Der Moralist im Schattenwald

von Andreas Klaeui

Zürich, 9. Mai 2010. Es ist ein Albtraum. Und in Bettina Meyers Bühnenbild ist er von Beginn an enorm präsent: Ein dunkler Wald von Farnen und Koniferen, ein schwarzgrünes Gewucher - wenn sich der eiserne Vorhang hebt, ist da zuerst harziger Weihnachtsduft, gleich auch ein muffiger Unterton, ein Weltdschungel, in dem man sich nicht zurechtfindet, ein unheimlicher Nachtwald. Es gibt darin keine Auftritte und keine Abgänge, nur ein nicht sehr geräumiges, aber abschüssiges Podium, auf dem sich prekäre Konstellationen kurz formieren, aus dem Black ins Black.

Es ist enorm viel, was dieses Bühnenbild für sich allein schon transportiert, einmal mehr erweist sich Bettina Meyer als die kluge, kongeniale Ausstatterin, und der kostbarste Moment ist noch gar nicht erzählt: nämlich wenn sich die Katastrophe ereignet im Stück, da hat die Bühne ihren Soloauftritt, nichts als der dunkle Wald ist zu sehen, der sich in einem düsteren Schattenspiel zu verlebendigen scheint, wogt und beklemmende Gestalt annimmt wie in bösen Kinderträumen.

Ohrprothesen und Dämonen

Die Katastrophe kommt, und sie ist von Beginn an mit Händen zu greifen. Vera und Michael sind noch verheiratet, doch gehen sie schon ihrer eigenen Wege. Sie lieber als er, scheint es, das wäre kompliziert genug, doch zum Konflikt kommt es, weil die Babysitterin für das gemeinsame Kind ausfällt. Soll nun Vera auf ihr Flitterwochenende mit dem neuen Freund in Málaga verzichten, soll Michael nicht zum Kongress in Innsbruck fahren, wo er vielleicht endlich sein künstliches Innenohr lancieren könnte? Oder wollen sie ihre siebenjährige Rebekka dem merkwürdigen halbwüchsigen Alex anvertrauen?

Carolin Conrad und Markus Scheumann © Matthias Horn
Carolin Conrad und Markus Scheumann © Matthias Horn

Zum Unglück kommt es, weil alle den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Keiner über seinen Schatten springen kann. Sie bauen Ohrprothesen und hören nichts, sie sind Psychiaterin und nehmen die andern nicht wahr, sie wollen Künstler werden und verwechseln die Kunst mit einem Erlebnis. Um ihr Programm durchzuziehen, sind sie bereit, alles zu geben, Geld, Gewalt, ihren Körper. So etwas wie authentisches Empfinden füreinander oder Verantwortung haben sie schon längst nicht mehr; in ihrer aufgesetzten Aufgeräumtheit lauert der Albtraum wie in der Salonmusik von Edvard Grieg, die zwischen den Szenen zu hören ist, die Dämonen und Trolle.

Eine Tragödie von griechischem Ausmaß

Sie setzen das Leben ihrer Tochter aufs Spiel (Kinder sind die Zukunft der Gesellschaft, wird man sich dabei denken) - was genau bei dem Unglück passiert, lässt Bärfuss offen, ein perverses Feuermysterium? die Phantasie eines Verrückten? oder einfach eine irre Theatermetapher? - jedenfalls ist Rebekka (die nicht auftritt) nach dem Wochenende mit Alex im Spital und das Trio erneut auf sich zurückgeworfen. Was wie ein Konversationsstück anfängt, weitet sich zur Tragödie von griechischem Ausmaß. Allerdings ist hier das Geschick durchaus kein unausweichlicher Götterbeschluss. "Das ist echt griechisch", spottet Alex mal und kann sich vor Lachen kaum halten; es ist klar: Bärfuss ist ein Moralist, die Figuren hätten ihr Schicksal ganz und gar in ihren eigenen Händen.

Ein Albtraum. Barbara Frey inszeniert ihn mit so gnadenloser Schärfe, dass man im Publikum gelegentlich am liebsten aufspringen und auf die Bühne jagen möchte, die Figuren durchschütteln: Schaut euch doch mal zu, erkennt mal, was da abgeht! Was natürlich nicht heißen soll, dass hier ein naturalistisches Ehedrama à la Strindberg gespielt würde, sondern im Gegenteil: wie ungeheuer zeichenhaft diese Figuren als Theaterfiguren konzipiert und wie präzis und komplex sie gespielt sind!

Falsche Wahrheiten im Scheinwerferlicht

Michael, dem Markus Scheumann mit subtiler Pedanterie und hochrutschender Stimme die geforderte Mischung von Minderwertigkeitsgefühlen und Größenwahn gibt; Carolin Conrad, deren Vera unerschütterlich selbstgewiss in sich zu ruhen vorgibt und doch keine Ahnung hat, wo sie überhaupt steht; Alex, den Jirka Zett mit der schonungslosen Verstörtheit eines 19-Jährigen spielt, der die Welt nur zu genau wahrgenommen hat.

Sie haben alle das Recht auf ihrer Seite und liegen vollends falsch. Ihre Wahrheiten, ihre Wertigkeiten zueinander verändern sich in flüchtigen Konstellationen, sie bleiben stets prekär und geben keinen Halt. Und Barbara Frey holt sie alle einzeln ans Licht, unendlich vielschichtig, unauflösbar komplex. Es gibt keine Auflösung, keine Dramaturgie zu einem Ende hin, nur Flash und Black, Flash und Black. Das ist von großer Schonungslosigkeit, und einigermaßen pessimistisch.

 

Malaga
von Lukas Bärfuss
Uraufführung
Regie: Barbara Frey, Bühne und Kostüme: Bettina Meyer, Licht: Rainer Küng, Dramaturgie: Andrea Schwieter.
Mit: Carolin Conrad, Markus Scheumann, Jirka Zett.

www.schauspielhaus.ch

 

Von Lukas Bärfuss wurden in der Spielzeit 2009/10 bereits Parzival in Hannover und Öl am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt. Und mehr zu Barbara Frey finden Sie im nachtkritik.de-Glossar.


Kritikenrundschau

Eher "ein Fall für die Psychopathologie statt fürs Theater" sind die Konflikte in Lukas Bärfuss' neuem Stück "Malaga" in den Augen von Barbara Villiger Heilig, Kritikerin der Neuen Züricher Zeitung (11.5.2010). Zumindest dann, wenn die anfängliche Beziehungskomödie ins "Problemstück" abrutscht. "Die Figuren, denen man zu Beginn gespannt, amüsiert oder betroffen folgt, verspielen ihre Glaubwürdigkeit leider verblüffend schnell im Lauf der ohnehin nur 80 Minuten kurzen Aufführung. Erstens, weil Bärfuss ihnen sukzessive alle vorstellbaren Rollenklischees aufbürdet; zweitens, weil Barbara Frey durch ihre überdeutliche Regie gerade das Klischeehafte noch herausstreicht – als machte sie Theater für Begriffsstutzige."

Barbara Frey inszeniere "wie hinter Glas, ein Beziehungsversuchslabor, in dem alles stimmt, jede Tonlage, jede Geste, jede Zäsur", sagt Christian Gampert auf Deutschlandfunk (10.5.2010). "Das alles ist perfekt, und das Problem ist: es ist zu perfekt. Bärfuss schreibt seine Kurzdialoge absolut auf den Punkt, außer ihm kann das nur Roland Schimmelpfennig; und trotzdem ist das nur kühle Konversation." Trotzdem fällt das Gesamturteil des Kritikers eher positiv aus: "Gerade in der extremen Verkünstlichung der Figuren vermeidet die Inszenierung aber auch Gefahr und Nähe. Sie ist, das böse Wort sei erlaubt, sehr guter, sehr seriöser - Boulevard."

Ähnlich urteilt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.5.2010): "Barbara Frey präsentiert das neue Stück ihres Hausdramaturgen Lukas Bärfuss wie ein Bonbon in einem mit Zypressen und Friedhofsgrün dekorierten Zauberwald: Schön verpackt, stilvoll überzuckert, wunderbar ausgeleuchtet, bleibt es doch eine süße Petitesse." Das "bislang kürzeste und leichteste Stück des Lukas Bärfuss beginnt wie eine Beziehungskomödie von Yasmina Reza und möchte als Tragödie enden." Doch mangele es dem Stück dafür an "Durchschlagskraft". Es sei: "gut gebaut, die Inszenierung ästhetisch gediegen, aber der Haken, an dem die moralischen Fragen hängen, sitzt zu locker für eine tragische Fallhöhe."

Eine "beträchtliche Bühnenkarriere" hingegen prophezeit Ulrich Weinzierl in der Welt (11.5.2010) Bärfuss’ Dreipersonenstück, das "wie von selbst mit der Präzision eines Uhrwerks" laufe. Mit Barbara Freys Uraufführung kann er sich weniger anfreunden: "Schade, dass sich das Pingpong der abgefeimt angeschnittenen verbalen Bälle in Freys Inszenierung derart ungeschickt ausnimmt. Was die abgründige Grazie eines Yasmina-Reza-Abends haben könnte, bleibt hölzern und leider auch etwas langweilig."

 

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