Wunschlos unglücklich und finster funkelnd

von Esther Slevogt

Berlin, 12. Mai 2010. Auf dem enormen Plastikballen, der in der Kassenhalle wie eine Rettungsinsel aus dem flächendeckend verteilten Schotter ragt, macht sich bald brachenübliche Jungdramatik-Tristesse breit: eine Handvoll junger Leute mit Problemen - einer hat einen schlaganfallgelähmten Vater im Rollstuhl zu versorgen, eine andere viel zu früh ein Kind gekriegt, das sie nun nicht lieben kann. Wieder eine andere lässt junge Männer zusammenschlagen, wenn sie von ihnen nicht die geforderte Aufmerksamkeit (und den dazugehörigen Sex) bekommt. Eines ihrer Opfer kommt dabei ums Leben.

"Alles Ausschalten" heißt das erste Stück des fünfundzwanzigjährigen Hannoveraners Julian van Daal, der inzwischen am Wiener Max Reinhardt-Seminar Regie studiert, und das gestern den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens eröffnet hat. Eine zunächst durchaus gekonnte Folge expressiver kurzer Szenen, in denen fünf Twentysomethings ihre Lebensleere zu artikulieren versuchen, ihre Sehnsucht nach Sinn und selbst gefühlten Emotionen. Van Daal malt hier ambitioniert an einem Porträt seiner Generation, der er den fernsehmagazinhaften Begriff "Generation Krise" anklebt, aber bleibt dabei bald selbst in fernseh- und jungdramatiküblichen sozialen Unglücks- und Elendsklischees und -szenarios hängen. Ohne geht es anscheinend nicht, um den erforderlichen Welthaltigkeitsanteil auf Temperatur zu bringen.

Nichts mehr zu wünschen übrig

Arg wird es, als sich der Reigen der Unglückskinder zur agitatorischen Pose aufschwingt, um nach Schuldigen zu suchen und sie auch zu finden: die Eltern, die den Kindern alles gaben, dass ihnen nichts mehr zu wünschen übrig blieb. Und die Medien, die alles entfremden. So weit so platt. Tilmann Köhler, der das Stück (mit durchaus intensiven Momenten) szenisch eingerichtet hat, lässt die Schauspieler Timo Mewes, Matthias Reichwald, Eva Meckbach, Julischka Eichel und Chistoph Franken den Plastikballen erklimmen und ihre Anklage chorisch vortragen. Die Lösung? Alles abschalten eben, wie der Titel schon sagt. Handys, Computer, Fernsehen, Eltern und was sonst noch so stört. Alles abschalten und selber leben. Wie ein Deux ex Machina steht dann aber der gelähmte Vater aus dem Rollstuhl auf, knallt die jungen Leute ab. Schaltet das Fernsehen wieder an. Das Happy End fällt aus.

Eine Etage drüber war zuvor der Stückemarkt offiziell eröffnet worden. Festspielchef Joachim Sartorius hob den sensationellen Erfolg der Teilnehmer des letzten Jahrgangs Nis-Momme Stockmann und Oliver Kluck hervor. Roland Schimmelpfennig und Yvonne Büdenhölzer plauderten mit der Dramaturgin und UdK-Professorin Marion Hirte über Probleme des internationalen Dramentranfers. Mit auf dem Podium auch die junge deutsch-georgische Dramatikerin Nino Haratischwili, die in einem einleitenden Impulsreferat Einblicke in die Schwierigkeiten gab, die man als Dramatikerin mit osteuropäischem Hintergrund mit den Erwartungen der anderen an osteuropäische Dramatik hat – für die betroffenen Dramatiker immer auch ein höchst ermüdender Kampf gegen Stereotypen und mediengetrübte Erwartungshaltungen.

Surrealistisch glühender Bilderbogen

Wie das im Produktionsalltag aussieht, führte dann der achtundzwanzigjährige rumänische Dramatiker Peca Stefan (der in New York studiert hat) satirisch in seinem Stück "Drahtseilakrobaten" vor, in dem man zunächst einem rumänischen Jungdramatiker begegnet, der mit einer New Yorker Theateragentin um seine Mitwirkung an einem Osteuropa-Projekt ringt. An der osteuropäischen Realität, die da den saturierten Amerikanern zwecks Förderung ihrer Spendierfreudigkeit serviert werden soll, ist die Agentin sichtlich nicht interessiert. Sie will krachende Klischees von postsozialistischem Elend, Prostitution, Gewalt und Bürgerkrieg. (Und ist dabei natürlich selber eins.) Der Dramatiker will aber eine universell gültige Liebesgeschichte erzählen, was ihm fast den Rausschmiss einbringt. Er wird erst engagiert, als er sich den Klischees willig fügt. Was natürlich auch ein Klischee ist: der Dichter als Vertreter des Wahren und Hehren, der sich den platten Marktanforderungen fügen muss. Im vorliegenden Fall aber ein sehr selbstironisch präsentiertes.

Diese mit "Rumänien zu verkaufen" überschriebene Satire ist jedoch nur das Vorspiel zu einem surrealististisch glühenden Bilderbogen aus einem (deutlich entzauberten) rumänischem Jetzt, das von einer nie näher definierten Vergangenheit immer wieder verdunkelt, von ihr aber auch mit merkwürdig von dort noch herüberglimmendem utopischen Glanz versehen wird – als sei von Ceausescus Rumänien vielleicht doch etwas zu retten gewesen.

Da kommt ein ehemaliger Clown des rumänischen Staatszirkus' plötzlich in der Wohnung eines zerrütteten Paares vorbei, zaubert ihnen verunglückt etwas vor (in deutlicher Bettelabsicht), spricht von Zeiten, als Menschen noch in seinen Zirkus kamen, rührt schließlich die Dame des Hauses so sehr, dass die ihm ihre Ersparnisse schenkt, worauf der Clown zum Dank ihren Macho-Geliebten erschießt, der sie gerade vergewaltigt hat.

Zwei Schwestern, die in der neuen Zeit leidlich Fuß fassen konnten, versenken die Asche ihrer Eltern in der Donau, die offensichtlich auf der Flucht vor dieser neuen Zeit freiwillig aus dem Leben gegangen sind. Ein alter Mann sucht das Gespräch mit der Mumie seines Vaters. Eine Frau pflegt einen, nach einem Unfall beinamputierten Mann, der auch das Leben ihres Kindes kostete. Und zwar so lange, bis der Mann dies begreift und dann von der Frau ermordet wird. Krude kleine Szenen, (von Felicitas Brucker leider zu überspitzt und grell in Szene gesetzt), die finster funkeln und deren Unglückmenschen unterwegs in ein besseres Leben sind, das sie nirgends finden werden.

 

Theatertreffen 2010 - Stückemarkt I & II

Alles Ausschalten
von Julian van Daal
Szenische Einrichtung: Tilmann Köhler, Ausstattung: Kathrin Frosch.
Mit: Timo Mewes, Matthias Rechwald, Eva Meckbach, Julischka Eichel, Christoph Franken.

Drahtseilakrobaten
von Peca Stefan, aus dem Englischen von Johannes Schrettle
Szenische Einrichtung: Felicitas Brucker, Ausstattung: Kathrin Frosch.
Mit: Katharina Schmalenberg, Julika Jenkins, Jonas Hien, Charly Hübner.

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