Pop und Pantoffeltier

von Regula Fuchs

Bern, September 2007. Ausgerechnet das Jahr 1991 war ein Schlüsselmoment für das Theater der Deutschschweiz – jenes Jahr, in dem die Eidgenossenschaft ihren 700. Geburtstag feierte, der jedoch von vielen Kulturschaffenden boykottiert wurde.

Christoph Marthaler stellte damals im Badischen Bahnhof in Basel seinen Liederabend "Stägeli uf, Stägeli ab, juhee!" vor und setzte damit nicht nur einen Grundstein für sein eigenes Theaterschaffen, sondern wirkte auch als "Keimzelle für nicht nur schweizerische Theaterentwicklungen", wie die Kritikerinnen Dagmar Walser und Barbara Engelhardt im Vorwort zu dem von ihnen herausgegebenen Arbeitsbuch "Eigenart Schweiz" schreiben.

Im Rückblick erscheint das Schweizer Theater seit den 90er Jahren, auf das Walser und Engelhardt ihr Augenmerk richten, als entscheidende Epoche, in der sogar von einem "Schweizer Theaterwunder" die Rede war, als ums Jahr 2000 Christoph Marthaler in Zürich, Stefan Bachmann in Basel und Barbara Mundel in Luzern ein nicht zu übersehendes Dreieck in der Theaterlandschaft geschaffen hatten. Armin Kerber spricht davon, dass der Einfluss des Schweizer Theaterkarussells auf das deutsche Theater-Reich in dieser Phase grösser gewesen sei als umgekehrt.

Erinnerungsbuch und Typenkunde

Wie dem auch sei, das bildstark gestaltete Arbeitsbuch von Theater der Zeit fragt weniger nach einer gemeinsamen schweizerischen Theaterästhetik, sondern versammelt in 30 Beiträgen ein Panorama der unterschiedlichsten Handschriften, die in dieser Zeit das Schweizer Bühnenleben prägten. Es treten auf: Frank Baumbauer, Christoph Marthaler, Ruedi Häusermann, Jossi Wieler, Volker Hesse und Stefan Müller, Stefan Bachmann, Barbara Frey sowie die wichtigsten Vertreter der Freien Szene – Mass & Fieber, KLARA, 400asa, Club 111, Schauplatz International, Rimini Protokoll, Barbara Weber und viele andere.

"Eigenart Schweiz" ist auf der einen Seite ein Erinnerungsbuch, das prägende Inszenierungen ins Gedächtnis ruft und auch entsprechende Verstörungen – wie sich etwa das Publikum bei frühen Marthaler-Inszenierungen höflich verzog. Vorsichtig wird aber auch das typisch Schweizerische herausgeschält, das sich allenfalls als Theaterästhetik begreifen ließe: die Verschrobenheit, das Kauzig-Eigenbrötlerische, der kritische Umgang mit der Mundart, die tüftelnde Präzision und vor allem eine gewisse Ruhe des Beobachtens, deren Auswirkungen sich nicht nur bei Marthalers verdrucksten "Pantoffeltierchen" finden.

Freie Szene

Vom Tempo her ganz anders waren die Produktionen der Freien Szene, die sich in den 90er Jahren zu professionalisieren begann – schnelles Pop- und Trash-Theater, das sich allerdings nicht in der postmodernen Feier des Oberflächlichen erschöpfte, sondern Mythen dekonstruierte (Barbara Weber mit ihrer "unplugged"-Methode) oder schlicht die Komplexität des Alltags widerspiegelte (Mass & Fieber). Ins Panorama fügen sich auch explizitere politische Ansätze, wie das Theater von 400asa, das sich aus helvetischen Befindlichkeiten speist, oder die Gruppe Schauplatz International mit ihrem dokumentarischen Polittheater, das seine eigenen theatralen Bedingungen stets mitreflektiert. Die Durchdringung von Freier Szene und festen Häusern ist zwar da und dort erwähnt (etwa am Beispiel der Gruppe KLARA, die 1999 als erste freie Gruppe am Luzerner Theater für eine Kooperation verpflichtet wurde), hätte aber eine gesonderte Betrachtung verdient.

Dafür werden das Kinder- und Jugendtheater, der Tanz oder die schweizerische Dramatik nicht vergessen, auch nicht das Volkstheater, das pro Jahr in 5.400 Vorstellungen rund eine Million Zuschauer anzieht. Dabei interessieren sich laut einer Umfrage die Spielerinnen und Spieler der über 600 Amateurtheatergruppen kaum für das professionelle Theater – schade, dass dieser offensichtliche Graben nicht weiter thematisiert wird.

Vorwärts zurück ins joviale Biedermeier

Trotz den nicht zu vermeidenden Lücken gelingt "Eigenart Schweiz" ein differenzierter, vielfältiger und oft einleuchtender Blick auf die schweizerische Theaterlandschaft der letzten knapp 20 Jahre. Dass diese Ära vorbei ist, wird in einigen Artikeln leise angetönt, offen spricht es eigentlich nur Georg Diez in seinem Text über den Regisseur Stefan Bachmann aus, wenn er von einem jovialen Biedermeiertum schreibt, das sich in vielen Theatern heute breit gemacht habe.

Auch wenn die Phase des Aufbruchs, der Innovation, aber auch der zeitweiligen Widerborstigkeit gegenüber dem Publikum sich erschöpft haben mag, vermittelt die Lektüre von "Eigenart Schweiz" doch den Eindruck, dass dies ein bedeutendes Kapitel der schweizerischen Theatergeschichte gewesen ist. Ähnlich nahm es der heitere Skeptiker Stefan Bachmann wahr, den seine Zeit am Theater Basel glauben liess, dass Theater wirklich von Bedeutung sei: "Wir sind doch am gesellschaftlichen Rand und müssen trotzdem sagen, dass das, was wir machen, das Wichtigste ist."

 

Eigenart Schweiz
Theater in der Deutschschweiz seit den 90er Jahren
herausgegeben von Dagmar Walser und Barbara Engelhardt
196 Seiten, 15 Euo/ 27,30 CHF.
Theater der Zeit, Berlin 2007.

 

 

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