Experimente in der Ein-Mann-Kiste

von Anne Peter

Berlin, 17. April 2010. "Im Gegensatz zum Ausgewogenheitsprinzip sonstiger Gremien, soll die Entscheidung des Alleinjurors der Autorentheatertage radikal subjektiv und persönlich sein". So formuliert das frisch mit DT-Intendant Ulrich Khuon von Hamburg nach Berlin umgezogene Festival selbstbewusst sein Alleinstellungsmerkmal und versucht schon damit dem Eindruck einer objektiven, per Mehrheitsbeschluss abgesicherten Auswahl vorzubeugen. Ein einzelner Juror entscheidet also darüber, welche vier von diesmal 160 eingesandten Stücken in Werkstattinszenierungen bei der "Langen Nacht der Autoren" präsentiert werden, die die Autorentheatertage traditionell beschließt.

Radikal subjektiv, radikal ehrlich

Wenn dann auch noch ein Filmkritiker zur Sichtung gebeten wird, grenzen sich die Autorentheatertage einmal mehr von der Legitimationsbeflissenheit vergleichbarer Großfestivals ab, für die mehrköpfige Jurys aus Theaterfachleuten die Kandidaten durchsieben. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass der Theaterbetrieb sehr wohl sehr wichtig nimmt, was hier gezeigt wird. Auch wenn der betreffende Filmkritiker, Michael Althen von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, von sich sagt, er habe "vom Theater wirklich gar keine Ahnung".

Nach diesem Bekenntnis erzählte er in seiner Rede zum Festivalstart vor allem davon, wie er in seiner Juroren-Zeit die Liebe zum Theater entdeckte. Interest me! lautete sein Aufruf an alle einsendewilligen Dramatiker. Geschafft haben dies Julia Kandzoras Ungeborgenheits-Klage "In Neon", Laura Naumanns Jugendbegutachtung "süßer vogel undsoweiter", Carsten Brandaus RAF-Gedankenspiel "Fabelhafte Familie Baader" und Katharina Schmitts Performance-Monolog "Sam". An den jeweils zehn Tage geprobten Instant-Inszenierungen dieser Stücke lassen sich wiederum die unterschiedlichen Interessensgrade beobachten, die die Regie den Texten entgegenzubringen vermochte.

"In Neon"

Simon Solberg etwa konnte offensichtlich eher wenig mit Kandzoras verstiegenem, mitunter unnötig verkünsteltem "In Neon" anfangen. So leistete er sich, im Verbund mit dem fabelhaften Trio Susanne Wolff, Felix Goeser und Ole Lagerpusch, in einer flexiblen Schaumstoff-Lümmel-Landschaft diversen Spielwitz auf Kosten des Textes, dem es mit seiner Depressions- und Beziehungserkundung zwischen Mann, Frau und Freund doch eigentlich sehr ernst zu sein scheint. "Ein Mittel muss her was diese Ungeborgenheit abschafft irgendeine Geborgenheitstechnik", wünscht sich der Mann.

Goeser knautscht sich ins Kissen vor die Kamera, die sein Gesicht riesengroß auf den Rundhintergrund projiziert, während Frau und Freund ihn mit diversen Brachial-Methoden zu aktivieren versuchen: mit Hip-Hop-Training, Segeltouren, Sei-du-selbst-Meditation. Dabei führt Lagerpusch seine phänomenalen Gummi-Knie-Nummern und Wolff ihr unbändig komisches Talent nach Herzenslust spazieren. Auch manch direkt ironischen Meta-Kommentar auf den Text kann man sich nicht verkneifen: "blumenhafte Gewalt – das gab's noch nicht", wundert sich Goeser über die etwas schief geratene Metapher. Um diesen unterhaltsamen, mit nur wenigen Relevanz-Pointen versehenen Quatsch zu fabrizieren, hätte es allerdings kaum eines Textes bedurft, ebenso wenig wie dessen Verballhornung.

"süßer vogel undsoweiter"

Ein Mangelgefühl anderer Art hinterlässt die szenische Einrichtung von Laura Naumanns "süßer vogel undsoweiter" durch Alexander Riemenschneider. "jungsein wird überschätzt eindeutig", schreibt die 1989 geborene Autorin. Und die im Titel als längst bekannt abgewunkene Jugend wird mit ein paar Cliquenmitgliedern irgendwo in einem tristen Provinzort auf so bewährte Nenner wie Aufbruchswillen, Liebes- und Rebellionsbedürfnis gebracht. "bei uns gehts um leben und den ganzen kram", sagt einer. Sie haben sich mit bunten Lampions zur Abschiedsfeier für Amanda versammelt und quatschen sich beim Warten aufs Erwachsenwerden an den ganz großen Fragen entlang: "wenn es das paradies gibt warum leben wir nicht darin".

Bemerkenswert ist hier weniger das Thema als die Sprache, in die Naumann das diffuse Sehnen der Figuren nach einem anderen Leben hüllt. Poetisch, klar, schnörkellos: "ich will den himmel abschaffen weil er sone sehnsucht in mir weckt". Vorsichtig werden da Metaphern gewagt, die von Ferne an Büchner erinnern: "reiß mir den kopf auf und kuck rein du wirst nichts sehen oder doch aber nicht was du sehen willst". Riemenschneider findet für diese behutsam artifiziellen Sätze jedoch keine zündende Form, sondern lässt die jungen Darsteller im realistischen Modus an der Rampe aufsagen. Ein einsamer Baum streckt dazu die dürren Ästchen aus, links steht eine echte BMW-Karosse als Zeichen des nie stattfindenden Aufbruchs.

"Fabelhaften Familie Baader"

Zupackend und so aberwitzig wie die Textvorlage von Carsten Brandau gerät hingegen Rafael Sanchez szenische Auskostung der "Fabelhaften Familie Baader". Darin wird, unter Zuhilfenahme der RAF-Mythenkiste, das Gedankenexperiment durchgespielt, was gewesen wäre, wenn Gudrun Ensslin nicht 1940, sondern 1968 geboren wäre. Die Verhältnisse hätten dann, so Brandaus steile These, weder aus ihr noch aus dem Gudrun-Gefährten Andreas Linksradikalisten, sondern Leistungsträger des vermeintlichen Schweinesystems gemacht. Auch Brandaus Baader suhlt sich im Machismo, liebt schnelle Autos und bringt seinen Chef um die Ecke, wenn er dadurch die Karriereleiter etwas schneller hochstolpern kann.

Seine Liebste bastelt Bomben, hat einen Hang zu stilvollen Möbeln und exklusiven Gliedmaßen, die hier gern auch mal verloren oder getauscht werden. Überdies beginnt Gudrun eine Affäre mit der männlichen Sekretärin ihres Mannes. Als "Herr Brandau" hat sich der Autor – eine reizvolle selbstreflexive Schleife – selbst in den Text hineingeschrieben und als manipulativer Strippenzieher (und Alter Ego) das (in Brandaus Version miteinander verheiratete) Skandalpaar für seinen Plan zur Rettung des Kapitalismus (und Autor-Kapitals) auserkoren.

Judith Hoffmann, Jörg Pose und Alexander Khuon huldigen in Sanchez' sympathisch unfertiger Inszenierung dem heillos überdrehten Knallchargentum und tun alles erdenkliche, um jede im Text vorhandene Pointe und selbst noch jeden Souffleusen-Einsatz bis zum äußersten Lachreiz auszupressen – Scherz, Satire, Ironie, nicht unbedingt tiefere Bedeutung.

"Sam"

Den experimentellsten Zugriff und ein durchaus nervenzehrendes Finale bietet nach der dritten Pause der bis ein Uhr dauernden Langen Nacht der Leipziger Intendant Sebastian Hartmann mit der Interpretation des Mann-im-Käfig-Monologs "Sam". Damit bezieht sich die Autorin Katharina Schmitt auf das Selbstexperiment des New Yorker Künstlers Tehching Hsieh, der 1978-79 ein ganzes Jahr unter asketischen Bedingungen in einem 3,5 x 2,75 Meter großen Käfig verbrachte – und stellt das Theater damit vor keine kleine Herausforderung.

Bei Hartmann lässt der befrackte Samuel Finzi in der Mitte des gänzlich leeren Bühnenraums nach Maestro-Art die Fetzen aus dem fiktiven Dialog mit dem voyeuristisch hungrigen Publikum aus dem Off auf- und abschallen. Jene Sätze, die er sagen würde, wenn er sich kein Schweigen auferlegt hätte, schleudert er dem Publikum mit mächtigen Armbewegungen entgegen – eine gewaltige Klanginstallation, die bis in den Brustkorb fährt. Nachdem er minutenlange Stille ebenso wie strömenden Bühnenregen ausgehalten hat, führt Finzi schließlich ein Lama auf die Bühne und erklärt dem Tier seelenruhig seine Kunst – wie einst Beuys dem toten Hasen.

Das alles gipfelt in der Frage: "Glauben Sie an die Bedeutsamkeit Ihrer persönlichen Lebenszeit?" Die Figuren in Kandzoras und Naumanns Dramen ringen mit aller Kraft um diese Bedeutsamkeit. Andi und Gudrun haben sie sich als aufstrebende Mittelschicht längst in die Tasche gelogen. Und wir? Wir haben sechs Stunden im Theater verschwendet, auf gute Art.

 

Lange Nacht der Autoren 2010

In Neon
von Julia Kandzora
Regie / Bühne: Simon Solberg, Kostüme: Katja Strohschneider, Musik: Philipp Ludwig Stangl, Video: Nikolas Pritzkat, Dramaturgie: Juliane Koepp.
Mit: Felix Goeser, Ole Lagerpusch, Susanne Wolff.

süßer vogel undsoweiter
von Laura Naumann
Regie: Alexander Riemenschneider, Bühne: Julia Kurzweg, Kostüme: Wiebke Warskulat, Dramaturgie: Meike Schmitz.
Mit: Pia Luise Händler, Isabell Giebeler, Barbara Heynen, Tino Mewes, Elias Arens, Recardo Koppe.

Fabelhafte Familie Baader
von Carsten Brandau
Regie: Rafael Sanchez, Bühne: Nikolaus Frinke, Kostüme: Camilla Daemen, Musik: Knut Jensen, Dramaturgie: Anika Steinhoff.
Mit: Jörg Pose, Judith Hofmann, Alexander Khuon, Elisabeth Brückner, Ute Lohwasser (Souffleuse).

Sam
von Katharina Schmitt
Regie: Sebastian Hartmann, Kostüme: Sabine Eckert, Bühne / Licht: Lothar Baumgarte, Musik / Ton: Alexander Nemitz, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Samuel Finzi.

www.deutschestheater.de

 

Mehr lange Autorennächte? Die Vorgänger-Editionen fanden 20092008 und 2007 am Hamburger Thalia Theater statt. Und hier eine Festivalübersicht über die erste Berlin-Edition der Autorentheatertage.

 

Kritikenrundschau

Schön sei an den "Top Four", die der Filmkritiker Michael Althen für die Lange Nacht der Autoren am Deutschen Theater Berlin ausgewählt habe, die Tatsache, "dass sie sich in keinen Trend pressen lassen", meint Christine Wahl im Tagesspiegel (19.4.2010). Am ehesten ließen sich noch die Arbeiten von Julia Kandzora und ihrer Kollegin Laura Naumann vergleichen: "Denn Naumanns 'süßer vogel undsoweiter' könnte prinzipiell ebenso gut in dem überdimensionierten Bett spielen, in dem sich die etwas ältere 'In-Neon'-Generation räkelt. Auch hier kommen die Figuren (...) keinen Schritt voran." Vor allem aber sehe "nach diesen ersten Berliner Autorentheatertagen fest: Jungdramatische Talente werden künftig noch weniger Gelegenheiten bekommen, durchs engmaschige Fördernetz zu rutschen." Ob der quantitative Overkill der Förderstrukturen "auf Kosten der Qualität geht oder aberjungen Talenten tatsächlich Zutritt zu einem früher wesentlich stärker abgeriegelten Markt verschafft, der sich letztlich zuverlässig selbst reguliert, darüber wird seit Jahren in prominent besetzten Foren gestritten. Als Zuschauer hat man jedenfalls den Eindruck, viel nicht zu Ende Gedachtes zu erleben, dem man gern mehr Reifezeit gönnen würde. Falls das der Preis für das Wachstum neuer Jelineks, Lohers oder Polleschs ist: gut."

Doris Meierhenrich berichtet in ihrer Rezension für die Berliner Zeitung (19.4.2010) vor allem über "Sam" von Katharina Schmitt: Wenig habe Regisseur Sebastian Hartmann von dem Text übrig gelassen, "doch das hat er so dicht, sarkastisch und radikal in Finzis Leidensmiene eingemeißelt, dass Schmitt sicher staunend vor der Bühne gestanden hätte, hätte die Aschewolke sie nicht in London festgehalten." Man könne "Sam" "den Entwurf eines Stückes nennen (...) Doch thematisiert 'Sam' radikaler als viele die Konfrontation von Kunst und Leben, indem es sich eine Performance zur Vorlage nimmt, in der Tehching Hsieh sich 1978 ein Jahr lang in seinem New Yorker Studio in einen Käfig sperren ließ. Zeit, Freiheit und die Blickwechsel zwischen Betrachtern und Betrachtetem tauchen neu auf und Schmitt kreuzt in knapper Sprache diese Blicke von außerhalb und innerhalb des Käfigs." Wie "Sam" sei auch Carsten Brandaus "Fabelhafte Familie Baader" "ein Text, der über sich hinaus weist", wobei die "routinierte Kapitalismusfarce" in Rafael Sanchez' "höchst holprig verspielter" Einrichtung viel von ihrem surrealen Witz verloren habe. Die beiden Texte "In Neon" von Julia Kandzora und "Süßer Vogel undsoweiter" von Laura Naumann stürzten sich hingegen "etwas mühsam in die schwarzen Löcher der Ich-Findung", wobei immerhin noch "das lakonische, präzise Sprachtalent" von Laura Naumann Erwähnung findet.

"Bei aller Subjektivität der Auswahl" sei bei den vier Stücken der Langen Nacht "eine erstaunlich deutliche inhaltliche Schnittmenge erkennbar", meint Katrin Pauly in der Welt (19.4.2010): "Alle vier Texte behandeln Wendepunkte. Erdachte, ersehnte oder realisierte. Es geht um die Möglichkeit, aus dem eigenen Leben herauszutreten." Es müsse sich noch zeigen, "wie viel Lebenszeit den Stücken beschieden sein wird." Den Autorentheatertagen selbst sei jedenfalls "eine gelungene Berlin-Premiere geglückt, weil sie sich allen Unkenrufen zum trotz nicht als Konkurrenz, sondern als fabelhafte Ergänzung zum Theatertreffen erwiesen und dem Theater in der Schumannstraße radikal subjektiv und ziemlich leidenschaftlich einen neuen Platz zugewiesen haben."

Der Juror Michael Althen interessierte sich für die "waidwunden Nachgeborenen", glaubt Julia Amalia Heyer (Süddeutsche Zeitung, 20.4.2010): "Drei der von ihm ausgewählten Stücke handeln tatsächlich stark vom Gefühl, 'irgendwie allein' zu sein, auch wenn sich die Autoren gegen Verallgemeinerungen wehren." Trotzdem ziehe sich "das Hadern, Zögern, Zaudern mit dem eigenen Dasein" als gemeinsamer "roter Faden durch die Stücke – und durch die Sprache. Es herrscht, außer bei Carsten Brandaus "Die fabelhafte Familie Baader", maximale Verunsicherung." Der eigenen Wahrnehmung werde misstraut: "Jede noch so kleine Aussage wird abgefedert durch ein "denk ich", "glaub ich" oder "ist doch so?". Im hobbysoziologischen Generationenbefund bleibt der Abend trotzdem nicht hängen." Vielleicht sei das, so Heyer, "was so gern als bloße Befindlichkeit abgetan wird, eben wirklich gegenwärtiges Empfinden. Die Suche nach ein bisschen Relevanz und Wahrhaftigkeit, nach ein paar beruhigenden Antworten auf vermeintlich existentielle Fragen scheint jedenfalls ganz ehrlich gemeint."

 

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