Die Seilschaften des Herrn Brecht

von Rudolf Mast

Hamburg, 24. April 2010. "Himmel auf Zeit", so lautet der Titel eines Festivals, das seit März und bis in den Sommer die Kunst- und Kulturszene Hamburgs der 1920er Jahre vorstellt, würdigt und feiert. Im Rahmen dieses "Kulturfrühlings" fand nun die Premiere der "Dreigroschenoper" statt. Die stammt zwar nicht aus Hamburg, aber immerhin aus jener Zeit: Das Werk von Bertolt Brecht mit der Musik von Kurt Weill wurde 1928 am Schiffbauerdamm in Berlin uraufgeführt, dort, wo heute das von Brecht gegründete Berliner Ensemble seine Heimstatt hat. Die Erstinszenierung war ein derart durchschlagender Erfolg, dass sich das Stück bis in unsere Tage nicht so recht davon erholt hat, weil der Erfolg die erhoffte Wirkung unter sich erstickte (ein Vorgang übrigens, den man auch am Berliner Ensemble von heute studieren kann).

Sich dieses Problems bewusst, beschreitet das Hamburger Schauspielhaus einen anderen Weg und kündigt die Premiere an als den "Versuch, dem Werk von neuem auf seine inhaltlichen Sprünge zu verhelfen", und zwar unter Berufung auf ein "Ur-Brechtsches Mittel: die Verfremdung". Abgesehen davon, dass es den Begriff zur Entstehungszeit der "Dreigroschenoper" noch nicht gab, ist der Vorsatz nicht sonderlich überraschend: Ohne die Mittel des epischen Theaters ist das Stück gar nicht denkbar, und anderes auch nur zu versuchen, hätte wohl die Erben auf den Plan gerufen, die bis heute auf jede Neuinszenierung ihre Hand halten (und die Hand aufhalten).

Unterm Pflaster liegt der Strand

Verfremdung also lautet die Parole, und ein erstes Indiz für den großflächigen Einsatz dieses Theatermittels zeigt sich schon vor Beginn, weil auf der gelb grundierten Vorbühne Unmengen unbehauene Pflastersteine liegen: "Unterm Pflaster liegt der Strand" assoziiert, wer sich erinnern kann, den linken Sponti-Spruch aus den frühen 1970ern und findet bei geöffnetem Vorhang Bestätigung, weil die ganze Bühne so aussieht. Farblich kaum vom Untergrund unterschieden, liegen die Darsteller am Boden, in Schwarz gehüllt, stehen die Musiker auf der Bühne verteilt und spielen die Moritat von Mackie Messer, gesungen von einem Kind, das eine Fuchs-Maske trägt – oder war es doch ein Reh? Der Hai, von dem im Lied die Rede ist, war es sicher nicht, und daher kann die Szene als Verfremdung gewertet werden.

Das ist nicht zynisch gemeint, doch sehr schnell entsteht der Eindruck, als arbeite der Abend eine Strichliste möglicher Verfremdungseffekte ab. Gelegenheit, sie einzubauen, gibt es allenthalben, beginnend mit den Kostümen, die im Grunde aus hautfarbener Schminke und einem Sicherungsgurt bestehen, den die Darsteller ums Becken tragen. Derart unisex ausstaffiert, unterscheiden sich die Figuren nur durch Nuancen wie eine Hemdbrust, eine Wollmütze oder ein Tüllkleidchen, das Polly zur Hochzeit mit Mackie Messer überstreift. So beginnt die verwickelte Geschichte, an deren Ende Mackie statt am Galgen als ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft endet.

Per Klettergerüst ins Myterientheater

Diese Handlung wird so nacherzählt, wie sie bei Brecht geschrieben steht, und mit Aktualisierungen hält sich der Abend sehr zurück. Dies, wie das Programmheft es versucht, als Leistung zu begreifen, die dem Werk "auf die Sprünge verhelfen" würde, fällt aber ebenso schwer wie der Versuch, in der Schauspielführung Progressives zu entdecken. Im Gegenzug ist der Gesang zu sehr darauf angelegt, kunstvoll zu geraten. Just bei den zentralen Theatermitteln also ist es mit dem Versuchscharakter der Inszenierung nicht sonderlich weit her.

Einen weiteren Versuch stellt laut Programmheft die Metallkonstruktion in der Bühnenmitte dar, bestehend aus zwei hoch aufragenden Pylonen, die der Kabine eines Fahrstuhls Halt geben. Passend zum königlichen Gnadenakt, der Mackie vor dem Galgen rettet, steigt der Fahrstuhl mitsamt dem kompletten Ensemble zum Schluss in den Schnürboden auf. Der Mut der Darsteller, sich dieser Himmelfahrt auszusetzen, ist bewundernswert.

In dem Bild aber die Anknüpfung an mittelalterliches Mysterientheater zu erkennen, wie das Programmheft vorschlägt, ist viel verlangt, weil die Konstruktion in den knapp zwei Stunden zuvor lediglich als Klettergerüst diente, in das die Spieler sich mit Sicherungsseilen einpicken mussten, um nicht abzustürzen. Inhaltlich ist damit jedoch nichts gewonnen, und weil es zwar als Effekt, jedoch nicht als einer der Verfremdung durchgeht, bleibt vom Abend am Ende just das, was er nicht sein wollte: ein gediegenes Stück Unterhaltung. Ob ihm Erfolg beschieden sein wird, wird sich finden. Mit einer Wirkung ist aber nicht zu rechnen.

 

Die Dreigroschenoper
von Bertolt Brecht, Musik von Kurt Weill
Regie: Jarg Pataki, musikalische Leitung: Markus Voigt, Bühne: Anna Börnsen, Choreografie: Rica Blunck, Kostüme: Heide Kastler.
Mit: Achim Buch, Katja Danowski, Tim Grobe, Janning Kahnert, Hedi Kriegeskotte, Hanns Jörg Krumbholz, Martin Pawlowsky, Katharina Schmidt, Tristan Seith, Jürgen Uter.
Musiker: Peer Baierlein, Christian Gerber, Edgar Herzog, Tim Rodig, Fabian Schubert, Henning Stoll, Matthias Trippner, Hans Malte Witte.

www.schauspielhaus.de


Einen ganzen Strauß an Nachtkritiken zu jüngsten Brecht-Inszenierungen haben wir gestern, anlässlich der BE-Premiere von Manfred Karges Der kaukasische Kreidekreis, zusammengesteckt. Von Regisseur Jarg Pataki sahen wir zuletzt Shakespeares Der Sturm in Freiburg und Ibsens Ein Volksfeind am Hamburger Schauspielhaus. Weitere Informationen über ihn erhalten Sie im entsprechenden Glossareintrag.

 

Aasig unromantisch und schauerlich-schön

In "schlichter Größe" lasse Jarg Pataki Brechts "Dreigroschenoper" auferstehen und zwar durch "verstärkte Verfremdung", berichtet Stefan Grund in der Welt (26.4.2010). "Durch erhöhte Abstraktion" und "Konzentration auf das Menschenwesentliche" inszeniere er aus "einer geradezu sozialontologisch zu nennenden Perspektive". Das Ergebnis: "ein mehr begreifendes Unsittengemälde in Posen auch der Passion Jesu, eine schauerlich-schöne, leider auch von Humor befreite Systemkritik." Aus "dem bis in die kleinste Rolle stark besetzen Ensemble sticht Katja Danowski als Polly Peachum mit einer überragenden gesanglichen und darstellerischen Leistung heraus." Nirgends sei in dieser Inszenierung die "Gefahr von Leerlauf" gegeben. "Pantomimische Szenen erhöhen den Unwirklichkeitscharakter der Gesamtanordnung, die Musik und die bekannten Texte sorgen dafür, dass sie lebendig und schwungvoll genug bleibt. Jubel."

"Ja, das könnte ein Renner werden am Deutschen Schauspielhaus" schließt sich Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (26.4.2010) an. Brechts Oper sei "ein genialer Coup, unsterblich", und Jarg Patakis Inszenierung? "Kein Geniestreich, aber sehenswert, kurzweilig und unterhaltsam. Sie bemüht sich nicht krampfhaft darum, Aktualität zu signalisieren, was naheliegend wäre, wenn von Armut, Banken und Bettlern die Rede ist". Vielmehr werde "Brechts nicht tot zu kriegenden Klassiker zügig, zynisch, in eine Art verelendetes (Fabrik-)Gelände verlegt, ganz unromantisch und mit schlagenden Bildern" erzählt. Im Gegensatz zu Percevals "Große Freiheit Nr. 7" am Thalia Theater zeige diese "Inszenierung keine erschlafften, alt gewordenen Antihelden, sondern vitale, aasige Kraft." Das Fazit lautet mit Alfred Kerr: "'Volles Haus. Viel Applaus'".

Regisseur Jarg Pataki und sein Team, schreibt Anke Dürr in der Frankfurter Rundschau (27.04.2010), schafften "eine intelligent gemachte, optisch und musikalisch einwandfreie Revue." Pataki und Bühnenbildnerin Anna Börnsen verlegten die Bettleroper in "künstliche Zirkus- und Varieté-welt". Anleihen bei Bob Wilson seien "deutlich", die maskenhaft weiß geschminkten Gesichter, das "elegant leuchtende Lichtfarbspiel" auf dem Hintergrund. Aber Patakis Welt sei nicht "in Perfektion erstarrt", sondern "präzise und mitreißend lebendig". Zu bewundern sei ein "glänzend spielendes Ensemble". Alle "werfen sich volle Kraft voraus in die Songs", mit "ansteckender Verve", allen voran Katja Danowski als Polly. Euphorischer Beifall.

Pataki, schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (27.4.2010), inszeniere in "seinem typisch puppenhaften Stil" Figuren, die in "märchenhafter Loslösung von den Verhältnissen Geschichte als Zirkus erzählen". Nicht einmal der kleinste Gegenwartsbezug. Diese "geschichtslosen Geister" sängen Kurt Weills Lieder als "Schönheit ohne Sinn". "Armut, Unrecht, Kampf" seien hier nur "Phoneme", weil die "tolle" Musik "nun mal" Wörter brauche. "Formal und frei von politischem Anspruch" sei "diese stilisierte Operette" gelungen. Katja Danowski als Polly singe "ergreifend" und spiele ein "zeitlos trotziges Gör mit viel Charme". Tim Grobe modelliere seinen Macheath "elegant von einer Pascha-Pose in die nächste" und das restliche Personal sei so streng in "das Konzept von Künstlichkeit und Choreographie gezwängt, dass niemand durch falsche Persönlichkeitsentfaltung stören" könne. Schöne Form, kein Inhalt.

 

 

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