Zürcher Tragödeltes mit Happy End 

von Hartmut Krug

Zürich, 15. September 2007. Nicht mit den leidvollen Worten des Chores, sondern mit stummen szenischen Bedeutungsbildern beginnt die Sophokles-Inszenierung des Züricher Intendanten, die er  "Ödipus – ein Projekt nach Sophokles" nennt. Erst einmal zieht sich ein Mann aus und beschmiert sich am hinteren Ende der Bühne den nackten Körper mit weißer Farbe. Dann tünchen vier Maler langwierig die gesamte hohe Glastür, die das vordere Viertel der weiten Leere der Bühne (einer nach vorn abfallenden gläsernen Schräge) abtrennt. So ist das Elend der in Theben herrschenden Pest nicht mehr zu sehen, aber nicht ausgesperrt. Die Gesellschaft ist aus den Fugen, alte Werte scheinen nicht mehr zu gelten. Was bleibt, ist die Suche nach dem oder den Schuldigen.

Die Mustertragödie
Schon bei der Urauffführung (425 v. Chr. in Athen) kannte das Publikum Geschichte und Schicksal des thebanischen Herrschers. Auch einem heutigen Theaterpublikum ist es entweder bekannt oder wird ihm nach kurzer Zeit des Spiels klar. Hier ist kein Kriminalfall zu sehen, sondern ein Individuum, dass sich seines tragischen Problems bewusst wird. Das Stück gilt gemeinhin als Muster der Tragödienkunst.

Nun kann vielleicht eine heutige Tragödien-Inszenierung nicht mehr, so wie Aristoteles es im 6. Kapitel seiner "Poetik" fordert, Furcht und Mitleid erregen, aber sie sollte den Zuschauer schon in den erbarmungslosen Sog des Konfliktes ziehen. Das tut Hartmanns Inszenierung nicht. Sie unterhält den Zuschauer. Mit einem gefälligen Irgendwie-Potpourri von Problemen.

Fehlende Fallhöhe
Sicher, bei Sophokles geht es um vieles: um die Frage nach der Verantwortlichkeit und Selbstbestimmtheit des Individuums, um Schuld und/oder Schicksal, um Wahrheit oder Schein, um die Erfahrung, dass Wissen Macht verschafft, aber zu viel Wissen Macht auch zerstören kann. Hartmann umspielt all diese Probleme durchaus, aber ohne sich zu konzentrieren. Er bebildert dieses und jenes und sucht alles sprachlich wie metaphorisch zu aktualisieren.

Zugleich nimmt er dem Stück, indem er Text und Spiel durch eine flapsig heutige Sprechweise aufmotzt, jede Fallhöhe. So unterhält sich der Zuschauer keineswegs schlecht, weil er weder getroffen wird noch betroffen sein kann. Es ist eine flotte Aufführung, die das Stück zielsicher verfehlt. Noch nie habe ich aus der Aufführung einer, ja dieser griechischen Tragödie, die Zuschauer in solcher beiläufigen Fröhlichkeit kommen sehen.

Keiner ist einer, alle sind Chor
Jeder der sieben schwarz gekleideten Darsteller (in heutiger Alltagskleidung,  mit Anzügen die Männer und mit Hose und modisch kurzem Top die Darstellerin der Iokaste) hat zwar laut Programmheft eine Rolle zugeteilt bekommen, doch gehen alle immer wieder im Chor auf, der durch das und aus dem Publikum auf einem durch den Zuschauerraum mäandernden Steg auftritt. Der Darsteller einer Rolle beginnt, andere übernehmen, kommentieren, erklären, sprechen die Regieanweisungen, setzen sich an die Rampe, beratschlagen. Zwischen ihnen ein Musiker, der auf seiner Elektrogitarre klimpert und griechische Lieder singt, die von den Schauspielern deutsch nachgesprochen werden.

Durch die alte, verharmlosend und spannungsentlastend aufbereitete Geschichte, deren Schrecken die Iokaste der Catrin Striebeck mit einem banalen Beiseitegeplapper im spießigen Hausfrauenjargon beschwichtigend (und mit Schmunzeleffekt) beizukommen sucht, ziehen sich Erzählfragmente einer heutigen Geschichte. Darin geht es um einen Dompfaff und um den Asphalt, ein Auto-Navigationssystem meldet sich immer wieder, ein Mann wird durch den Anruf einer Arzthelferin verunsichert, ein Schauspieler tritt rollengemäß aus seiner Rolle, erzählt von der Entstehung des Alls und seiner eigenen Zukunft und sucht alles zusammenzufügen. Klar, mit dieser Geschichte soll der Konflikt des Ödipus ins Heute geholt werden. Statt aber die Kraft aus der alten Geschichte zu holen, wird diese nur äußerlich locker umspielt und mit allerlei aktuellen Theatermoden um ihre innere Kraft gebracht.

Jetzt hat der Chor aber genug
Die Darsteller, unter ihnen immerhin Jean-Pierre Cornu, Hans-Michael Rehberg und Stefan Konarske, sind mit lässiger Gelassenheit am Werk. Jeder spielt auf seine Weise, und zusammen fügt sich das nicht. Statt dass sich die ungeheure Tragik für Ödipus und das Publikum in Spiel und Spannung aufbaut, lockert der Chor uns auf mit Reaktionen wie "Da setzt sich der Chor aber hin, jetzt ist aber genug".

Bei Hartmann geht es vor allem cool zu. So wischt sich der Bote ein Guckloch in die geweißte Glaswand und zeichnet während seines Berichtes darum seine Körperformen. Wenn darauf der Hirte befragt wird, der einst Ödipus aussetzen sollte, zeigt man dies als Zeichensystem einer munteren Folterung. Der Hirte steht mit dem Kopf an der Glaswand, auf die Pfeile gezeichnet werden, die die Schmerzzufügungen verdeutlichen, während Wörter wie Schändung oder motherfucker erklärende Kommentare geben sollen.

Zum Schluss greift der Regisseur noch in die ganz große Bilderkiste: die Bühne ist übersät mit Schuhen (es geht hier, seitdem Ödipus mit der Lösung des Rätsels der Sphinx Theben befreit hat, auch um das Gehen und den Weg des Menschen durch Leben und Welt), dann wäscht Wasser die Farbe von der trennenden Tür, und eine nackte Mutter Iokaste, die Ödipus die Augen verbindet, bildet mit ihrem Kind eine pietà. Ein bisschen Distanz aber muss sofort wieder sein in dieser so modisch munteren Inszenierung: also wird an die Glaswand "Happy End" gemalt ...

Ödipus des Sophokles
Regie: Matthias Hartmann, Bühne: Karl-Ernst Herrmann, Kostüme: Su Bühler.
Mit: Catrin Striebeck, Stefan Konarske, Hans-Michael Rehberg, Jean Pierre Cornu, Marcus Burkhard, Marcus Kiepe, Maik Solbach, Gitarre und Gesang: David Langhard.

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Kritikenrundschau

Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (18.9.2007) schreibt, Hartmann inszeniere mit "erlesenem Rateteam eine amüsant-intelligente Schnitzeljagd". Auf einer Bühne, die wie ein "Luxus-Spielzeug für gelangweilte Trendsetter" wirke, biete er "chorisches Theater als Infotainment". "Geschickt" verknüpfe der Regisseur "Suspense und Sozialkritik zu einem Plot, in dessen Verlauf Kommissar Ödipus sich selbst überführen wird". "Schauspielerisch" sei das dank Hans-Michael Rehberg und Jean Pierre Cornu "High-End", Konarske als Ödipus setze dem die "Amok-Cholerik eines pubertären Wüterichs entgegen", derweil Cathrin Striebeck Iokaste als "High-Society-Zicke mit Schuhtick" spiele.

In der FAZ (17.9.2007) findet Martin Halter, das "Projekt nach Sophokles" sei genauso "durchsichtig undurchsichtig" wie die Bühnen-Konstruktion von Karl-Ernst Hermann. Regisseur Hartmann verwandele die antike Tragödie "in ein ödipales Seuchen-Komplex-Spiel" und wolle offensichtlich "keines seiner gepflegten Kunststückchen abliefern, sondern Blutspuren der Realität (…) in den Mythos holen". Aber genau das misslinge. Stefan Konarske als Ödipus: ein "cholerischer Milchbart mit irrem Blick", der Chor: "eine parlamentarische Schwatzbude", Jean-Pierre Cornus Kreon: ein "intriganter Oppositionspolitiker", der die "verfolgte Unschuld" spielt, Cathrin Striebecks Iokaste: eine "moderne Verdrängungskünstlerin mit Schuhtick".

Einen Etikettenschwindel annonciert Barbara Villiger Heilig in der NZZ (17.9.2007). Angekündigt gewesen sei ein "Projekt", indes: "Das Stück siegt über die Regieeinfälle". Doch auf den "mythologischen Thriller" wolle Hartmann nicht vertrauen, weshalb er unnötiger Weise die Figur des Maik einfügt, der von der "Entstehung des Universums", von Düsseldorf, Asphalt und einem Autounfall erzähle. Die Schauspieler drücken sich, mit Ausmahme des großartigen Hans-Michael Rehberg als Teiresias, alle "mehr penetrant als elegant, vor ihrer schauspielerischen Aufgabe", Stefan Konarske "verzappelt" den Ödipus und nur weil sich alle "punktgenau" nach "Sophokles’ genialer Dramaturgie" richten, endet der Abend wider Erwarten doch noch glücklich.

"Kleinmütig" sei die Inszenierung so Peter Müller im Tages-Anzeiger (17.9.2007), weil sie "Pathos zum Manierismus schrumpfen" lasse. Hartmann sei "ein fürsorglicher Regisseur, der witzeln und erklären lasse. Dass in diesem ersten "Krimi der Literaturgeschichte" sich "Fahnder und Täter als identisch" erweisen, schreibt Müller, "ist Hartmann zu kompliziert". Sein Chor ist "eine Ansammlung von Stammtischbrüdern", Konarskes Ödipus ein "strähniger Rumpelstilz". Und wenn doch einmal eine starke Szene gelinge, mache Hartmann "gleich die Spannung wieder zunichte", indem er in "Kitsch und Grusel" verfallend Iokaste und Ödipus als Pietá arrangiere. Frau Villiger Heilig hat das übrigens besonders gefallen hatte.

 

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