Tänzchen mit dem Leerverkauf

von Esther Boldt

Essen, 19. Mai 2010. Das Leben im Spätkapitalismus ist eine Party. Das Haar der Gäste ist verfilzt, ihre Kleider sind zu kurz, und ihre Stimmen gellen verfremdet aus dem Lautsprecher. Sie tanzen ekstatisch und erschöpfend zu japanischem Sixties-Pop, der wiederum US-amerikanischen Pop kopiert und so bizarr fremd-vertraut klingt: Die westliche Populärkultur, lost in translation.

Tun oder tun als-ob, das ist in den Performances der britischen Gruppe Forced Entertainment seit jeher die Frage. Ihr neues Stück forciert sie noch im Spiegelkugelkabinett der Möglichkeiten. Nach den beiden reduzierten Arbeiten "Spectacular" (2008) und "Void Story" (2009), in denen das Spektakel vor allem im Kopf des Zuschauers stattfand, wollte die Gruppe mal wieder etwas Großes machen - ein Versprechen, das das Stück mit dem hypertrophen Titel problemlos einlöst.

Unterhaltungswillige Körper

Uraufgeführt wurde "The Thrill of it all" Anfang Mai beim Brüsseler Kunstenfestivalsdesarts, nun hatte es beim Essener PACT Zollverein Deutschland-Premiere. Verhandelte "Spectacular" die Undarstellbarkeiten wie etwa den Tod auf dem Theater und griff "Void Story" düstere Zukunftsvisionen aus Comics und Science-Fiction-Filmen auf, so ist das neue Stück eine Party im Show-Format. Ihre mobile Kulisse bilden einige meterhohe Papp-Palmen, die sich zu flüchtigen Inseln oder Alleen arrangieren lassen, ein Kleiderständer mit Glitzeranzügen sowie zwei Rollen roten Teppichs, die bei Bedarf ausgerollt werden.

Vor allem aber ist diese Bühne eine Tanzfläche, auf denen eine zornige, aufmerksamkeits- und unterhaltungswillige Physis regiert. Zu den überlauten Popsongs springen, rennen, tanzen neun Performer, das erste Wort fällt nach drei Liedern. Es wird in ein Mikrofon gesprochen, schrill verzerrt und schwer verständlich. Frauenstimmen werden sehr hoch verzerrt, Männerstimmen tiefer gelegt, sodass sie stereotyp und austauschbar, entindividualisiert und entkörperlicht erscheinen. Uniformen tragen sie auch: Die vier Performerinnen kurz weiße Glitzerfummel und lange Blondhaarperücken, die fünf Performer schwarze Hose, weißes Sakko, rotes Hemd und schwarze Perücke.

Schön in der Reihe bleiben

Das Subjekt ist ein problematischer Vergnügungsfaktor, der nicht aus der Reihe tanzen darf. Denn daran, dass die Spaßproduktion auch nur eine Form ökonomischer Produktivität ist, lässt dieser gnadenlose Abend zwischen TV-Show, All-you-can-eat-Buffet, Disco und Zirkusnummer keinen Zweifel. Wenn sie nicht tanzen, dann machen sich die Performer plappernd und plaudernd ans Publikum ran: Sie verkaufen ihm imaginäre Wolkenschlösser und den Glauben an die eigenen Träume, sie attackieren es mit Phrasendrescherei und machen ihm Liebeserklärungen.

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The Thrill of it all © Hugo Glendinning

So dekliniert "The Thrill of it all" lauter, schriller, bunter die Glücksversprechen des Kapitalismus durch, in dem auch scheinbare Ausbruchsversuche Teil des Systems sind - die Aufmerksamkeit für die Kleinigkeiten des Alltags beispielsweise, die Phil Hayes so showmasterrührig anmahnt, wie auch für die drei Maiskörner, die auf dem Teller übrigbleiben - "It's the silence between the notes that makes the music." Im omnipräsenten Spektakel werden auch die Alternativen ausverkauft.

"The Thrill of it all" ist eine geschlossene Veranstaltung ohne Außen, aus der es kein Entrinnen gibt - auch nicht fürs Publikum, wie eine Kuschelansage zu Beginn klarmacht: Da sitzt die Glamourgemeinde zusammen auf der Couch, zupft sich gegenseitig an Haar und Haut herum und produziert Intimität. Das, stellt Cathy Naden fest, sei der perfekte Moment, den wir alle hier zusammen teilen dürften - wie eine große Familie! "We are all in it together."

Alle in demselben Boot

So gern Theaterwissenschaftler, -kritiker und -macher dem geteilten Hier-und-Jetzt der Theatersituation, der Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption huldigen, hier wird es zur handfesten Drohung: Durch diese hypertrophe Geisterbahn der Unterhaltungsindustrie geht's nur gemeinsam. Da sich aber jede Gruppe durch Ab- und Ausgrenzung konstituiert, werden immer wieder die Störenfriede verstoßen, Thomas Conway beispielsweise, der sich weigert, für die Show seine Depression zu verdrängen und einen erbärmlichen Spaßvogel abgibt.

"The Thrill of it all" ist eine Zumutung in Sachen Gegenwartsanalyse, eine übergrelle Marktschreierei, aus der monströs und doch furchtbar bekannt unser alltäglich Brot herausbellt: Die tiefe Verunsicherung des Subjekts, das bei Vorspiegelung falscher Träume seine Haut zu Markte tragen muss. Jeder ist sich hier selbst der nächste. Und wer den anderen nicht die Party versauen möchte, der stirbt lieber.

 

The Thrill of it All
Konzept und Produktion: Forced Entertainment, Regie: Tim Etchells, Bühnendesign: Richard Lowdon, Lichtdesign: Nigel Edwards, Musik und Ton: John Avery, Choreografische Beratung: Kate MaIntosh.
Mit: Thomas Conway, Amit Hadari, Phil Hayes, Jerry Killick, Richard Lowdon, Claire Marshall, Cathy Naden, Terry O'Connor, John Rowley.

www.pact-zollverein.de
www.forcedentertainment.com

Mehr von Forced Entertainment: Wir besprachen Spectacular, das im Mai 2008 ebenfalls auf Pact Zollverein gastierte.

 

Kritikenrundschau

Um den Terror des Frohsinns geht es hier. Um die Hysterie im heutigen Hedonismus und die bloß behauptete Lustigkeit in unseren Unterhaltungsformaten, so Nicole Strecker im Deutschlandfunk Kultur vom Tage (20.5.2010). "Forced Entertainment spürt die Gewaltstrukturen im Zwang zum Witz auf. Die entsetzliche Leere hinter der ausgestellten Gefühligkeit, in der verkrüppelte Körper zum gleichen bemitleidenswerten Drama werden wie das Luxusproblem einer vom Geldautomaten verschluckten Kreditkarte." Solche Kritik an der emotionalen Verwahrlosung habe zwar nach wie vor seine traurige Gültigkeit, "trotzdem wird man das Gefühl nicht los, die Produktion kommt zehn Jahre zu spät. Längst hat man doch auf dem Theater das Ende der Spaßgesellschaft eingeläutet, und ist das 'wir amüsieren uns zu Tode' floskeliger Common Sense." Am Ende wirken die Performer dennoch nicht wie die Oldies, die sie eigentlich sind "- auch wenn am Ende ihrer neuen, kraftvoll physischen Show gleich zwei Performer mit einem gespielten Herzinfarkt um die Aufmerksamkeit der Zuschauer buhlen." Sondern haben mal wieder "mit ihrem scheinbaren Anti-Amüsement solide amüsiert".

Eine "überdreht-abgründige Parodie auf alle Superstar-Such-Shows, eine Farce über Unterhaltungsindustrie, Spaß- und Gefallsucht" hat Anne Peter gesehen. Und beobachtet in der Berliner Morgenpost (25.6.2010), dass sich die Damen in kurzen Glitzerkleidchen und Blondberücken, die Herren in weißen Anzügen und Schwarzhaar verausgabten. "Sie kuscheln sich auf dem Promi-Talk-Sofa zusammen oder hampeln und strampeln sich in Kollektivchoreographien ab (...). Und doch buhlen diese Have-fun-Freaks auf derart dilettantisch schräge Weise um Aufmerksamkeit, dass der Mainstream hops genommen wird und kleine Proben der Eigensinnigkeit entstehen."

 

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