Der Durst nach Dramatik

von Inga Fridrihsone

Riga, April 2010. Der begehrteste Schriftsteller der Vorkriegszeit, der unter dem sowjetischen Regime zu einem der wichtigsten kommunistischen Funktionäre im besetzten Lettland wird und unter anderem die Deportationsbefehle für seine Landesgenossen unterzeichnet; eine melancholische Dichterin der Moderne, deren von Kunst durchströmtem Leben im Jahre 1906 die prosaische Realität der unruhigen Nachrevolutionszeit entgegengesetzt wird; eine lettische Familie in den Winden und Stürmen des 20. Jahrhunderts. Das sind keine Kapitel aus einem lettischen Geschichtsbuch, sondern die Protagonisten in den aktuellen Aufführungen lettischer Gegenwartsdramen am Nationaltheater in Riga.

Traditionsgemäß interessiert sich das Nationaltheater mehr als die anderen für die nationale Dramaturgie und hat insbesondere in den letzten Jahren ihre Entstehung mitgeprägt. Die Saison 2008/2009 lief zum ersten Mal in der lettischen Theaterpraxis unter einem Motto: "Der Traum von Lettland". Texte von und über Letten sollten im Mittelpunkt stehen. Man griff dabei auf bereits bekannte Gegenwartsdramatik wie Māra Zālīte, Inga Ābele, Lelde Stumbre zurück und gab Stücke und Prosabearbeitungen in Auftrag, die dem programmatischen Ansatz entsprachen.

Das Bedürfnis nach Vergangenheit

Die Bestellung des Theaters hängt auch mit der Not des Theaters zusammen, den Saal füllen zu müssen, und so setzte man das in der gelungenen Theaterjubiläumssaison Angefangene in einer publikumsanlockenden Form dieses Jahr fort. Ins Zentrum rückten Dramen, die einen Panoramablick auf historische Persönlichkeiten und Geschehnisse boten.

Das Interesse an Geschichtsthemen hängt dabei genauso wie in anderen Nationen mit dem Bedürfnis nach identitätsstiftenden Vergangenheitsbildern zusammen. Ein Bedürfnis, das proportional mit dem Identitätsverlust in anderen Bereichen – sozialen, wirtschaftlichen, politischen – wächst.

Dabei ist die lettische Dramatik nicht unbedingt häufig auf den Spielplänen vertreten. Sowohl klassische als auch zeitgenössische Originaldramatik ist weder im Staats- noch im Off-Theater der Regelfall; insofern ist die Initiative des Nationaltheaters durchaus begrüßenswert.

Der Mangel an Dramatikern

Das aktuelle Repertoire zeigt jedoch auch, dass es an jungen Autoren mangelt. Gibt es denn die Dramatiker und die Stücke überhaupt? Quantitativ schon. Ende der 90er Jahre hat der Dramatiker Dainis Grīnvalds sie sogar in der "Dramatikergilde" vereint. Diese veranstaltet einen nationalen Stückewettbewerb und Lesungen. Die Stücke finden jedoch nur in Einzelfällen den Eingang ins professionelle Theater. Viele landen im Repertoire der zahlreichen lettischen Laientheatergruppen.

Seit den 90ern laufen daher immer wieder die Diskussionen zwischen den Dramatikern einerseits und Theatern und Kritikern andererseits. Erstere werfen den Letzteren Ignoranz vor, die Letzteren den Ersteren wiederum künstlerische Schwäche. Das größte Problem bei den Stücken ist allerdings die konventionelle Dramenform – und der jeweilige Inhalt: Während die Autoren um den Eingang ins traditionelle Sprechtheater ringen, haben sie noch nicht die Veränderungen im Theater wahrgenommen, die gerade jenseits der großen Bühnen vonstatten gehen.Und so bleiben die Dramatiker unter sich, bespielen nun sogar ihr eigenes kleines semi-professionelles Theater.

Die zornigen jungen Frauen

Um die zahlreichen Aktivitäten der Dramatiker auf ein professionelles Niveau zu heben, wurde vor etwa zehn Jahren zum ersten Mal ein Studienprogramm für Dramaturgie an der Kulturakademie Lettlands errichtet. 2001 schloss der erste Jahrgang der Theater- und Kinodramatiker ihr Studium ab. Aus diesem haben anfangs vor allem junge Autorinnen auf sich aufmerksam gemacht, die in Anlehnung an die englischen Autoren der 60er als "angry young women" bezeichnet werden, neben Inga Ābele sind dies vor allem Margarita Perveņecka und Elita Franciska Cimare.

Im Zentrum ihrer Dramen steht meist die Reibung zwischen dem Individuum und den neuen gesellschaftlichen Umständen. Die Figuren ihrer Stücke sind Außenseiter, die nichts mit der Rolle Lettlands als dem neuen wirtschaftlich hyperaktiven Tiger von Europa anfangen können – es sind Figuren, die als Pechvögel von der Gesellschaft schnell wieder ausgespuckt werden. Von allen hat jedoch nur Inga Ābele, geboren 1972, es geschafft, dass ihre Stücke und Prosabearbeitungen ein regelmäßiger Bestandteil des lettischen Theaterrepertoires werden.

Die Hirschjäger sind nackt

Ābele stellt mit ihren Stücken psychologisch nuanciert Verhältnisse in extremen Situationen dar, Situationen, in denen die Menschen zu unvorhersehbaren Handlungen provoziert werden. Die Dramen "Die dunklen Hirsche" (2001), "Stechgras" (2002) und "Der Jasmin" (2003) bilden eine regelrechte Familien(zerstörungs)trilogie. Das Familienhaus steht – im Gegensatz zu den in der lettischen Literatur verbreiteten Vorstellungen – nicht für Schutz und Harmonie, sondern ist ein Ort, dessen Aufbau und Instandhaltung die Menschenleben zerstört. Ābele verbindet symbolische Figuren und surrealistische Traumszenen mit naturalistischer Umgebungs- und Situationszeichnung, gehüllt in eine karge, lakonische Sprache.

Den Höhepunkt erreicht ihr Stil in "Die dunklen Hirsche": Ein ehemaliger Wissenschaftler fängt auf dem Lande ein exotisches Geschäft an – er züchtet dunkle Hirsche. Das Geschäft scheitert und er bietet die schönen Tiere ausländischer Jagdtouristen an. Seine Tochter kann dies jedoch nicht ertragen und erschießt aus Verzweiflung und Wut die Tiere. Fatale Untergangsstimmung und dunkle, raue Poesie zeichnet dieses Stück aus: eine geisteskranke Mutter, gebärende Hirsche, nackte Hirschjäger im Alkoholrausch in einer lettischen Hochsommernacht.

Das Stück, zu surrealistischen visuellen Bühnenbildern inspirierend, hat innerhalb weniger Jahre nach dem Erscheinen zwei Theaterinszenierungen und eine Verfilmung erlebt. Gelungene Gegenwartsdramen wie die von Ābele erleben also durchaus eine steile Theaterlaufbahn. Und das Nationaltheater stellt fest: Es braucht mehr gute Stücke!. Es fordert die Dramatiker deshalb ausdrücklich auf, an neuen Stücken zu arbeiten. Das Neue Theater Riga schlägt dabei einen Sonderweg ein, indem hier auch Schauspieler zu Autoren eigener dramatischer Texte werden.

Die von den Dramatikern vorgeworfene Ignoranz hin oder her – die Theater verspüren also großen Durst nach lettischen Texten und Stücken.

 

Inga Fridrihsone
geboren 1984, studierte Theaterwissenschaft an der Ruhr Universität Bochum und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Lettlands sowie als freie Theaterkritikerin.


Mehr zum lettischen Theater? In ihrem ersten Theaterbrief aus Riga berichtet Inga Fridrihsone vom Theater in Krisen-Zeiten zwischen Kompromiss und zaghaftem Aufbruch.