Schlaflos in Tel Aviv

von Harald Raab

Heidelberg, 30. April 2010. Sie ist in jeder Hinsicht eine Laborsituation, die israelisch-deutsche Koproduktion "Undercover Tel Aviv". Die verwendeten Sprachen sind Ivrit (Hebräisch), Englisch und Deutsch. Fiktion und Dokumentation sind ineinander verwoben. Ein deutsches und ein israelisches Schauspielerpaar mit wechselnden Identitäten, zwei doch recht unterschiedliche Bühnenkulturen. Und dann noch ein Stoff, der auf gemeinsamen Recherchen vor Ort beruht.

Die Uraufführung des Stück von Stéphane Bittoun, der auch die Regie übernommen hat, fand am Freitag im Rahmen des Heidelberger Stückemarkts statt. Gastland ist in diesem Jahr Israel, und Hauptthema ist die Shoah. Reflexartig gab es bereits im Vorfeld und zur Eröffnung ein Protestschreiben und eine kleine Demo einer Unterstützergruppe der Palästinenser. Hier würde dem bösen Israel Gelegenheit gegeben, Propaganda für sich zu machen.

Agenten, Außenseiter und ein Rabbi

Thema ist allerdings gerade nicht der Holocaust und auch nicht der aktuelle Nahostkonflikt, sondern die ja auch nicht gerade einfache Identitätssuche junger Menschen im Schmelztiegel Tel Aviv. Autor Bittoun, die Dramaturgin Kerstin Grübmeyer mit Franziska Beyer und Paul Grill vom Heidelberger Schauspielensemble, sowie Michal Shtamler und Dan Kastoriano, Schauspielerkollegen aus Tel Aviv, waren in der Stadt unterwegs, sammelten Lebensgeschichten von Außenseitern, vom Lebenskampf in der Illegalität, von der Sehnsucht, dazu zu gehören, Anerkennung, ja so etwas wie Liebe zu erfahren. Daneben drehten sie Videosequenzen zu einer skurril-mysteriösen Agentenstory, eine Parabel auf die allgegenwärtigen Bedrohungsängste eines Volkes, das um seine nationale Existenz bangen muss. Dazu gehört auch die Geschichte von einem Kabbalisten, die man sich in Israel erzählt und in die Handlung eingebaut ist: Der Rabbi habe bereits den Sechs-Tage-Krieg in einem Brief vorhergesagt, und er habe eine weitere Weissagung in petto.

All das Material verdichtet sich in der Heidelberger Uraufführung zu einem spannungsgeladenen Plot mit Witz, Tempo und Momenten des individuellen Comingout. Action-Theater ist geboten. Da muss sich etwas rühren. Langeweile kommt nicht auf, kann man sich gar nicht leisten, ebenso nicht blutleere sophistische Gedankenspielerei. Das besagt aber nicht, dass das poetische Moment gänzlich verbannt wäre.

Doppelseitige Natur von Menschen und Dingen

Auch die Bühne ist offen fürs Experimentieren - Allzweckversatzstücke zur schnellen Verwandlung. Aus einem Altar wird mit wenigen Handgriffen eine Bar-Theke. Etliche der in Israel obligatorischen Aircondition-Kästchen und Röhren.

Aus so einer Röhre kriecht das Agentenquartett auf die Bühne. Die beiden Frauen und beiden Männer haben zuvor auf der Filmleinwand Thriller-Figuren gemimt: auf dem Dach eines Parkhauses und in den Kanalschächten Tel Avivs. Jetzt drillt der Mossad-Boss (Dan Kastorino) seine Truppe: den deutschen BND-Unteroffizier (Paul Grill), die Militärgeheimdienstfrau (Michal Shtamler) und die fürs Technische zuständige Agentin (Franziska Beyer). Erster Auftrag: Sich in möglichst unauffällige Figuren zu verwandeln. Nicht leicht in einem Milieu, in dem man sich möglichst exzentrisch zu geben hat.

Die Technik-Agentin wird die Gastarbeiterin Abna aus Ghana und dazu David, der Junge, der nicht beschnitten ist und deshalb so seine Probleme hat in einer Gesellschaft Beschnittener. Der deutsche BND-Mann wird der Callboy Boaz. Die Militärgeheimdienstlerin verwandelt sich in Polly, eine Dokumentarfilmerin, die dem Geheimnis des Kabbalisten auf die Spur kommen will, und außerdem in Izik, den Jugendlichen, der sich aus den Fängen seiner streng religiösen Eltern befreien muss. Der Mossad-Typ mutiert zu Shlomo, dem Wasserwachtmann am Strand von Tel Aviv, und zum Rabbi, der im Besitz des Briefs mit dem schrecklichen Inhalt ist.

Multikulti-Achterbahnfahrt

Jeder jagt jeden in diesem Spiel großstädtischer Paranoia und entdeckt dabei seinen Hunger nach Identität. Keiner kann sich bei der Multikulti-Achterbahnfahrt auf die Sprache allein verlassen. Agiert wird mit großer Gestik, pointierter Mimik und akrobatischem Einsatz.

Gegenseitiges Verstehen ist das Anliegen der seit zwei Jahren bestehenden Zusammenarbeit des Theaters Heidelberg mit dem Teatron Beit Lessin in Tel Aviv. Das mehrteilige Koproduktionsprojekt, das sie im Rahmen der Wanderlust-Initiative der Kulturstiftung des Bundes entwickelt haben, trägt den vieldeutigen Titel "Familienbande". Man kann ihn auch als die besondere Beziehung aus historischer deutscher Verantwortung deuten. In einer Zeit, in der Israel zunehmend im Zerrspiegel eigener Schuldverdrängung durch Schuldzuweisung gesehen wird, verdient das Heidelberger Projekt mit der diesjährigen Fokussierung auf Israel Respekt und Anerkennung. MIt einem Moment der Hoffnung endet das Stück von Stéphane Bittoun auch: "Wann sehen wir uns wieder?" - "Nächstes Jahr in Jerusalem."

 

Undercover Tel Aviv (UA)
von Stéphane Bittoun
Regie und Film: Stéphane Bittoun, Raum und Kostüme: Roy Menachem Markovich, Dramaturgie: Kerstin Grübmeyer, Künstlerische Beratung und Ausstattung: Sebastian Hannak.
Mit: Franziska Beyer, Michal Shtamler, Paul Grill und Dan Kastoriano.

www.theaterheidelberg.de
wanderlust blog zum Heidelberger Stückemarkt

 

Die erste Premiere des insgesamt sechsteiligen Familienbande-Projektes des Heidelberger Theaters und des Teatron Beit Lessin fand im Januar statt: They call me Jeckisch, eine Inszenierung von Nina Gühlstorff mit ebenfalls zwei deutschen und zwei israelischen Schauspielern. Und über deutsch-israelische Theaterarbeit berichtete jüngst Avishai Milstein in seinem Theaterbrief aus Israel.

 

Kritikenrundschau

In der Süddeutschen Zeitung (6.5.2010) schreibt die Stückemarkt-Jurorin Christine Dössel:
Zwei Ergebnisse der Theaterpartnerschaft zwischen Tel Aviv und Heidelberg seien beim Stückemarkt zu sehen gewesen: 'They Call Me Jeckisch', ein "sich 'dokumentarisch' nennendes Projekt" von Nina Gühlstorff und Nina Steinhilber und 'Undercover Tel Aviv', ein "sich 'Dokufiktion' nennendes Stück im Stil eines Agententhrillers" von Stéphane Bittoun.
Während sie "They call me Jeckish" als allenfalls "gut gemeint" und in seiner Politischen Korrektheit "einigermaßen penetrant" erlebt, findet Dössel bei "Undercover Tel Aviv" eine "pfiffigere und eigenständigere Note", auch wenn das „Dokumentarische" hier ebenfalls "kein Garant für (mit)gefühlte Authentizität" sei. Wie Stéphane Bittoun die "Paranoia und Vielgesichtigkeit" von Tel Aviv in einen "abstrusen Spionage-Krimi" umsetzt, der sich am Ende als "Adventure-Programm für deutsche Touristen" herausstellt, das sei "nicht ohne Witz". Es ist ein Spiel mit fiktiven Biografien und authentischen Lebensgeschichten aus der Schauspielerisch hängten Michal Shtamler und Dan Kastoriano ihre deutschen Kollegen Franziska Beyer und Paul Grill "locker ab".

In Stéphane Bittouns "Undercover Tel Aviv" seien die vier Schauspieler, so beschreibt es Natalie Soondrum in der Frankfurter Rundschau (3.5.2010), "Agenten, die die Stadt beobachten", ihre "Charaktere changieren wie Chamäleons": zwischen Call Boy, politischem Lobbyist und ghanaischer Migrantin. Doch nicht nur Identitäten wandelten sich kontinuierlich, auch die von Roy Menahem Markovich entworfenen Bühnen-Elemente seien ständig im Fluss: "Aus einem Abflussrohr wird eine Säule mit Telefon, aus den Klimaanlagen-Gehäusen werden Sitzelemente". Daneben flechte Bittoun "pseudo-dokumentarische Videos in die Handlung ein, die den Entfremdungseffekt perfekt machen. Im Labyrinth der globalisierten Stadt sind wir alle nur taumelnde Irrlichter."

Auch für Heribert Vogt von der Rhein-Neckar-Zeitung (3.5.2010) bot Bittouns "Dokufiktion" "spannende Expeditionen in den urbanen Kosmos" von Tel Aviv. Sie zeige die Metropole, die hier wie ein "nahezu undurchdringlicher Stadtschungel" erscheint, "aus der Perspektive von unten". Bittoun zeige ein "hart montiertes, dokufiktionales und multimediales Kaleidoskop von Menschen und Geschichten, in dem die Brüche und Konflikte der Stadt in geballter Form dunkel aufblitzen". Durch die Rollenwechsel zeigten die "engagiert spielenden Darsteller die Stadt als phantastischen Schmelztiegel". Auch wenn es an diesem Abend "um Israel von innen und Tel Aviv von unten geht, so bleibt die hochbrisante geopolitische Situation des Landes latent doch stets präsent. Denn selbst um dem vergleichsweise unverdächtigen Lebensalltag (...) auf die Spur zu kommen, ist augenzwinkernd offenbar eine geheimdienstliche Haupt- und Staatsaktion vonnöten".

 

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