parodistische Einlagen und zum Teil durchgeknallte Kostüme (von Claudia González Espíndola). Eigentlich bleibt die Regie doch ganz nah bei Büchner, zeigt "Leonce und Lena" als vielschichtiges Stück zwischen absurd komischer Sozialkritik und traumspielartigem Lustspiel, zwischen bitterem Selbstekel und veralberter Commedia dell'Arte. Von Langeweile keine Spur.


Leonce und Lena
von Georg Büchner
Regie: Anna Bergmann, Bühne: Matthias Werner, Kostüme: Claudia González Espíndola, Sound-Design: Heiko Schnurpel, Dramaturgie: Dietmar Böck.
Mit: Bernd Rademacher, Ronny Miersch, Sina Kießling, Sebastian Kuschmann, Michael Lippold, Katja Uffelmann, Manfred Böll, Maximilian Strestik, Alexander Ritter, Sebastian Zumpe.

www.schauspielhausbochum.de


Mehr lesen: In Dimiter Gotscheffs Leonce und Lena am Thalia Theater im September 2008 ähnelte Leonce nicht Kurt Cobain, sondern Pete Doherty und spazierte zwischen Schlafsäcken, in denen sein Volk eingerollt auf der Bühne lag. Anna Bergmann inszenierte im Februar 2010 in Oldenburg Breaking the Waves und im November 2009 am Thalia Theater Bunbury, das zum Festival radikal jung eingeladen wurde.

 

Kritikenrundschau

Auf Matthias Werners Drehbühne im Bochumer Schauspielhaus erschaffe Anna Bergmann "eine Leonce- und eine Lena-Welt zwischen Christina-Aguilera-Videoclip und Calvin-Klein-Werbeästhetik", schreibt Max Florian Kühlem in den Ruhr Nachrichten (12.4.2010). Während da "das wasserstoffblonde Model Lena sich auf ihrem Plüschbett räkelt, zerschlägt Kurt-Cobain-Verschnitt Leonce eine Gitarre", dazu eine "ausgelassene After-Show-Party mit Massenkuscheln und platzendem Koksballon". An "Bildern für die existenzielle Leere und Langeweile" mangele es bei Bergmann also nicht. Wer allerdings die beiden sind, die sich nach der Pause in der Eiseskälte des Südpols wiederfänden, "was sie fühlen, warum sie sich ineinander verlieben", bleibe unklar. "Trotz der Überfülle an Ideen findet die Inszenierung nicht zu einem stimmigen Gesamteindruck und produziert immer wieder Leerlauf." Auch die angebliche Gegenwart, in die Bergmann Büchners Figuren versetze, wirke "seltsam entrückt": diese 90er-Jahre, "als die New-Economy-Blase sich aufzublähen begann und Guillaume Paoli die 'glücklichen Arbeitslosen' erfand", Müßiggang-Valerio wirke "wie ein Spätzünder". Die Hochzeit mit dem genialen Bernd Rademacher als König Peter sei allerdings "unbedingt sehenswert".

Kommentare  
Bergmann in Bochum: Glutamat-Schock
Das ist ja schön, daß Ihnen der Abend so gut gefallen hat. Mir ging es leider ganz anders. Ich bin frustriert über einen Abend der von Effekten und billigen Mitteln nur so strotzt und mich dennoch unglaublich langweilt. Weil ich das Problem der beiden Hauptfiguren nicht verstehe. Kein Satz von Büchner ist gedacht, gemeint oder empfunden. Es wird geschrien oder irre gelacht, Töne werden produziert und haben mit dem Gesagten nichts zu tun. Ich sehe einen Wettbewerb verzweifelter Schauspieler um das krasseste und schrägste Angebot. Da ist dann Fremdschämen angesagt.
Was will die Regisseurin mir eigentlich erzählen?
Was passiert denn da am Schluß?
Ich raff es nicht!
Soviel Geschmacksverstärker, soviel Anbiederung und so wenig Gedanken auf dem Theater machen mich einfach nur traurig.
Bergmann in Bochum: Kessel Buntes
Viel gäbe es zu sagen zu dieser Inszenierung. Ein paar Details: Warum baut da ein Innuit ein Iglu am Südpol? Wie ist er da hingeraten? Warum spricht der "König" zu seinen Aktionären, die doch die eigentlichen Herrscher über das Imperium sind? Warum ist Lena so alt, dass sie Leonce' Mutter sein könnte? Ja, Sina Kießling ist leider eine krasse Fehlbesetzung. Im Konzept der Regisseurin hätte hier eine Lady Gaga oder Paris Hilton stehen müssen, aber das ist Kießling alles nicht. Sie ist sympathisch, hat aber weder Glamour noch die Business-Qualitäten einer Hard-working-women wie Madonna. Wie schon bei ihren vorherigen Inszenierungen in Bochum liefert Bergmann wieder viele tolle Bilder und auch einige gute inhaltliche Ideen, aber dann geht es nicht weiter. Es will ihr einfach keine runde Inszenierung und kein zusammenhängendes Konzept gelingen. Irgendjemand hätte da die wildwuchernde Fantasie der Regisseurin ordnen müssen. So bleibt es nur ein Kessel Buntes, der sicher nicht langweilig ist, aber einen doch irgendwie unbefriedigt zurück lässt. Und dann tut es einem doch auch wieder leid um den ganzen verschwendeten Aufwand.
Bergmann in Bochum: bewegt, ohne dass es bewegt
Es wird viel bewegt, ohne dass es bewegt. Es gibt (zu) viele Einfälle, aber es fehlt eine Idee, die den Abend zusammenhält. So tobt und trant, deufelt und dümpelt der Abend vor sich hin; eine Dramaturgie scheint nicht stattgefunden zu haben. Inhaltlich und textlich geht das meiste nicht zusammen. So ist einmal mehr "Leonce und Lena" inszenatorisch und dramaturgisch ruiniert worden, wobei ich die Schauspieler/innen ausnehme. Mir kam es vor wie ein verzweifelter Kampf, einen Abend zu retten, an dem nichts zu retten war. Insbesondere Ronny Miersch scheint mir ein großes Talent zu sein. Hoffen wir auf Stücke, Inszenierungen und Rollen, die zusammengehen und in denen er sein gestriges Versprechen erfüllen kann.
Bergmann in Bochum: Bespaßung gibts auch bei DSDS
Na ja, es ist schon richtig: Frau Bergmann hat L&L konsequent ins Heute transportiert. Dieses Bemühen und die Konsequenz ist ja an für sich ganz lobenswert.
Aber es hat gar nicht weh getan oder mich sonst wie berührt. Solche Bespaßung kann ich auch bei DSDS und GZSZ haben, und da gibt es wenigstens häufiger (Werbe-)Pausen, so dass ich mein Kaltgetränk und die Chips nachfüllen kann... Wenn ich als Zuschauer auf die Konsumentenrolle reduziert werde und ein Tortenstückchen nach dem anderen auf die Zunge gelegt bekomme, kommt mir auch irgendwann das Kotzen, sorry! Dafür gehe ich nicht ins Theater! Das war Volkstheater im schlechtesten Sinne. Aber Volkstheater kann doch so schön sein, wenn man in jeder Hinsicht mitgenommen wird und einem dann die gute alte Katharsis doch noch über den Weg läuft. Aber bei L&L liefen sich leider nur Leonce und Lena zufällig, der Kitsch dem Spektakel und keine Laus keiner Leber über den Weg. Prost!
Bergmann in Bochum: häufig gezeigt, häufig gescheitert
@ 3
Da schwingt durchaus eine Frage mit, die mich hin und
wieder schon umtreibt: Gibt es Stücke, die einerseits
sehr häufig gezeigt werden, und die dann andererseits
regelmäßig inszenatorisch eher bis völlig scheitern?
Bei "Leonce und Lena" habe ich persönlich schon diesen
Eindruck, eben auch vom Hörensagen her (die Inszenierung im Schauspielhaus HH hat mich allerdings
auch kalt gelassen, bzw. werden lassen).
Sahen Sie "Leonce und Lena" je irgendwie ansprechend,
und wenn: ja, wann?? Und was müßte sich in groben
Zügen eine heutige Inszenierung Ihrer Meinung nach am ehesten vornehmen zB. hinsichtlich der Übersetzung in die Jetztzeit ?

@ 4
Nur: Ich rechne bei DSDS und GZSZ auch mit nix Anderem , und - bei Ihnen verhält sich das offenbar ganz ähnlich wie bei mir - bei "L & L" (sähe ich dies!!) ist das dann schon verwunderlich: DSDS und GZSZ! Die Frage ist ganz verwandt der obigen: ob wir es dann nicht fertig bringen könnten, in Strichen ganz konkret zu zeichnen, was "L & L" heute vielleicht sein möchte, sein sollte oder noch sein kann. Ich selbst war schon drauf und dran, "Nachtkritiken" zu Inszenierungen zu verfassen, die ich quasi in so einer Art "imaginärem Königsberg" statthaben lassen wollte ... . Da ich - according to A. - das Bild vom "Probenprozeß danach" (Threads) vertrete, sehe ich offen gestanden auch Chancen dafür, hier Bedenkenswertes zu etwaigen Aktualitäten von Stücken zu entwickeln, die möglicherweise eine kommende "L & L" - Fassung beflügeln. Die vermeintliche Wirkungslosigkeit dieser Threads erzeugt ja geradezu ein "Winwin", oder?
Ihre Luzie (dSdS) - der Schrecken der Straße -
Bergmann in Bochum: inszenatorischer Mischmasch
Liebe Luzie DSDS, nein, ich sah "Leonce und Lena" noch nie so, dass ich das Gefühl hatte, der Versuch der Inszenierung wird dem Text gerecht. Mittlerweile glaube ich, dass es ein Lesetext ist, der nur mit einer konsequenten Umarbeitung ins heute transportiert werden kann. Es bliebe dann "Leonce und Lena" nach... Aber nicht jener textliche und inszenatorische Misch-Masch, den ich gestern in Bochum sah. Deshalb auch mein "verzweifelter Schrei" nach Dramaturgie, solche hat in Bo bei keiner Inszenierung von Frau Bergmann stattgefunden und somit keine Weiterentwicklung.
Bergmann in Bochum: Talent überschätzt
Wieder mal ein VÖLLIG überschätztes "Regietalent", das mit den Versatzstücken des modernen Theaters jongliert. Inhaltsleer. Ein überflüssiger Abend.
Leonce und Lena in Bochum: zwei Fragen
Nun stellen sich mir bezogen auf Anna Bergmanns 'Leonce und Lena'-Inszenierung in Bochum nicht mehr bloß eine, sondern schon gleich zwei scheinbar unbeantwortbare Fragen: Nicht nur die Frage, was jemanden bewegt, eine dermaßen unschlüssige, in einzelnen Szenen sich am Rande des Ertragbaren bewegende, weil regiehandwerklich teilweise peinlich schlecht gemachte, inhaltsleere und von aufgeblasenen Nebensächlichkeiten durchzogene Umsetzung eines enorm themenreichen, intelligenten und pointierten Stücks auf die Bühne zu bringen, sondern zudem die Frage, was eine andere Frau umtreibt, eine in ihren Beweggründen und ihrer Meinungsbildung ganz und gar unnachvollziehbare Kritik zu diesem Totalausfall zu schreiben. Aus der ersten Frage lassen sich weitere Unterfragen entwickeln. Nur als Beispiel diese hier: Was ist dem schon nach kurzer Zeit gelangweilten, am Ende sogar vollends ermüdeten Zuschauer in über zweieinhalb Stunden vordilettiert worden?: Eine sehr unentschiedene, inkonsequente, zuweilen regelrecht verunglückte, insgesamt substanzlose Inszenierung, eine lose Aneinanderreihung daherassoziierter, geistarmer Spontaneinfälle, eine weitgehend humorlose, weil überwiegend auf Stereotype setzende bloße Visualisierung eines an sich grandiosen und komischen Stücks, ein aufgrund abgelutscht plakativer Bilder geradezu biederer und (ganz im Gegensatz zur rätselhaft unbegründeten Auffassung der Kritikerin) völlig entpolitisierter Ausverkauf des sozialphilosophischen Provokationstheaters. - Was ist der Gewinn an diesem dramaturgisch katastrophal entglittenen und nur mühsam durchstandenen Abend?: Der Besucher bleibt emotional kalt, nimmt inhaltlich wenig mit auf den Weg und nach Hause, wird mit Motiven, Themen, optischen Eindrücken sowie dumpfen, hinzugedichteten Gesprächs- und Monologfetzen überschüttet und darin ertränkt, ohne auch nur eine tiefergehende Erkenntnis daraus zu ziehen oder dem gelesenen Stück eine neue Facette abzugewinnen, rastlos, witzlos, entwertet - und vor allem für saudumm verkauft, indem ihm vermeintliche Aussagen, Charakterzüge, Beziehungen und Verhältnisbestimmungen, die selbst unverbalisiert durch ein beeindruckendes Spiel der Akteure bereits nach zwanzig Minuten mehr als einsichtig sind, so lange wiederholt und vorgekaut eingetrichtert werden, dass sich nicht erst beim siebten Mal des gebetsmühlenartig Daherschwadronierten die Frage stellt, ob die Regisseurin traurigerweise tatsächlich nicht mehr über dieses und in diesem Stück zu erzählen hat. - Was bleibt übrig, nachdem der enttäuschte und genervte Betrachter die oberflächlich angerissenen Problemhülsen, dürftig kopierten Poptheateranleihen, leider nur lächerlich statt witzig wirkenden Bonbonbühneneffekte sowie unplausible und an den wesentlichen Themen vorbeigehende Modernisierungsbemühungen von der Vorstellung abzieht?: Eine Mischung aus Zirkusbesuch, Papstbeerdigung, sich ausprobierendem Schülerimprovisationsstück, Boulevardlustspiel im Wartezimmer der Bedeutungsschwangerenberatung und einer gehörigen Portion Vakuum, in der die Schauspieler in großartig gespielten Einzelnummern wirklich alles geben, um es nicht aufzugeben, in dieser Bilderwüste vergeblich nach der Wasserquelle des Momente der intellektuellen Beschäftigung gewährenden Sinns zu suchen und die sich innerhalb ihrer Degradierung zu Slapstickclowns wenigstens ein Stück weit ihre lebensnotwendige Würde bewahren wollen. - Wenn ein Theaterabend einen Magen hätte, dieser 'Leonce und Lena'-Abend hätte zuckerwatte- und karamellübersäuert mit dem schrecklichsten Sodbrennen zu kämpfen und würde dem ohnehin noch betäubten Kopf in der Nacht die schlimmsten Träume bereiten - Träume übrigens, die ihm die Lust auf jede weitere Portion Zuckerwatte abspenstig machen.
Leonce und Lena in Bochum: das Verlogene an nachtkritik.de
Die Frage, Niklas H., die Sie in Ihrer Philippika nebenbei stellen, ist vielleicht zu beantworten: weil die den Maßstäben der Geschwindigkeit und einer wie auch immer gearteten Aktualität huldigende und sich ergebende Besprechung alle Masstäbe verliert, die kritisches Bewusstsein haben sollte. Unter anderem die zeitliche Distanz, das Abschätzen und Vergleichen. Das ist das furchteinflössend Verlogene an dieser Nachtkritik, dieses Zu-Diensten-Herr-Kulturindustrie. Man kann nur hoffen, dass ein Forum wie dieses nicht ernst genommen wird oder aber sich endlich entwickelt, von der bloßen, gut gemeinten schlecht gemachten Kopie des Feuilletons zu einer Avantgarde der Beschimpfung und Entblößung, des Partikularismus. Stattdessen tragen hier eifrige junge Netzwerker ihre Meinung im Ton ihres eigenen Grossvaters vor. Und fallen auf Kinder herein.
Bergmann in Bochum: schlüssige Bilderflut
Geehrter Niklas H., geehrte Kommentatoren,
wie Sie sagen, Büchners Text ist "themenreich". Für mich ein Überschwall an Spottlust, Wortwitz, Anspielungen, Zitaten und poetischen Einschüben, der mich beim Lesen gelegentlich auch überfordert. Die Regisseurin antwortet meiner Ansicht nach schlüssig mit einer Bilderflut, "wildwuchernder Fantasie" (wie "Dazwischen" es nennt), mit Zitaten aus der Pop-, Musik-, Party-, Werbe-, Entspannungs- und Politikwelt des 21. Jahrhunderts. Das ist vielleicht nicht innovativ, aber doch sicher ein nachvollziehbarer Kommentar zu unserer heutigen Zeit. Den dekliniert die Regisseurin genauso aufdringlich durch wie eine Werbeagentur. Dass das auch übel aufstößt, ist doch eigentlich ein gutes Zeichen.
Gruß, Sarah Heppekausen
Bergmanns Leonce & Lena: vierte Reihe, Mitte
Von Anna Bergmann hatte ich in Bochum schon "Alice" gesehen vor ihrem Büchner. "Alice" war Müll, aber irgendwie konnte man es ertragen.
Dann kam "Leonce und Lena". Auch das war Müll, aber man konnte es NICHT ertragen. Wirklich nicht.
Ich war an dem Abend spät und habe mich über meine Karten gefreut: vierte Reihe, Mitte. Spätestens nach einer halben Stunde aber hat mich mein Platz todunglücklich gemacht. Da nämlich stand ein älteres Ehepaar, das am Rand gesessen hatte, auf und verließ den Saal. Meine Reihe aber war zu beiden Seiten voll!

Wirklich nichts an der Inszenierung war ansprechend, anregend oder anmutig. Angefangen beim Bühnenbild. Erbärmlich anzusehen:
"Wenn der Regisseur nicht weiter weiß: Drehbühne und Trockeneis".
Die glamouröse Oberflächlichkeit der Welt, in der Leonce und Lena sich finden, kann man wirklich anders darstellen als durch von der Decke hängende Bahnen aus - so scheint es - Alufolie und Kunstholzinterieur. Dann dreht die Bühne sich und dreht sich wieder und dreht sich erneut und immer wieder: Alufolie und Kunstholz! Das geht mit der Zeit, mit sehr rascher Zeit, wirklich auf die Augen.
Zudem: ERFRISCHEND ist das, was man da geboten kriegt, nun wirklich nicht. Ja, es ist irgendwie anders, aber leider weiß man wirklich nicht, in welcher Hinsicht es anders ist. Das weiß das Stück selbst wohl auch nicht, hat man das Gefühl. "Ich bin Valerio von den gelben Seiten", sagt der Gute und macht sich nackig. Warum er sich nackig macht, weiß ich nicht, habe ich bis heute nicht verstanden. Dann diese ewigen Längen. Gefühlte 20 Minuten tanzt Rosetta vor Leonce.
Dem ganzen mangelt es an erkennbarer Stringenz. Nichts von dem, was man da sieht, lässt sich in einem Schnittpunkt zusammenführen. Wenn man also schon so anders sein möchte, so vollkommen neu, dann muss diese Andersartigkeit und Neuheit aber, um ihnen auch etwas Gutes abgewinnen zu können auch mit einheitlicher Aussage daherkommen.

Ganz furchtbar: die Hauptdarstellerin.
Zunächst: Michael Lippold als Gouvernante ist fantastisch, auch die Schauspielerin der Rosetta schlägt sich (wenn man die Verstümmelung ihrer Rolle bedenkt) gut und Ronny Miersch als Leonce gibt wenigstens einen glaubwürdigen "Kurt Cobain Verschnitt".
Aber die Lena (Sina Kießling)!
Nie habe ich auf einer Bühne von Bochums Bedeutsamkeit etwas derart Unglaubwürdiges gesehen. Von dieser Leistung, möchte ich behaupten, von dieser Besetzung fühlt sich der Zuschauer veralbert. Und das zurecht. Keines der Gefühle, die sie transportieren will (und man kann wirklich von Glück reden, wenn man erkennt, dass sie überhaupt Gefühle transportieren will), kommt beim Zuschauer an. Und ich saß (siehe oben) sehr weit vorne.

Das einzige, was ich aus diesem Abend mitnehmen kann: Nie wieder Bergmann, nie wieder Kießling.
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